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"Das Konzept der Bundesregierung ist falsch"

Bernd Raffelhüschen, Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Freiburg, hat sich für eine einheitliche Prämie zur Finanzierung der Pflegeversicherung ausgesprochen. Die heutige Kopplung der Pflegeversicherungsbeiträge an den Lohn sei falsch und somit auch das rot-grüne Konzept einer Bürgerversicherung. Die Versicherung müsste vielmehr stärker als bisher auf Kapitaldeckung basieren.

Moderation: Burkhard Birke |
    Birke: Schon jetzt ist jeder Zehnte über 65jährige pflegebedürftig. Bis zum Jahre 2050 wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen hierzulande verdreifachen, die Zahl der Beitragszahler zur Pflegeversicherung indes wird um ein Drittel sinken. 823 Millionen Euro Fehlbetrag vermeldete die Pflegeversicherung im vergangenen Jahr und auch in diesem wird es wohl einen hohen Fehlbetrag geben. Gleichzeitig werden auch immer wieder Zweifel an der Qualität der Pflege laut. Was tun? Das wollen wir jetzt mit Professor Bernd Raffelhüschen, Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Freiburg, erörtern. Schönen guten Morgen.

    Raffelhüschen: Guten Morgen.

    Birke: Sie haben sich für eine Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags zur Stabilisierung der Rentenversicherung ausgesprochen. Wäre es nicht viel dringender, den Pflegeversicherungsbeitrag anzuheben?

    Raffelhüschen: Bei der Beitragssatzerhebung sind wir im Grunde am Ende der Fahnenstange angelangt und wir können in der Pflegeversicherung schlicht den Beitragssatz nicht erhöhen, denn wenn wir dem Problem so begegnen wollten, müssten wir ihn auf fast sechs Prozent erhöhen und daran kann wohl keiner ernsthaft denken.

    Birke: Wie muss und kann man das Problem der Finanzierung der Pflegeversicherung lösen?

    Raffelhüschen: Die Pflegeversicherung ist ein demographisches Problem. Wir haben in der Pflegeversicherung einen Generationenvertrag begründet und wussten dennoch ganz genau, dass die Generation, die Generation, die ihn erfüllen soll, im Grunde gar nicht geboren worden ist. Denn durch den Pillenknick sind die entsprechenden Beitragszahler nicht da und durch die Verlängerung der Lebenserwartung wird es eben zu einer extremen Erhöhung der entsprechenden Transferbezüge kommen und das ist nicht finanzierbar auf Dauer.

    Birke: Das ist die langfristige Ebene, lassen Sie uns kurzfristig noch einmal über die akuten Finanznöte sprechen. Da wollen die Arbeitgeber nun die Leistungen der Pflegeversicherung um zwei Milliarden kürzen und eine einheitliche Prämie von 23 Euro einführen. Ist das der Weg aus der Finanzkrise?

    Raffelhüschen: Es ist richtig, dass wir versuchen sollten, auf eine einheitliche Prämie zu kommen, denn man muss sich vorstellen, dass für die Pflegeversicherung ein lohnbezogener Beitrag erhoben wird und die Lohnbezogenheit schlichtweg falsch ist, denn Sie werden durch eine Lohnerhöhung nicht zum Pflegefall.

    Birke: Sie lehnen also generell die Kopplung der Pflegeversicherungsbeiträge an den Lohn ab?

    Raffelhüschen: Das ist vollkommen richtig. Sie war von vornherein falsch, es hätte gar keine Kopplung an den Lohn geben dürfen, sondern wir hätten von vornherein ein Pauschale wie jetzt bei der Gesundheit jetzt gefordert oder auch bei der Pflege dann entsprechend einführen müssen.

    Birke: Das heißt auch, dass aus Ihrer Perspektive das rot-grüne Konzept einer Bürgerversicherung, die auch die Pflege umfasst, falsch wäre.

