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Das Leben Revue passieren lassen

"Das Haus der glücklichen Alten" erzählt vom Alltag in einem Seniorenheim. Mit noch nicht einmal 40 Jahren schafft es Autor Valter Hugo Mãe, sich in Menschen hineinzuversetzen, deren Leben auf das Ende zugeht. Es ist ein bedrückendes Buch, das auch Bedeutung von Freundschaften im Alter vermittelt.

Von Eva Karnofsky | 19.07.2013
    Das Haus der glücklichen Alten, man ahnt es schon, ist ein Seniorenheim. Nachdem seine Frau Laura verstorben ist, wird der 84-jährige Antonio da Silva von seiner Tochter gegen seinen Willen dorthin gebracht, weil sie berufstätig ist und sich nicht um ihren Vater kümmern kann. Zunächst sträubt sich Antonio gegen die neue Bleibe und zeigt dies allen, indem er sich weigert, zu sprechen und die Tochter bei ihren Besuchen wegschickt.

    Man kam mich zum Abendessen holen, und ich ging nach unten. Ich wollte mich nicht gehen lassen, aber plötzlich verlor ich jeden Antrieb und beschloss, nur noch dann zu gehorchen, wenn ich nicht anders konnte. Allein stieg ich die breite Treppe hinunter, in einem kindlichen Stolz wollte ich ihnen beweisen, dass ich immer noch alles selber tun konnte, das sollten sie wissen, das war wichtig. Vielleicht lag darin ja die Chance, ihnen klarzumachen, dass es meine Kinder übertrieben eilig gehabt haben, mich als Pflegefall ins Heim abzuschieben. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, die anderen zu sehen, die schon älter waren als ich, und ich wollte noch nicht gleich dazugehören. Ich bin nur zu Besuch hier, redete ich mir ein, selbst wenn ich nicht die geringste Hoffnung hatte, von diesem Ort je wieder wegzukommen.

    Valter Hugo Mãe lässt seinen Protagonisten Silva in der Ich-Form und in der Rückschau erzählen. Auf dem Sterbebett lässt der alte Mann in einem inneren Monolog sein Leben in dem Seniorenheim Revue passieren, wobei er sich an die Geschehnisse, aber auch an die Unterhaltungen im Heim erinnert, die er in seinen Monolog integriert, ohne sie durch Anführungszeichen oder Absätze zu kennzeichnen. Oft führen Silvas Gedanken jedoch in die weitere Vergangenheit, als er noch im eigenen Friseursalon arbeitete und Portugal von dem faschistischen Diktator António Salazar regiert wurde. Ein junger Oppositioneller ließ sich zehn Jahre lang von ihm die Haare schneiden und berichtete ihm von den politischen Aktionen der Linken:

    Dann, zum richtigen Zeitpunkt, lieferte ich ihn aus, wobei ich fast eine Hochstimmung in mir fühlte.

    Silva geht davon aus, dass der junge Mann danach von der Geheimpolizei ermordet wurde. Vor dem nahen Tod und immer noch vom schlechten Gewissen verfolgt, versucht Silva zumindest vor sich selbst eine Erklärung für seinen Verrat zu finden. Mães Botschaft dabei ist klar: Taten, für die ein Mensch sich schämt, hängen ihm bis zum Tode nach, selbst wenn es ein unmenschliches Regime war, das ihn angetrieben hat.

    Allmählich findet sich Silva mit dem Leben im Haus der glücklichen Alten ab, integriert sich in die Gemeinschaft und findet sogar Freunde - den ehemaligen Museumskurator Anísio, Senhor Pereira, der ein Buch über portugiesische Geschichte schreibt und den hundertjährigen Esteves, der von sich behauptet, im gleichen Tabakladen wie Fernando Pessoa gekauft zu haben und deshalb in einem Gedicht des 1935 verstorbenen, bedeutendsten portugiesischen Lyrikers erwähnt zu sein.

    Der Roman stellt sehr einfühlsam und vor allem glaubwürdig dar, wie es in dem Seniorenheim zugeht und was Menschen empfinden, denen nur noch bleibt, gemeinsam die letzte Lebensetappe zu meistern.

    Silva und seine neuen Freunde erleben Momente der Fröhlichkeit, etwa, wenn sie sich immer wieder in zotiger Sprache gemeinsam über Dona Leopoldina lustig machen, die sich ständig obszön kratzt:

    Lassen Sie sich behandeln, lassen Sie sich behandeln, Sie Ferkel! Wir lachten und sie kratzte sich immerzu am Hintern. Der Abend kühlte endlich ab, und das Heim geriet in eine widersinnig lebhafte Stimmung. Diese Alte bekommt noch Schwielen an den Händen vom ständigen Kratzen, sagte Anísio. He, Dona Leopoldina, lassen Sie die Sauerei, Sie sind wirklich ziemlich säuisch. Was für ein Tohuwabohu!

    Man hilft sich auch gegenseitig. So versucht Silva, unterstützt von einem Pfleger, der teilweise geistig umnachteten, verbitterten Marta die letzten Tage zu erleichtern: Silva schreibt ihr Liebesbriefe, die vermeintlich von ihrem Mann kommen. Der hat sie vor Jahren ins Heim gesteckt, weil er eine andere hatte, und sich nie wieder gemeldet.

    Von den Kumpanen beneidet, findet Anísio eine späte Liebe im Heim, doch oft sind die glücklichen Alten keinesfalls glücklich: Die Kräfte schwinden, der eigene Körper wird, so empfindet es Silva, zum schlimmsten Feind. Und Silva wird regelmäßig von Albräumen heimgesucht, die seine Angst vor dem Tod belegen:

    Ich wollte darum bitten, dass man die Fensterläden schloss, bevor mich die Vögel für tot hielten und ins Zimmer flögen. Plötzlich hackten sie auf mich ein, obwohl ich noch am Leben war, und selbst als ich überhaupt keinen Körper mehr hatte, verließ mich das Bewusstsein nicht.

    Der Tod und die Trauer sind fast allgegenwärtig, denn nach und nach versterben die Heimbewohner. Ihr Weg ist fast immer derselbe und auch Silva steht er bevor: Zunächst wird man in den Flügel für die Pflegefälle verlegt und schließlich auf den an diesen Flügel grenzenden Friedhof. Die Überlebenden versuchen nach jedem Todesfall, nicht gänzlich zu verbittern.
    Autor Valter Hugo Mãe, Jahrgang 1971, hat "Das Haus der glücklichen Alten" mit noch nicht einmal vierzig Jahren geschrieben. Es gelingt ihm meisterhaft, sich in Menschen hineinzuversetzen, denen die Umgebung täglich signalisiert, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Und denen nicht nur der Körper, sondern auch der Geist allmählich versagt. Letzteres spiegelt sich in Silvas innerem Monolog wieder: Des Öfteren kann der Leser nur erraten, ob sich Dinge tatsächlich oder nur in Silvas Geist zutragen. Silva weiß dies gelegentlich selbst nicht einmal. Streckenweise ist "Das Haus der glücklichen Alten" ein bedrückendes Buch, doch es vermittelt auch, dass Freundschaft im Alter noch an Bedeutung gewinnt.

    Valter Hugo Mãe: Das Haus der glücklichen Alten. Aus dem Portugiesischen von Ulrich Kunzmann und Klaus Laabs. Nagel & Kimche, München 2013, 303 Seiten, EUR 22,90.