Mittwoch, 08. Mai 2024

Archiv

Juri Andruchowytsch: "Radio Nacht"
Das Klavier auf den Barrikaden

Juri Andruchowytsch hat mit seinen Romanen die Ukraine auf die europäische Landkarte der Literatur gesetzt. In „Radio Nacht“ setzt er noch eins drauf: Das im Original vor zwei Jahren erschienene Buch sagt den russischen Überfall auf sein Land voraus.

Von Helmut Böttiger | 25.09.2022
Juri Andruchowytsch: "Radio Nacht"
Juri Andruchowytsch hat mit "Radio Nacht" sein Opus Magnum veröffentlicht. (Portraitfoto: Stefan Klüter / Buchcover: Suhrkamp Verlag )
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine liest sich Juri Andruchowytschs neuer Roman „Radio Nacht“ noch verblüffender.
"Die Schwadroner rannten schneller als wir. Auf den ersten Blick wirkten sie überfüttert und schlaff und erweckten in voller Montur den Eindruck, sie litten an Elefantiasis. Doch im Moment der Attacke zeigte sich, dass ihre Beine mehr als gesund waren. Offenbar hatte man sie gut trainiert. Im Straflager hatte man sie geschult, wie man andere totschlägt. An den Gefangenen wurde ausprobiert, wie stark sie zuschlagen konnten. Die Schwadron B hasste alle, und alle hassten die Schwadron B. Das System konnte sich auf sie verlassen – das ist vielleicht das Einzige, was ihm wirklich gelang."
Das Buch ist im Original schon vor zwei Jahren erschienen und hat dennoch nichts von seiner Aktualität verloren. Geheimdienste, russischer Imperialismus, Krieg: Andruchowytsch hat alles schon vorher beschrieben. Mit Realismus im landläufigen Sinn hat der Roman „Radio Nacht“ allerdings, wie immer bei diesem Autor, nichts zu tun.
Er spielt mit verschiedenen Ebenen, zieht alle Register postmodernen Assoziierens, aber alles dreht sich um die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte in der Ukraine. Die Anspielungen Andruchowytschs sind nie plakativ, sie leben von einem literarischen Hallraum. Und deshalb kann man dieses Buch auch als eine Reaktion auf den russischen Krieg lesen – das verdankt sich auf jeden Fall der offenen Struktur seiner Versuchsanordnung.

Der Habsburg-Mythos lebt wieder auf

Juri Andruchowytsch arbeitet dabei weiter an seiner Anverwandlung des Habsburg-Mythos. Das alte Galizien spielte für ihn als Referenzgröße schon immer eine große Rolle. Es bildet die Grundlage für eine neue ukrainische Identität, die sich von der Sowjetgesellschaft wie vom Einfluss des russischen Nachbarn lossagt und neue Geschichtskoordinaten im Blick hat.
Wie das genauer geschieht, zeigt sich an Josip Rotsky, der vielschichtigen Zentralgestalt des Romans. Sie ist nur indirekt zu fassen. Über weite Strecken wird ihre Lebensgeschichte durch einen Biografen vermittelt, der namenlos bleibt. Im Auftrag eines internationalen Komitees recherchiert er, was es mit diesem Rotsky auf sich hat.  
"Die Summe meiner Kenntnisse über die Person, deren Lebensweg ich umfassend und vollständig dokumentieren sollte, betrug kaum mehr als null und erschöpfte sich in dem erwähnten Vor- und Nachnamen. Wobei auch diese minimalen Angaben offenbar nicht verlässlich sind. Schon der Vorname. Wirklich Josip? Oder doch archaischer – Osip? Vielleicht Josiph? Oder sogar Joseph und Józef? Oder gleich Joasaph und Josaphat? Josip Rotsky. Ein prätentiöser Hybrid aus Brodski und Roth. Letzterer war seinem Geburtsort nach ebenfalls ein brodskyj beziehungsweise brodywskyj, einer aus Brody. Dies nur am Rande."