    Raffelhüschen: Das Konzept der rot-grünen Bundesregierung ist gänzlich falsch, denn man muss sich vorstellen, dass wir ziemlich genau wissen, dass wir eigentlich ziemlich viel mehr Kapitaldeckung in das System tragen müssten. Wir wissen, dass wir in etwa 90 Prozent Kapitaldeckung eigentlich bräuchten und wir haben 90 Prozent an Umlageverfahren in diesem Prinzip. Das ist also im Grunde genommen schlichtweg, dass man aus den 90 Prozent, die man falsch gemacht hat, 100 Prozent falsch macht, wenn man zu einer Bürgerversicherung kommt, die alle abdeckt, denn die heutigen Privatpflegeversicherten sind genau die zehn Prozent, die es richtig machen, nämlich mit Kapitaldeckung.

    Birke: Das heißt, jeder muss einen Kapitalstock auch mit seinen Beiträgen finanzieren. Wo bleibt da die soziale Gerechtigkeit, denn die heutigen Leistungsempfänger haben ja praktisch nichts einbezahlt?

    Raffelhüschen: Das ist genau der Punkt: Bei der Pflegeversicherung handelt es sich um eine Versicherung. Sie hat mit Gerechtigkeit und Umverteilung nicht viel zu tun, genauso wie wir bei der Rentenversicherung auch wir im Grunde gar keine Umverteilung machen wollen.

    Birke: Wer soll dann aber die nun mal in der Pflegeversicherung verankerten Umverteilungsaspekte finanzieren? Der Staat über Steuern?

    Raffelhüschen: Ja, das ist der richtige Empfänger, denn der Punkt ist doch der: Wenn es Leute gibt, die nicht für sich selbst Vorsorge treiben können für den Fall der Pflege, dann müssen wir ihnen helfen.

    Birke: Sie plädieren also im Kern dafür, dass wir auf eine völlig kapitalgedeckte Pflegeversicherung umsteigen und alles, was Umverteilung ist und die Pflege der aktuellen Leistungsempfänger anbetrifft aus Steuern finanzieren?

    Raffelhüschen: Wenn man 100 Prozent auf ein System setzt (nämlich Kapitaldeckung) macht man natürlich auch Fehler, allerdings ist der Grad der Kapitaldeckung, den wir bräuchten, viel höher als er heute ist und heute liegt er bei zehn Prozent. Eine Bürgerversicherung würde diesen Grad auf null Prozent reduzieren und genau das ist der Fehler.

    Birke: Wenn man sich generell die Probleme der Sozialversicherung vor Augen führt, so haben wir die enorme Belastung der Lohnnebenkosten. Muss man nicht das, was Sie jetzt für die Pflegeversicherung anregen für sämtliche Sozialversicherungen durchführen?

    Raffelhüschen: Man muss es für alle Sozialversicherungen durchführen, wo die Leistung, die man gewährt, nichts mit dem Lohn zu tun hat. Dies ist aber nicht der Fall bei der Rente und der Arbeitslosenversicherung. Dort sind die Leistungen abhängig von dem, was man eingezahlt hat. Bei der Gesundheit und der Pflege haben wir im Prinzip keine Kopplung von Lohn und Risiko. Also auch das Risiko der Krankheit ist nicht lohnbezogen, denn ich werde durch eine Lohnerhöhung weder zum Pflegefall noch krank.

    Birke: Nun haben wir aber in der Sozialversicherung aber enorme Umverteilungsaspekte mit drin, die sind ja systemimmanent, es ist eine Solidaritätsversicherung, Sozialversicherung. Wird denn da überhaupt, wie es auch die Union vorschlägt, eben eine Steigerung der Mehrwertsteuer ausreichen, diese Umverteilungsaspekte alle zu finanzieren, wenn man auch noch mit in Betracht zieht, dass man ja im Bereich der Krankenversicherung eine Gesundheitsprämie mit sozialem Ausgleich einführen will?

