Montag, 13. Mai 2024

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"Das ist eine sehr gesunde Demokratie"

Die amerikanische Nachkriegspolitik in Deutschland zeigt nach Ansicht von Gerald Livingston, Historiker am Deutschen Historischen Institut in Washington, die Ideale der Amerikaner. Es sei kein Wunder, dass man sich im Nachkriegsirak am damaligen deutschen Fahrplan orientiert habe.

08.05.2005
    Köhler: Der hegemoniale Albtraum Nazi-Deutschlands, er war schon vor dem 8. Mai zu Ende. Aber was kam dann, 1945? Nie zuvor war ja ein besiegter Staat so sehr in der Hand der Sieger. Bei Kriegsende gab es kaum eine erkennbare sowjetische Deutschlandpolitik, darüber sprachen wir vor halb acht hier mit Nikolai Portugalow. Die Katastrophe erst hat Deutschland demokratiefähig gemacht, und zwar wesentlich, weil die amerikanische Deutschlandpolitik ganz klare Vorstellungen hatte. Und darüber habe ich mit dem Historiker Gerald Livingston vom Deutschen Historischen Institut in Washington gesprochen, der gerade dazu ein Buch schreibt über jene Zeit.

    Livingston: Ja, ich will sagen, genau bisschen wie heute Irak ist, das passt den Deutschen heutzutage nicht so sehr, aber im Grunde genommen war die amerikanische Nachkriegspolitik in Deutschland dies, also in den ersten Jahren der Besatzung im Irak als leuchtendes Beispiel immer wieder von Bush und von Condoleezza Rice zitiert worden. Ja, wir wollten natürlich nicht nur den Tyrannen besiegen, sondern wir wollten tatsächlich die deutsche Gesellschaft umformen, wenn Sie so wollen, nicht, und den Deutschen Demokratie bringen und sie - reeducation hieß es, das waren diese drei D's, nicht: democratization, demilitarization, decardalization. Und wir legten ...

    Köhler: Man könnte, Entschuldigung, noch etwas hinzufügen, also Denazifizierung, Demokratisierung, Deindustrialisierung und Demilitarisierung.

    Livingston: Ja, und wir legten auch sehr viel Wert und taten auch mehr, was Entnazifizierung anbelangt und auch was Kriegsverbrechen anbelangt, taten wir viel mehr als die anderen Besatzungsmächte, das ist klar, mehr als die Engländer, mehr als die Franzosen, nicht? Wir waren also - wie auch heutzutage - von bestimmten Idealen besessen, wenn Sie so wollen.

    Köhler: Die Amerikaner wollten - das war schon sehr früh klar - ein Europa gesunder ökonomischer Demokratien. Also nicht Morgenthau-Plan blinder Rache, sondern Marshall-Plan.

    Livingston: Das hing natürlich mit dem Tod von Franklin Roosevelt zusammen. Der Morgenthau war sein Schatzminister, der war hoch im Kurs bei Franklin Roosevelt. Der Roosevelt starb dann im April 1945 und das Verhältnis, das Morgenthau zu Roosevelt hatte, war natürlich dann nicht mehr da und Truman entschied von anderen Gesichtspunkten und kam dann natürlich unter den Einfluss von Acheson und Marshall.

    Köhler: Ich möchte auf die kulturelle Bedeutung zu sprechen kommen. So etwas wie eine Amerikanisierung West-Deutschlands vergleichbar hat es in Ost-Deutschland nicht gegeben. Auf dem Weg zu ...

    Livingston: Na ja, da bin ich auch nicht so sicher. Ich meine, sie haben auch sehr viele verschiedene Elemente des sowjetischen Systems übernommen. Also am Anfang nicht, beispielsweise von der Kollektivierung der Landwirtschaft hielten sie sich lange Jahre zurück und fingen erst dann Mitte der 50er-Jahre damit an, aber im Grunde genommen, das war von der Kommunistischen Partei gesteuerte Gesellschaft schon von Anfang an.