Joseph Brodsky und Joseph Roth

Josip Rotsky ist also schon von vornherein als eine literarische Spielfigur angelegt. Sie besteht in erster Linie aus zwei augenzwinkernden Verweisen. Der eine davon meint unverkennbar den jüdisch-russischen Dichter Joseph Brodsky, der in Leningrad geboren und 1972, im Alter von 32 Jahren, ausgebürgert wurde. Er siedelte in die USA über, erhielt 1987 den Literatur-Nobelpreis und wurde zu einem der großen monolithischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts, der einen Gegenpol zu dem totalitären Regime der Sowjetunion bildete. Er starb 1996 in New York.
Joseph Brodskys Name bezieht sich eindeutig auf das galizische Städtchen Brody, und hier legen sich die beiden Fährten übereinander: Ausgerechnet in diesem besagten Brody wurde nämlich Joseph Roth geboren, der große Beschwörer des Habsburgerreichs nach dessen Ende im Jahre 1918, mit Romanen wie „Radetzkymarsch“ oder „Die Kapuzinergruft“.
Aus den realen Dichtern Joseph Brodsky und Joseph Roth lässt Jury Andruchowytsch seinen Josip Rotsky entstehen und verbindet damit die beiden Sphären, die für die ukrainische Gegenwart grundlegend geworden sind – die historische Projektionsfläche Altösterreichs und die Repression unter dem sowjetischen Regime.
Es gibt in diesem Buch aber nicht nur den seriösen Biografen Rotskys. In kurzen, kursiv gesetzten Passagen, die sich durch den gesamten Roman ziehen, kommt die irrlichternde Figur Josip Rotsky auch selbst zu Wort. Das verdichtet das Geheimnisvolle an ihr noch mehr.

Die Nacht und das Radio

Rotsky gestaltet in einem Radiostudio an einem entlegenen Ort, der erst gegen Ende des Buchs konkretere Züge annimmt, eine nächtliche Sendung. Er spielt seine Lieblingsplatten und kommentiert selbst einige seiner biografischen Stationen. Zu den Recherchen des namenlosen Biografen steht dies nicht in Widerspruch, aber es umkreist und ergänzt sie.
In diesem nächtlichen Radiomoderator hat Juri Andruchowytsch auch ein paar autobiografische Andeutungen untergebracht, er bringt sich selbst ins Spiel, und das macht die Romanfigur des Josip Rotsky, die sich aus etlichen Facetten zusammensetzt, umso komplexer. Josip Rotsky hat, wie sein Autor Juri Androchowytsch, selbst in einer Band gespielt, und zwar seit den achtziger Jahren. Er legt aber auch Platten aus der Zeit davor auf.
"Soll ich Ihnen etwas sagen? Es gibt nichts Besseres als die Musik der Siebziger. Glauben Sie, das liegt an meinem Alter? Von wegen. Das ist keine Frage des Alters oder des Geschmacks. Es lässt sich objektiv beweisen – an den Fingern, Noten, Aufzeichnungen. Niemals sonst – weder vorher noch nachher – haben sich die Musiker so absolut hehre und unerfüllbare Aufgaben gestellt wie in den Siebzigern. Ich darf das sagen, denn ich habe in den Siebzigern noch nicht selbst gespielt. In den Siebzigern hatte ich meine Initiation, mit ihr kam meine Vorstellung von guter Musik."

