Karl-Otto Hondrich: Ja und Nein. Es ist ja ein sehr schönes und erhebendes Gefühl, dass so viel gespendet wird. Freigiebigkeit ist wunderbar. Sie ist sehr schön für den Empfänger, dessen Schmerzen sie lindert und der sich freut. Sie ist gut für den Geber, der sich darüber freut, dass der Empfänger sich freut, der sich auch über die Dankbarkeit freut. Und sie ist gut für beide, weil sie zwischen beiden doch ein Band eben über die Dankbarkeit und über die Genugtuung des Helfens knüpft.
Forudastan: Wo ist jetzt der Moment daran, der Sie erstaunt?
Hondrich: Das Erstaunen bezieht sich allenfalls auf die Höhe der Spenden, aber es lässt sich auch sehr leicht erklären. Unser Mitleid und unsere Hilfsbereitschaft sind Gefühle. Gefühle sind spontan. Man kann sie also nicht ohne weiteres lenken. Man kann sie nicht machen oder abschaffen. Gefühle haben trotzdem so etwas wie Ordnung oder Regeln, denen sie folgen. Wir leiden mehr mit denen, die uns nahe stehen, mit der eigenen Familie, mit Landsleuten. Wir leiden mehr, wenn ein Unglück sich in der Nähe ereignet, wenn es ganz plötzlich kommt, wenn es viele betrifft und wenn es sichtbar und spürbar ist. Einige von diesen Punkten treffen auf das gegenwärtige Großunglück zu.
Forudastan: Sie spielen darauf an, dass dort Touristen verletzt worden sind, dass man deswegen genauer hinschaut?
Hondrich: Natürlich. Die Länder, so fern sie uns geografisch sind, sind uns ja doch durch das Reisen, durch den Tourismus nah, und sie sind uns natürlich nah über die Bilder, und diese Bilder müssen wir auch verstehen als das Aufrufen einer Gemeinsamkeit im Menschlichen.
Forudastan: Hat Mitgefühl und Hilfsbereitschaft vielleicht auch etwas Ansteckendes? Also man sieht, viele Spenden, so kann ich nicht am Rand stehen, oder so möchte ich einfach dazu gehören.
Hondrich: Das ganz gewiss. Das kollektive Mitleid ist identitätsstiftend, nicht nur für die Verbindungen zwischen den Helfenden und denen, den geholfen wird, sondern auch zwischen den Helfenden selbst. Man stärkt sich gegenseitig, das ist richtig, und diejenigen, die hinfahren, um ganz konkret zu helfen, also das Technische Hilfswerk, Leute von der Feuerwehr und andere uneigennützige Helfer, die wachsen auch an ihrer eigenen Aufgabe, die sie zusammenschweißt, und wir sind wieder stolz darauf, dass es Leute von hier gibt, die so viel gleichsam auch in unserem Namen tun.
Forudastan: Diese Woche kam ja der Slogan auf, "Geben ist geil", also die Umwandlung des Werbespruches eines großen Elektrokonzerns "Geiz ist geil". "Geben ist geil" heißt, es ist schick, hip, trendy. Ist das auch eine Seite der Hilfsbereitschaft und des Spendens?
Hondrich: Ja, natürlich. Daran ist aber auch gar nichts verkehrt, denn die Gefühle sind nicht nur auf einer Seite und die Gefühle sind auch nicht nur einlinig. Unsere Gefühle sind immer gemischt. Wenn wir uns durch unsere Taten stolz fühlen können oder wenn sogar manchmal Gefühle der Selbstbestätigung und der Macht aufkommen, die man manchen Geberländern unterstellt, natürlich nicht uns, denn wir sind ja angeblich von solchen Gefühlen frei, dann ist das trotzdem nicht schlimm. Da Gefühle gemischt sind, müssen wir sie auch in ihrer Mischung von Macht und Mitleid und Stolz und Mitleid akzeptieren.
Forudastan: Das heißt, es gibt uns auch ein Gefühl von Größe?
Hondrich: Es gibt uns ein gemischtes Gefühl einerseits ja von einer gewissen unverschuldeten Überlegenheit, wir sind gut weggekommen, uns geht es besser. Andererseits liegt darunter auch ein Gefühl der menschlichen Gleichheit und Ebenbürtigkeit. Wir wissen, dass wir genauso leiden könnten und manchmal auch leiden wie die Betroffenen dort.
Forudastan: Was meinen Sie, werden dieses aktuelle Mitleid und die Hilfsbereitschaft von kurzer Dauer sein, oder kann es sein, dass sie tatsächlich länger anhalten?
Hondrich: Sie werden von relativ kurzer Dauer sein aus gegebenem Anlass, und das ist gut so, denn wie Sie eben schon selbst gesagt haben, wird es wieder andere Anlässe geben, und es gibt sie andauernd, wo ebenfalls Hilfsbereitschaft und Solidarität gefragt sind. Sie können also nicht immer an einer Stelle und in der gleichen Solidarität verharren. Das ist eine sehr unzulässige Annahme, die manchmal gemacht wird, um zu suggerieren, dass Hilfsbereitschaft ja nicht echt sei, wenn sie nicht dauerhaft an derselben Stelle bleibt. Nein, sie darf gar nicht an derselben Stelle bleiben.
Forudastan: Optimistische Zeitgenossen spekulieren ja jetzt schon, dass dieses kollektive Mitgefühl für die Opfer der Flutwelle die Bürger auch für die Nöte anderer Menschen auf der Welt sensibilisieren wird. Also nach dem emotionalen und finanziellen Engagement in Sachen Asien wird man in Sachen Afrika nicht mehr wegschauen können und auch nicht mehr wegschauen wollen. Meinen Sie das auch?
Hondrich: Nein. Also unsere Fähigkeiten, mitzufühlen und mitzuleiden, mitzuhelfen, sind begrenzt. Sie müssen immer wieder neu aufgerufen werden, und sie lassen auch nach, sie verblassen. Es sind auch zu viele Anforderungen, die an uns gestellt werden, aus der Nähe, der eigenen Familie, der eigenen Gemeinde, und aus der Ferne. Wir müssen das immer wieder ausgleichen. Der wachsenden Sensibilisierung einerseits steht immer auch gegenüber ein Nachlassen, ja ein Abstumpfen. Wir können uns ja nicht überfordern. Wir können nicht immer in den höchsten Gefühlen leben.
Forudastan: Ich glaube, der gedankliche Ansatz bei dieser These ist, dass auch viele Menschen, die bisher sich nicht engagiert haben, sich jetzt engagiert haben, überhaupt einen Bezug zum Engagieren bekommen und dann vielleicht bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls helfen wollen.
Hondrich: Wenn das der Fall ist, dann ist das wunderbar. Man soll aber diese Möglichkeit nicht überschätzen. Das wird es sicher nicht allzu häufig geben.
Forudastan: Vielen Dank für das Gespräch.