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"Das kommt in jeder Besatzungsarmee vor"

Mit der Eroberung Berlins durch die Rote Armee im Frühling 1945 wurden viele deutsche Frauen vergewaltigt. Das ist auch Thema des Filmes "Anonyma - eine Frau in Berlin", der nun in die Kinos kommt. Nach Ansicht des Militärhistorikers Manfred Messerschmidt ist ein solches Verhalten typisch für die Verrohung infolge eines Krieges. In der DDR sei dieses Verhalten tabuisiert worden, da die Rote Armee als der große Befreier galt. Aber auch in der Bundesrepublik hätten sich aufgrund der schwierigen Quellenlage kaum Historiker dem Thema gewidmet.

Manfred Messerschmidt im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Meurer: Im Chaos des untergehenden Berlin im Mai 1945 müssen sich unvorstellbare Szenen abgespielt haben. Die Stadt war ausgebombt, zerstört. Direkt nach der Einnahme Berlins durch die Rote Armee wütete eine Soldateska auf brutale Weise. Mehr als 100.000 deutsche Frauen sollen damals in den Wochen und Monaten von russischen Soldaten vergewaltigt worden sein. Das ist ein grausames und bislang eher verschwiegenes Kapitel der deutschen Geschichte. Heute kommt ein Film in die Kinos, der die Ereignisse nacherzählen will. "Anonyma" heißt er und er geht auch der Frage nach, warum die Russen damals so gnadenlos waren. "Anonyma - eine Frau in Berlin" basiert auf dem Tagebuchroman eines anonymen deutschen Opfers von damals.
    In Freiburg bin ich jetzt verbunden mit dem Militärhistoriker Manfred Messerschmidt. Guten Morgen, Herr Messerschmidt.

    Messerschmidt: Schönen guten Morgen.

    Meurer: Waren die Vergewaltigungen der Roten Armee in Berlin 1945 und an anderen Orten in Deutschland ein halbes Jahrhundert lang wirklich ein Tabu in Deutschland?

    Messerschmidt: In gewisser Hinsicht kann man das sagen. In der DDR bis 89 auf jeden Fall, denn da war ja die Rote Armee der große Befreier, was sie ja auch in vieler Hinsicht war, und das politische System in der DDR hat dafür gesorgt, dass das Verhalten der russischen Soldaten in Deutschland kein Thema wurde. Damit konnte man sich in die Nesseln setzen, wenn man das trotzdem zur Sprache brachte. Also das ist klar.

    Aber auch in der Bundesrepublik, in Westdeutschland, ist das ein Thema, das eigentlich mehr innerhalb der Familien und da auch als Anklage gegen diese russischen Soldaten gilt. Soweit aber Familienmitglieder selbst betroffen waren, ist das sicherlich auch nicht gerne besprochen worden. Ich weiß das aus meiner eigenen Familie. Denn das hat ja auch Scham erzeugt und die Frauen reden sicherlich nicht gerne darüber und da verbot sich auch für die Männer, das nicht zum Thema zu machen.

    Meurer: Wie haben Sie das damals in Ihrer eigenen Familie miterlebt?

    Messerschmidt: Eine angeheiratete Frau, die zuletzt mit ihrem Mann, der Soldat war und weil er im Osten eingesetzt war, eine Wohnung in Zoppot hatte. Da ist sie von den Russen geschnappt worden und behandelt worden. Die Schwester ist davon gekommen, die konnte dann einiges erzählen. Sie ist dann von den Russen mitgenommen worden und war nicht mehr gesehen. Das ist ja sehr vielen Frauen passiert und wir wissen ja auch heute, dass es auch ein Ziel der sowjetischen Propaganda war, gegen den Feind, der so viel Unheil im eigenen Land angerichtet hatte, vorzugehen und dabei auch Frauen nicht zu schonen. Diese Propaganda hat die Soldaten praktisch in ihrem Tun da noch bestärkt und angereizt.

    Meurer: Wurden die Soldaten von ihrer Führung sozusagen aufgefordert, deutsche Frauen zu vergewaltigen?

    Messerschmidt: Ja. Es gab aber einzelne Offiziere und Kommandeure, die das unterbunden haben. Die gab es übrigens in allen Armeen. Bei Männern, die jahrelang nicht in ihrer Familie waren und nun im Feindesland sind, ist die Gefahr der Verrohung und der sexuellen Zudringlichkeit natürlich sehr hoch.

    Meurer: Ist erforscht worden, wie viele deutsche Frauen dieses Schicksal erlitten haben?

    Messerschmidt: Ich glaube nicht, dass man da genaue Zahlen kennt. Es ist aber eine sehr große Zahl. Genaue kann man aber sicherlich nicht angeben.

    Meurer: Wie sehr ist überhaupt dieses Gebiet erforscht worden?

    Messerschmidt: Nicht so, dass man sagen kann, das Thema ist abgeschlossen.