Eine Rock-Band macht die Revolution

Persönliche und zeitgeschichtliche Entwicklungen durchdringen sich in „Radio Nacht“ auf unentwirrbare Weise. Immer wieder kann man in diesem mit lauter Spiegeleffekten operierenden Roman konkrete Geschehnisse aus der Ukraine entdecken, aber die Ukraine wird nie genannt. Der Autor entwickelt einen eigenen geografischen Raum, in dem man einiges wiedererkennen kann, in dem aber vieles auch kunstvoll verfremdet wird. Wenn man die Hinweise zusammensetzt, die der gewissenhaft vorgehende Biograf Josip Rotskys und dieser selbst als Radiomoderator geben, dann stellt sich die äußere Handlung ungefähr folgendermaßen dar.
Josip Rotsky ist in ein Land hineingewachsen, in dem, wie es heißt, „der vorletzte Diktator Europas“ herrscht. Da Rotsky sich früh für alle möglichen Tasteninstrumente begeistert, wird er Keyboarder in einer Rock-Band, verdingt sich dann aber als Pianist auf Kreuzfahrtschiffen und ist jahrelang unterwegs, bevor er in sein Heimatland zurückkehrt und merkt, wie sich eine Revolte anbahnt.
Unüberhörbar sind hier Anklänge an die „orangene Revolution“ in der Ukraine und den „Euromaidan“ 2013 und 2014. Maidan heißt der zentrale Platz in Kiew, in Andruchowytschs Roman tritt an seine Stelle der „Poschtowa-Platz“, der Postplatz, einer der ältesten Märkte in Kiew, der schon zu Zeiten der Kiewer Rus bestand, also dem Beginn der Geschichte überhaupt im ostslawischen Raum. 
"Auf dem von den Demonstranten kontrollierten Territorium tauchten hie und da alte Klaviere auf. Gekauft mit Revolutionsmitteln und aus den Wohnungen der früheren Besitzer hertransportiert, trotzten sie jetzt dem offenen Himmel in Erwartung immer neuer Konzerte. Die Initiatoren dieses Flash-Mobs ohne Verfallsdatum luden alle, die 'das Spiel auf Tasteninstrumenten beherrschen', dazu ein, zu kommen und zu spielen. 'Die Arschlöcher der Staatsmacht', schrieben sie, 'tun alles, um uns mit ihrer unerhört brutalen Gewalt niederträchtig zu einer gewaltsamen Reaktion zu provozieren. Aber da können sie lange warten! Wir antworten mit Liedern und Gitarren und mit donnernder Klaviermusik. Wir bauen eine Mauer aus Klang, die keine Polizistenbande mit ihren Knüppeln und Gasen durchbricht! Sie haben die Gewalt und die Bandokratie! Wir Klassik, Jazz und Prog!'"  

Phantastik und Surrealismus

Hier entsteht ein eigener ästhetischer Raum. Der Autor rekonstruiert keineswegs den Ablauf der ukrainischen Ereignisse der letzten Jahre, sondern nimmt sie als Ausgangspunkt für fiktionale Überhöhungen. Doch das ist alles andere als ein bloßer Selbstzweck. Der Roman unternimmt den Versuch, mit phantastischen, surrealen und theatralischen Mitteln die Strukturen, die in der ehemaligen Sowjetunion und eben auch in der Ukraine herrschen, sichtbar zu machen, auch abseits der Tagesaktualität.
Josip Rotsky wird auf den Barrikaden als Klavierspieler berühmt, er zieht sich immer eine Strumpfmaske über und erhält den Künstlernamen „Aggressor“. Doch der Geheimdienst und alle sonstigen Schergen des Staates mischen sich unter die Protestierenden. Rotsky wird in einen für Folterzwecke bereitgehaltenen Container im Wald entführt und landet schließlich in der Schweiz, wo er ebenfalls inhaftiert wird – nach einem slapstickhaften Attentat auf den sich gerade in einem Schweizer Nobelhotel aufhaltenden, ironisch als solchen bezeichneten „vorletzten Diktator Europas“ aus seinem Heimatland.
Zusehends überschlagen sich die Ereignisse: Nach einem Jahr gelangt Rotsky unter abenteuerlichen Umständen dann in eine Art Stadtstaat, der sich „Nashorn“ nennt und die Handlung endgültig auf eine literarisch-allegorische Ebene führt. Osteuropäische und spezifisch ukrainische Konstellationen sind in diesem Kunstgebilde zwar erkennbar, aber es hält der Gegenwart vor allem einen sarkastisch verzerrten Spiegel vor. Der Biograf Josip Rotskys folgt den Spuren seines Protagonisten:
"Also blieb nur jenes Land im Zentrum Europas und der Karpaten, unprätentiös und darum gemütlich. Plus Nashorn als Stadt der offenen Tore, wo sich Freaks und Einzelgänger aus der ganzen Welt versammelten. Eine Stadt, wo in den vergangenen Jahrzehnten eine Koalition aus Botanikern und 108 Libertinären stabil die Wahlen gewonnen hatte und ein halb schwarzhäutiger karpatischer Schwuler und Separatist schon in der vierten Amtszeit Bürgermeister war."