    Köhler: Was die politische Kultur angeht, die SED wurde von Moskau streng kontrolliert, am engen Zügel genommen. Aber was ich meine, Herr Livingston, etwas Vergleichbares wie im Westen, also ich sage mal ganz plump und alltagsweltlich: Kaugummi, Schokolade, Lucky Strikes und Jazz, also die kulturellen Begleiter des jungen West-Deutschlands, so etwas gab es in Ost-Deutschland nicht.

    Livingston: Da bin ich nicht so gut informiert. Ich würde sagen, es gab junge Pioniere, es gab schon begeisterte Deutsche, die auch begeisterte deutsche Kommunisten waren, nicht? Also vielleicht war der Einfluss, wie Sie richtig sagen, Amerika war noch im Vergleich zu Deutschland ein reiches Land, die Sowjetunion war im Vergleich auch zum Nachkriegsdeutschland noch ein armes Land, nicht? Und hat, deswegen war der kulturelle Einfluss dieser Art bedeutend größer bei den Amerikanern. Ich möchte es allerdings nicht übertreiben. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Bildung, da wollten die Amerikaner am Anfang schon das ganze Bildungssystem in West-Deutschland, das heißt auch Gymnasien und Realschulen beziehungsweise auch Hochschulen irgendwie auch ändern, aber da kamen sie überhaupt nicht vorwärts und es gab relativ großen Widerstand, vor allem in Bayern, dagegen.

    Köhler: Aber in einem Punkt war die "reeducation" unglaublich erfolgreich, nämlich schon im Januar '46 wurde zu Wahlen aufgerufen und eine föderalistische Struktur begründet, die ja heute als Erfolgsmodell gilt.

    Livingston: Ja, ja, genau, und interessanterweise gerade dieses Modell hat sich der Chef im Nachkriegsirak, der Botschafter Bremer hat sich orientiert, der hat auf seinem Schreibtisch also, wenn Sie so wollen, einen "Fahrplan" der Entwicklung der Demokratie Nachkriegsdeutschlands gehabt und in den ersten sechs Monaten seiner Zeit hat er versucht, im Irak genau nach demselben Fahrplan zu verfahren, ist dann natürlich nicht gelungen. Das war vor allem, glaube ich, dem General Clay, das, glaube ich, ist das große Geheimnis - Geheimnis ist es nicht, aber die Erklärung für den Erfolg der amerikanischen Besatzungspraxis. Sie hatten in dem General Clay nicht nur einen militärischen General, sondern das war politisch ein hoch begabter Mann, sein Vater ist Senator gewesen und er war in der ganzen Kriegszeit in Washington und kannte die Politik hier gut, das war ein politischer Mann und er wusste, was er tun konnte und was er nicht tun konnte. Er wusste die Grenzen seiner Macht und war in der Hinsicht sehr erfolgreich.

    Köhler: Auf der Konferenz in Potsdam war ja das Sicherheitsdenken treibend. Kern der amerikanischen Deutschlandpolitik war die Entnazifizierung. Aber hat dort nicht eigentlich schon zugleich auch der Kalte Krieg begonnen?

    Livingston: Na ja, aber ich würde sagen, also die Meilensteine waren drei: Erstens die Rede von Außenminister Byrnes in Stuttgart - ich glaube, das war September '46 -, dann der Coup in Prag, im Februar '48, und dann vor allem die Berliner Blockade. Es waren schon Zeichen, es gab schon eine Konkurrenz - um nur ein Beispiel zu nennen - zwischen den Russen und den Amerikanern um die deutschen Wissenschaftler, vor allem die Raketen-Wissenschaftler wie Wernher von Braun und seine Mannschaft, für sich zu nehmen, es gab ein regelrechtes Rennen in Berlin, sogar im Juni '45. Aber der Clay war bestrebt noch bis, glaube ich, ja noch bis '47 war er bestrebt, doch die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes, wie es damals hieß, doch aufrecht zu erhalten. Er ist nur zögernd - zögernder als die Politiker in Washington - von diesem abgerückt.