    Raffelhüschen: Das Problem einer Steuererhöhung ist immer, dass man sie nur einmal ausgeben kann und insofern muss man vorsichtig sein mit dem, was man verspricht. Eine zweiprozentige Mehrwertsteuererhöhung kann nicht den Sozialausgleich bei der Gesundheits- und Pflegeversicherung finanzieren, wenn wir bei den Zumutbarkeitsgrenzen bleiben wie heute. Wenn wir also schlichtweg den Bürgern nicht zumuten können, mehr als 12,5 Prozent für die Gesundheit und 1,7 Prozent für die Pflege auszugeben, dann sind wir am Ende der Diskussion, denn dann bekommen wir so hohe Umverteilungsnotwendigkeiten steuerlicher Art, dass wir das, selbst durch eine Mehrwertsteuererhöhung von drei, vier oder fünf Prozent nicht finanzieren könnten.

    Birke: Bei Ihren Ausführungen lese ich zwischen den Zeilen, dass Sie im Grunde eine Präferenz für das haben, was die FDP vorschlägt, dass wir generell in der sozialen Sicherung auf ein Mindestsystem umsteigen und einen hohen Grad an Eigenverantwortung einführen.

    Raffelhüschen: Wir haben diesen Weg schon längst beschritten. Bei der Rentenversicherung ist durch die entsprechenden Schritte der letzten vier Jahre, das heißt den Nachhaltigkeitsfaktor und andere Dinge, die Sache schon zu einer Basisversorgung geworden und genau bei der Gesundheit wie bei der Pflege müssen wir auch einfach schlichtweg klarmachen, dass wenn wir eine Verdoppelung bis Verdreifachung der Transferempfänge bekommen, bei gleichzeitiger entsprechender Reduktion der Beitragszahler, und die ist ja schon gelaufen in den letzten 40 Jahren, dass wir dann langfristig nicht viel mehr als eine Grundversorgung finanzieren können. Das ist klar.

    Birke: Wie schnell und radikal muss dieser Umgestaltungsprozess jetzt beschleunigt und angegangen werden?

    Raffelhüschen: Was unbedingt und zwingend erforderlich ist, ist dass man den Leuten reinen Wein einschenkt. Bei der Rentenversicherung hatte man es ja getan und gesagt, die Rente ist keine Lebensstandardsicherung mehr, wenn jemand das will, muss er es selber machen, der Staat ist für eine Grundversorgung da. Und genau so werden wir den Menschen das auch bei der Gesundheit und Pflege erklären müssen. Denn die Erforderlichkeiten, die dabei mitschwingen, sind langfristige Sparprozesse und die sind durch die kurze Frist nie zu kompensieren, denn der Zins- und Zinseszinseffekt wirkt nur langfristig.

    Birke: Der Kanzler hat gestern noch einmal Rentenversicherungsbeitragserhöhungen ausgeschlossen. Hat er Sie, den Experten, überzeugt?

    Raffelhüschen: Nein, das hat er nicht, zumal ich auch im Vorfeld nicht gefordert habe, die Beitragssätze zu erhöhen, sondern ich habe darauf hingewiesen, dass eine Schwankungsreserve, nämlich das Tafelsilber der Rentenversicherung schlichtweg versilbert worden ist. Und um das wieder aufzubauen und uns konjunkturell ein bisschen unabhängiger zu machen in der Rentenversicherung ist es nicht nur notwendig, dass wir eine leichte Beitragssatzerhöhung haben müssten, sondern auch eine leichte Rentenkürzung und darum geht es.

    Birke: Wenn ich Sie also richtig interpretiere: Ohne drastische Änderungen werden wir mittelfristig, gleich unter welcher Regierung, um eine Rentenbeitragserhöhung nicht umhinkommen?

    Raffelhüschen: Mittelfristig wird es sowieso zu einer Beitragssatzerhöhung auf etwa 22 Prozent kommen, die ist unvermeidbar. Aber in der Rentenversicherung können wir eben agieren ohne dass wir das System der Umlage zu stark verlassen müssen. In der Gesundheit und Pflege, dort werden wir radikalere, nämlich Systemwechsel vornehmen müssen.