Absurdes Theater als Gegenwartsanalyse

„Nashorn“: das ist zweifellos ein Tribut an das in den fünfziger Jahren bahnbrechende Stück „Die Nashörner“ von Eugene Ionesco, einem Höhepunkt des absurden Theaters. Und es gibt in Andruchowytschs Roman noch weitere Verbeugungen vor solchen Visionären des Grotesken.
Der Stadtstaat Nashorn ist eine merkwürdige Enklave in Osteuropa, da ruft eine posttotalitäre Regierung eine Währungsreform aus und nimmt viele Emigranten aus dem Heimatland von Josip Rotsky auf. Dieses merkwürdige politische Gebilde an den Hängen der Karpaten scheint eine Phantasmagorie aus einer nahen Zukunft zu sein, während das Gewaltregime, das in Rotskys Heimatland herrscht, sehr stark an eine Ukraine erinnert, wie sie aussieht, wenn sie von den Russen okkupiert wird – eine reale Gefahr, auf die Juri Andruchowytsch schon früh aufmerksam machte und die spätestens seit der Annexion der Krim 2014 im Raum stand. Der Biograf Rotskys schreibt im Roman:
"Ich wage zu behaupten, dass das dortige Regime – sein ganzer, sagen wir, zynischer Stil – spürbar den Charakter der Bevölkerung veränderte. Mehr noch – ich gewann den eher unlustigen Eindruck, dass die Veränderungen unumkehrbar wurden. Eine Staatsmacht dieses Typs verdirbt die Menschen noch schneller als sich selbst. Die Wortverbindung 'Minderjährige verderben' ist gut bekannt. Im Falle von Rotskys Land kann man ganz analog von etwas anderem sprechen – Minderbemittelte verderben."

Querverweise auf Edgar Allen Poe

Der Roman „Radio Nacht“ hebt die zeitgeschichtlichen Bezüge aber fortwährend in einem flirrenden literarischen Kontext auf. Die schon selbst durch historische Zitate definierte Hauptfigur Josip Rotsky bekommt deshalb ganz selbstverständlich einen Begleiter an die Seite gestellt, der aus dem Reich der Poesie stammt. Es ist ein Rabe namens „Edgar“. Das spielt auf Edgar Allen Poes langes Erzählgedicht „Der Rabe“ an und lässt dessen apodiktischen Ausruf „Nevermore“ mitklingen.
Andruchowytsch verbindet in seinem Roman auf ganz organische Weise Bilder und Motive aus der schwarzen Romantik mit der aktuellen Politik, und gerade dadurch entsteht eine beklemmende, hautnah spürbare Gegenwärtigkeit. Der Autor lässt seinen Josip Rotsky ganz mühelos genauso auch in der frühen Neuzeit auftauchen und an der Wende zum 15. Jahrhundert ähnliche Kapriolen erleben wie in der unmittelbaren Jetztzeit, wie wenn das alles dasselbe wäre, lustvoll zieht er etliche Jahrhunderte zuvor durch die Lande und spielt, als Keyboarder, dann auf einem „kleinen Orgelpositiv“.
Überhaupt scheint das Rhythmische, die Musikalität der Textanordnung das eigentliche Zentrum des gesamten Textes zu sein, und das immerhin deutet, bei allen historischen Verwerfungen, einen möglichen Fluchtpunkt an. Zu den schönsten Passagen gehört zweifellos, wie Josip Rotsky in Nashorn im Keller seines Hauses zum DJ eines Clubs wird: er legt dort einmal in der Woche Platten auf, und damit kommt der Roman zu sich selbst.
"Im Verlauf von ein oder zwei Stunden (die Dauer seiner Programme variierte) stülpte er Berge um, jonglierte mit Stilrichtungen, Rhythmen und Namen, webte seine wunderbaren Suiten aus Orchestern, Solisten, Gitarren, Jazzimprovisationen, Sympho, Progressiv, Prog- und Postrock, Standards, aus afrikanischen oder kreolischen Stimmen, japanischen Liedern von der Westküste Kanadas, aus korsischer und georgischer Polyphonie, aus Kammerkonzerten, elektronischer Musik der 50er, Elektronik der 60er, Elektropop der 70er, Elektropunk der 80er, Elektroindie der 90er, Elektrorave der Nullerjahre und Cyberdrive der Zehner und Zwanziger, aus pathetischen Sonaten, Hawaii-Ukulelen, jamaikanischen Posaunisten, äthiopischen Trompetern, provençalischen Troubadouren, ans Ufer gespülten somalischen Piraten, in zerbeulten Jeeps erschossenen transkarpatischen Schmugglern sowie natürlich Organisten, Spinettisten, Cembalisten, Zymbalisten, Pianisten – überhaupt Tastenintrumentalisten aller Art."