    Köhler: Man macht sich gar kein Bild, wie wichtig diese Weichenstellung für West-Deutschland war, denn West-Deutschland war privilegiert. Die Folgelasten der Katastrophe wurden wesentlich von Ost-Deutschen getragen. Deutschland ist ja ein ganz anderes Land geworden, also nicht mehr Macht und Geltung, sondern Sicherheit und Wohlfahrt bestimmten die Politik nach 1945. Würden Sie zustimmen, was Nikolai Portugalow mal gesagt hat, dass erst 1990, nach der Wiedervereinigung und dem Vertrag bezüglich einer abschließenden Regelung auf Deutschland, der Krieg erst zu Ende war? Die Nachkriegszeit zu Ende war?

    Livingston: Na ja, in der Hinsicht, dass - wie Sie richtig sagen - Stalin hatte sich '45 bis - na ja, Gott, vielleicht bis zu seinem Tod, aber zumindest bis - ja, vielleicht zu seinem Tod, hat er sich noch nicht endgültig entschlossen, ob er für ein wiedervereinigtes Deutschland wäre oder für die Spaltung Deutschlands. Der hat im gewissen Sinne eine widersprüchliche Politik verfolgt.

    Köhler: Wie lange wollte er die Zerstückelung Deutschlands? Also der Kurswechsel passierte erst in Jalta.

    Livingston: Ja, gut, das stimmt, aber ich meine, die Ziele und auch die Ziele der SED war vielleicht ein Ziel, das niemals erreicht werden konnte, das Ziel war doch ein geeinigtes Deutschland unter kommunistischem Einfluss. Diese Hoffnung hegten sie noch relativ lange. Das ist ein bisschen unrealistisch, könnte man sagen, aber immerhin, das war, glaube ich, bis zu Stalins Tod noch mindestens eine angestrebte Politik der Sowjetunion. Um auf die Antwort von Portugalow zurückzukommen, das gilt natürlich in dem Sinne, dass bis Deutschland geeinigt war, wie es 1990 war, war der Krieg in dem Sinn noch nicht zu Ende und es gab keinen Friedensvertrag. Sie können so sagen also, dass die Verträge 1990 die endgültigen Friedensverträge für Deutschland waren. In der Hinsicht stimme ich Portugalow zu. Aber was West-Deutschland anbelangt, ist natürlich der Krieg schon viel früher zu Ende gewesen.

    Köhler: Herr Livingston, glauben Sie, dass die Deutschen, auch jetzt, wo die Probleme größer werden, schwieriger werden, und viele sagen: "Zum ersten Mal ist Deutschland in einer Bewährungsprobe der Demokratie mit Arbeitslosigkeit, Neonazismus und sozialen Spannungen", glauben Sie, Deutschland hat seine Lektion gut gelernt?

    Livingston: Ach ja, sicher, ich meine, niemand - das ist für mich das Interessanteste der letzten Jahre -, die Deutschen, die sollten selbstsicherer sein als sie es tatsächlich sind. Ich meine, die Erinnerungen, denken Sie an diesen Hitler-Film, der erst letzten Jahres ...

    Köhler: "Der Untergang"

    Livingston: "Der Untergang". Diese Erinnerungen sind noch da, aber sie sind nicht mehr politisch brisant, was sie lange Zeit waren. Und die Deutschen haben jeden Grund, stolz zu sein auf ihre Leistungen. Das ist eine sehr gesunde Demokratie und eine Demokratie ist ein bisschen eine streitsame Sache: Es gibt Opposition, es gibt Beschuldigen, es gibt - also, wie unser Verteidigungsminister einmal sagte: "Demokratie ist messy". Aber die Deutschen haben jeden Grund stolz zu sein, was sie seit 1945 geleistet haben. Und die Tatsache, dass da auch jetzt die Ostdeutschen daran beteiligt sind, ist natürlich auch ein Beweis dafür.

    Köhler: Über die amerikanische Deutschlandpolitik am Ende des Zweiten Weltkriegs sprach ich mit Gerald Livingston.