    Meurer: Was glauben Sie, was Forscher davon abgehalten hat, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

    Messerschmidt: Das ist einmal die schwierige Quellenlage. Sie können mit den Leuten sprechen. Viele werden gar nicht antworten. Offizielle Dokumente darüber gibt es nicht und sofern es sie gibt, sind sie von russischer Seite natürlich auch nicht freigegeben worden. Also man konnte eigentlich nur spekulieren, aber nichts Genaues sagen. Das ist eine Schwierigkeit und das macht ein Historiker nicht gerne, wenn er ernst genommen werden will.

    Meurer: War es auch so, dass man ja erst seit kurzem intensiver über deutsche Opfer redet, die es damals gegeben hat? Hat das eine Rolle gespielt, dass man vielleicht glaubte, wenn man über deutsche Frauen als Opfer redet, dass man dann die Verbrechen an der Ostfront ausblendet und natürlich den Holocaust?

    Messerschmidt: Ja. Wenn man das Thema überhaupt angeht, deutsche Verluste, deutsche Opfer, dann ist das immer ein bisschen in dieser Richtung mitdiskutiert worden. Ich erinnere mich, als über den strategischen Bombenkrieg gegen Deutschland geschrieben worden ist, dass da auch sofort das Thema kam, ja, aber das war doch der Nationalsozialismus und so weiter, das ist aufgrund der deutschen Handlungen alles gerechtfertigt gewesen, was natürlich nicht stimmt. Das hatte man eigentlich, wer darüber sprach, von Vornherein in verschiedenen Organen der Presse und so weiter gegen sich.

    Meurer: Wie sehr, Herr Messerschmidt, haben umgekehrt deutsche Soldaten in der Sowjetunion nach 1941 Frauen vergewaltigt?

    Messerschmidt: In der Sowjetunion hat es eine besondere Situation gegeben. Dazu muss ich vielleicht kurz ausholen. Bei der Planung des Krieges sind ja, bevor es richtig los ging, eine ganze Reihe von Befehlen ergangen, die auch mit der Behandlung der Bevölkerung zu tun hatten. Ein ganz wichtiger Befehl war ein Gerichtsbarkeitserlass, der den Namen hatte, weil der Deckname für den Krieg war ja zunächst Barbarossa., Barbarossa-Feldzug. Dieser Befehl war Gerichtsbarkeitserlass Barbarossa. Und es gibt einen kurzen Abschnitt, wo über das Verhalten deutscher Soldaten gesprochen wird. Da heißt es, "Verbrechen und Vergehen deutscher Soldaten, selbst wenn es sich um militärische Verbrechen handelt, sind im Allgemeinen von der Wehrmachtjustiz nicht abzuurteilen, es sei denn, dass dieses Verhalten die Sicherheit der eigenen Truppe gefährdete oder die Disziplin." Hier wurde dann gesagt, es kann Fälle geben, wo die Militärjustiz doch eingesetzt werden kann, wenn nämlich das Verhalten einzelner Soldaten die Disziplin dieser Truppe gefährden könnte. Darunter wurde unter anderem auch aufgeführt "sexuelle Übergriffe aus einer bestimmten Haltung und Verrohung des Soldaten".

    Meurer: Darf man daraus schließen, dass diese Übergriffe dann von deutscher Seite nicht so oft vorkamen?

    Messerschmidt: So oft wie bei Kriegsende seitens der Angehörigen der Roten Armee sicher nicht. Es ist auch in den Berichten der Armeerichter eigentlich nur wenig davon die Rede, obwohl eigentlich solche Tatbestände, die darauf hindeuten könnten, dass die Disziplin der Truppe erschüttert oder gefährdet ist, die Führung natürlich interessierten. Darunter hätte natürlich Vergewaltigung auch eine Rolle gespielt wie zum Beispiel auch Plünderung. Plünderung ist aber öfter in diesen Berichten erwähnt, Vergewaltigung kaum. Wir haben die Zahlen der amerikanischen Armee und die haben über 200 Todesurteile wegen Vergewaltigung verhängt, aber ich glaube nur etwa 50 davon vollstreckt. Es sind 50 Todesurteile vollzogen worden wegen Vergewaltigung. Die deutschen Zahlen kann ich gar nicht angeben, aber es hat Fälle von Vergewaltigung gegeben, und zwar in Frankreich natürlich, in Russland, weil dieser Gerichtsbarkeitserlass so eine Art Freibrief war, den die Soldaten zwar nicht dem Wortlaut nach kannten, aber sie wussten, dass da nicht viel passierte, wenn sie so etwas machten. Das kam dann auch vor in Griechenland, auf dem Balkan. Also das kommt in jeder Besatzungsarmee vor.

    Meurer: Das war der Freiburger Militärhistoriker Manfred Messerschmidt über den Film oder aus Anlass des Films "Anonyma - eine Frau in Berlin", der heute in den Kinos anläuft. Das Gespräch mit dem Historiker habe ich vor der Sendung aufgezeichnet.