Das „Nevermore“ des Raben Edgar

Diese Form von Musikbegeisterung stellt natürlich sofort eine Verbindung her zu den Passagen, in denen Josip Rotsky im Roman selbst aus dem Off eine „Radio Nacht“ gestaltet – auf einer Insel ohne Namen, und zwar offenkundig nach den im Buch erzählten Geschehnissen. Insgesamt handelt es sich um 15 eingeblendete Moderationstexte, aus der Nacht von 0 Uhr bis 8 Uhr morgens.
Am Ende wird jeweils ein Musiktitel angekündigt, und diese Songs stehen jedes Mal in einem Zusammenhang mit dem, was gerade vom Biografen Rotskys erzählt wurde, sie spielen mit dem Inhalt. Und setzen dem „Nevermore“ des Raben von Edgar Allen Poe, der Rotsky im Handlungsverlauf beigegeben ist, auf ihre Weise etwas entgegen. Solch ein Roman, dessen formale Anlage weniger dem Geist der Moderne als den lustvoll inszenierten Spielen der Postmoderne entspringt, lässt sich natürlich keineswegs nacherzählen, zu viele Seitenstränge und Motivketten überkreuzen sich hier.
Es gibt zum Beispiel auch eine klassische Krimistory, in der Rotsky zu einer Art Testamentsverwalter eines schwerreichen Steuerhinterziehers wird, mit dem zusammen er in der Schweiz im Knast gesessen hat, und es gibt die diversen sexuellen Eskapaden, wie sie einem Rockstar angemessen zu sein scheinen und die er in abgeklärter Macho-Manier Revue passieren lässt. Gleichzeitig wird aber auch die große Einsamkeit evoziert, die sich dahinter verbirgt.

Gott und der Teufel

Dass man in den Sphären, die hier verhandelt werden, niemandem trauen kann, stellt sich immer wieder heraus – bei den Freundinnen, bei den Mitmusikern, und bei den engsten Freunden zumal. Der Geheimdienst hat immer seine Finger mit im Spiel, bis zum Schluss. Es gibt ein Leitmotiv, das oft variiert wird und das seinen Ausgang in einer frühen Konstellation nimmt: da ist zum einen der Vater als die absolute Instanz, und zum anderen der gleichaltrige Freund, der Josip Rotsky verrät. Gott und Teufel also, ein altes, nicht nur osteuropäisches Thema.  
"Den Vater, wenn er Gott ist, kann man sowieso durch nichts ersetzen. Gestorben ist gestorben, einen anderen wird es nicht geben. Wir können doch nicht ewig verzweifeln, weil Gott gestorben ist! Bezüglich des Teufels, also des Freundes, wissen wir ja wohl, dass er vielgesichtig sein kann und uns glauben macht, er käme ab und zu zurück. Ungefähr darum dreht sich meine Geschichte."
Sie endet in einem dramatischen Showdown auf einer griechischen Insel, schließlich steht Rotsky auf einer Liste von 44 zu liquidierenden Oppositionellen. „Radio Nacht“ erzählt eine Geschichte, die zwar in einem exotischen Osteuropa angesiedelt ist, die uns aber alle immer mehr angeht. Dieser Roman ist mit all seinen phantastischen Ausschweifungen und literarischen Anspielungen weitaus politischer und aufreibender als all die üblichen Versuche, zeitaktuelle Themen realistisch darzustellen.
"Dies ist Radio für alle, die am Limit sind"

 sagt Josip Rotsky am Anfang seiner Nachtmoderationen. Und zeigt damit auch, wozu Literatur in der Lage sein kann.  

Juri Andruchowytsch: "Radio Nacht"
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
472 Seiten, 26 Euro.