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"Das ist Wahlkampf"

Die Forderungen nach höheren Lohnabschlüssen aus den Reihen der SPD hat der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel begrüßt. Die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre habe zu einer Schwächung der Binnennachfrage geführt. Allerdings sieht Hickel die Vorschläge als Wahlkampfgetöse. Unter einem Kanzler Gerhard Schröder könne er sich eine solche Politikwende nicht vorstellen.

Moderation: Hans-Joachim Wiese |
    Hans-Joachim Wiese: Wir bleiben in den Informationen am Mittag beim Thema Wirtschafts- und Finanzpolitik, dazu begrüße ich jetzt am Telefon den Bremer Wirtschaftswissenschaftler Professor Rudolf Hickel. Schönen guten Tag.

    Rudolf Hickel: Schönen guten Tag.

    Wiese: Herr Hickel, haben die SPD-Spitzenleute tatsächlich eine lohnpolitische Kehrtwende vollzogen mit ihrer Forderung nach Lohnerhöhungen oder verkaufen sie nur alten Wein in neuen Schläuchen?

    Hickel: Ich glaube schon, dass man von einer politischen Kehrtwende in der Frage der Lohnpolitik reden kann, wenn man sich die Regierungsdokumente anschaut, etwa die Jahreswirtschaftsberichte, die der Bundesarbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement vorlegt, dann ist dort eine ganz andere Redensart am Gange, da wird eben gesagt, dass Lohnzurückhaltung, Arbeitskosteneinsparen, internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken, dass das die wichtigen Ziele sind.

    Hier vollzieht sich eine Wende, die kommt sehr spät, aber ich finde sie im Prinzip richtig, vor allem ist wichtig, dass jetzt auch im Vorfeld der so genannten Bundestagswahl wirklich auch ernsthaft diskutiert wird. Zwei Argumente: In der internationalen Wettbewerbsfähigkeit steht Deutschland sehr gut da. Wenn wir uns die Lohnstückkosten als Indikator der Wettbewerbsfähigkeit anschauen, das sind die Arbeitskosten pro Stunde bezogen auf die Produktivität, dann stagniert die Entwicklung seit Jahren zugunsten der Exportwirtschaft. Da haben wir keinen Handlungsbedarf. Aber die Lohnzurückhaltung, die ja nun wirklich auch durch die Politik massiv auch propagiert worden ist, auch Druck ausgeübt worden ist auf die Gewerkschaften, hat dazu geführt, dass sich am Ende die Binnenwirtschaft erheblich schwächer entwickelt. Im Grunde genommen ist der Lohn der Lohnpolitik eine schwache Binnennachfrage.

    Wiese: Aber Herr Hickel, nun haben wir uns jahrelang vorbeten lassen, gebetsmühlenartig praktisch vorbeten lassen, dass Lohnerhöhungen geradezu Gift für die Konjunktur sind, dass dadurch Arbeitsplätze abgebaut werden, dass man deshalb Lohnzurückhaltung üben müsse. Auch von der SPD und gerade von der SPD hörte man das, Agenda 2010 als Stichwort und nun das Gegenteil. Da liegt doch der Gedanke nahe, dass das alles nur Wahlkampfgetöse ist.

    Hickel: Ich bin ganz sicher, dass das mit Wahlkampfgetöse zu tun hat. Vor allem geht es ja darum, die SPD hat natürlich ungemein viel an so genannter Wählerklientel in den Betrieben verloren, ich weiß, wovon ich rede, weil ich gelegentlich auch bei Betriebsversammlungen bin, bei anderen Veranstaltungen, dort gibt es einen tiefen Frust über die SPD.

    Ich glaube schon, dass Sie mit Ihrer Interpretation recht haben, dass hier versucht wird, in letzter Sekunde wieder ein bisschen Sympathie zurückzuholen. Mir geht es genauso wie Ihnen, ich war sozusagen ja nie einer dieser Vorbeter, sondern habe die Vorbeter immer kritisiert und war jetzt wirklich perplex als ich diese Kehrtwende mitbekommen habe. Ich würde aber jetzt einmal sagen, dass man in der Tat jetzt politisch bewerten muss, das tun wir ja auch miteinander, inwieweit das vielleicht, wenn ich so sagen darf, auch Opportunismus ist. Aber insgesamt ist das doch die Erfahrung, und so würde ich es jetzt zuspitzen, ist die Erfahrung, dass die Politik der Lohnzurückhaltung, - für die letzten Jahre liegen ja die Daten vor, die Lohnabschlüsse im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt lagen deutlich unter zwei Prozent -, das die einfach dazu beigetragen hat, dass die Binnenwirtschaft, sprich der private Konsum, sich nicht richtig entwickeln kann, das heißt, belastet wird.

    Übrigens, ein zweiter Einfluss natürlich die hohe Arbeitslosigkeit, die auch auf eine Senkung der Masseneinkommen wirkt. Ich denke, diese Politik ist gescheitert. Insoweit würde ich es unterscheiden: Erstens, die Politik gibt zu, vor allen Dingen die Regierungspolitik aus Berlin, dass das Konzept gescheitert ist und Zweitens, es gibt jetzt sozusagen aus dem Scheitern einen Neuanfang. Übrigens zeigen auch die internationalen Vergleiche, es wird ja oft Deutschland mit den Niederlanden verglichen als das Vorzeigeland für eine Niedriglohnpolitik, und wir sehen ja, dass die Niederlande mit ihrer Arbeitsmarktpolitik, vor allem aber auch mit ihrer Lohnzurückhaltung in den berühmten Pakten, in der Zwischenzeit sich selber in einer tiefen Rezension befindet. Wir können, wenn wir international vergleichen, sehen, dass dort, wo die Löhne einigermaßen mitwachsen mit der Produktivität und der durchschnittlichen Inflation, dass dort die Performance binnenwirtschaftlich besser ist als in den Ländern, die Zurückhaltung üben.

    Wiese: Es ist ja nie zu spät für richtige Einschätzungen und richtige Einsichten, Herr Hickel. Aber, lassen Sie uns das noch etwas vertiefen: Wie sieht es denn nun wirklich aus mit dem Zusammenhang zwischen höheren Löhnen und der Ankurbelung der Binnennachfrage? Die Arbeitgeber bestreiten diesen Zusammenhang ja und behaupten, höhere Löhne verursachten nur noch höhere Kosten.

    Hickel: Das ist richtig, das ist die gängige Argumentation. Aber hier erfolgt eine Reduktion der Funktion der Löhne in der Gesamtwirtschaft ausschließlich auf das Kostenargument. Es liegt nahe, man kann ja sogar verstehen, dass ein einzelner Unternehmer sagt, bei mir kommt die Nachfrage sowieso nicht so richtig an, ich konzentriere mich nur auf die Kosten. Aber jetzt kommt es darauf an und das ist sozusagen der neue Status oder wenn man so will ein neues Niveau der Diskussion, dass wir eben auch gesamtwirtschaftlich denken. Die Löhne haben im Prinzip drei Funktionen, erstens sind sie natürlich Kosten, unbestreitbar, zum Zweiten tragen sie bei zur gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, vor allem der Binnenwirtschaft und das Dritte, was wir in Deutschland wirklich unverantwortlich übersehen haben in den letzten Jahren, das zeigen auch internationale Vergleiche mit den USA, Löhne sind ja auch so etwas wie Effizienssichern, das heißt, Beschäftigte mit einigermaßen vernünftigen Löhnen setzten sich auch besser für die Arbeitskraft ein. Also, diese zwei Funktionen, vor allem die gesamtwirtschaftliche Funktion ist ganz wichtig, dass wir die reklamieren. Wenn ich mir jetzt einen Unternehmer anschaue, einen sehr guten, tüchtigen Unternehmer, der relativ stark regionalökonomisch bezogen ist, also in der Regionalökonomie sich bewegt, was nützen denn die massivsten Kostensenkungen, wenn er am Ende nicht auch entsprechend die Nachfrage findet? Deshalb ist es wichtig, und das ist auch eine Funktion der Tarifparteien, stückweit bei der Lohnpolitik eben nicht nur auf das einzelwirtschaftliche Kalkül zu schauen, sondern auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.

    Ich will mal so eine Faustformel sagen, die ja unbestritten ist, das ist der verteilungsneutrale Spielraum für Lohnpolitik. Der definiert sich aus dem Produktivitätszuwachs, die Löhne müssen mit der Produktivität wachsen, damit das Produktionspotential auch ausgelastet werden kann und der Inflationsrate. Dann sind wir irgendwo in der Gegend von drei Prozent. Das wäre sozusagen eine verteilungsneutrale, die Gesamtwirtschaft stärkende Lohnpolitik. Natürlich sage ich auch dazu, es ist immer die Frage des Durchschnitts einerseits und der einzelnen Unternehmen andererseits. Da wird über das Tarifvertragssystem in Deutschland sehr viel Unfug erzählt. Wir haben nach unten, wenn Unternehmen in Schwierigkeiten kommen auch mit einer solchen Lohnpolitik, dass dann durchaus Flexibilitätsreserven da sind, entsprechend zu reagieren.

    Wiese: Stichwort Nachfrage, Herr Hickel. Der Präsident des Arbeitgeberverbands Martin Kannegießer sagt zum Beispiel, dass durch solche, wie jetzt geforderten, Lohnerhöhungen, wenn die tatsächlich kämen, dass davon nur zehn Prozent etwa bei den Unternehmern tatsächlich ankäme und damit würde man keine Arbeitsplätze sichern können.

    Hickel: Es gibt da verschiedenste Modellrechnungen, die man im einzelnen durchgehen müsste. Die Zahl, die Kannegießer angegeben hat, ist natürlich viel zu niedrig. Wir müssen schauen, welchen Beitrag leistet die Lohn- und Gehaltssumme zu dem verfügbaren Einkommen, erstens. Wir müssen dann fragen, und da gibt es in der Tat eine Unsicherheitsstelle, was wird aus dem verfügbaren Einkommen gespart, was wird konsumiert. Das Sparen nimmt zu, das ist ein Angstsparen, vor allem weil die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes dominiert. Hier zeigt sich übrigens auch: Vertrauen stärken würde die Lage hier auch verbessern. Dann muss man sehen, was sind die Konsumgüter, was kommt vom Inland und Ausland. Aber insgesamt, bei all diesen Modellrechnungen, die ich natürlich auch kenne und selber anstelle, da gibt es immer die Tendenz, das kleiner zu rechnen als es ist, der Lohneffekt auf die Gesamtwirtschaft. Insgesamt ist es ganz wichtig, aber ich würde die Bundesregierung auch in einem anderen Zusammenhang jetzt noch mal in die Pflicht nehmen.

    Wiese: Aber nur ganz kurz noch, Herr Hickel.

    Hickel: Wenn die Lohnpolitik expansiv ausgerichtet wird und die Finanzpolitik weiter restriktiv bleibt, dann bleibt die Lohnpolitik natürlich sehr stark belastet.

    Wiese: Und noch kürzer: Halten Sie solch eine Politikwende mit diesem Kanzler für möglich?

    Hickel: Nein. Ganz sicherlich nicht. Das ist sozusagen Wahlkampf, der Kanzler hat konzeptionell immer wieder gesagt, er fährt eine andere Linie. Der redet jetzt ein bisschen mit, hat es ja abgeschoben auf die Tarifparteien, obwohl er selber in den letzten Jahren immer wieder die Tarifparteien ermahnt hat, bestimmte Politik zu machen. Ich traue ihm das nicht zu, nein.