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Das letzte Weihnachtsfest vor dem Jahr 2000

    Koczian: Die Mathematiker wissen es genau: Es gibt noch ein Weihnachten in diesem Jahrtausend. Die Leute sehen das anders. Sie haben zwei Kilo Festtagsbraten vor sich, wenn auf der Waage des Metzgers vorne die ‚2' erscheint. Auch die Kirche hielt es wohl mit den Leuten, denn der Mönch, der die Zeitrechnung von der Gründung Roms durch anno domini im Jahre des Herrn, post christum nach Christus, ablöste, ging von keinem Jahre null aus - wer will schon am Nullpunkt sein. Die Kirche hat einen langen Atem, auch wenn sie bisweilen kurzatmig reagiert. Am Telefon kann ich nun den Präses der EKD - der Evangelischen Kirche in Deutschland -, Manfred Kock, begrüßen. Guten Morgen, Herr Kock.

    Kock: Einen schönen guten Morgen Herr Koczian.

    Koczian: Das letzte Weihnachtsfest vor dem Jahr 2000: Muss man nicht doch aus historischem Blickwinkel feststellen, die Kirche befinde sich in kontinuierlichem Rückzug?

    Kock: Das wirkt aus der Perspektive der Bundesrepublik manchmal ein bißchen danach, weil wir Mitgliederschwund haben. Das hängt mit der Demographie zusammen, einige kehren uns den Rücken. Weltweit ist das überhaupt nicht der Fall.

    Koczian: Wo ist denn das Christentum heute in seinem Schwerpunkt zu finden?

    Kock: Interessanterweise in Lateinamerika und auch in einigen afrikanischen Ländern. Interessanterweise auch nicht in den Varianten, die man die traditionellen, die historischen Kirchen nennt, sondern in sehr spirituell wirkenden Bewegungen, sehr kompliziert, sehr verwirrend oft, aber jedenfalls: Es ist Geisterhaut. Es wird sich weiter verbreitern und es wird für diese Welt eine Bedeutung haben. Und auch in unserem Lande, in Deutschland, ist die Zahl nicht das Entscheidende, sondern es geht ja um die Inhalte. Es geht um das, was nötig ist. Wir leben in einer anderen Zeit, in der die Wertfragen immer komplizierter werden, auch angesichts der fehlenden Vorbildfähigkeit von Politik. Da fragen die Leute schon: Was ist für die Zukunft dran? Was muss sein, damit dieses Land und damit diese Welt existieren können? Und da ist der christliche Glaube kein Ladenhüter.

    Koczian: Nun hat man ja die Christianisierung als ‚Einführung des Mitleids' in die Gesellschaft gewertet. Das Mitleid ist inzwischen institutionalisiert: UNO-Hilfswerke, Rot-Kreuz-Gesellschaften, Sozialsysteme. War Kirche vielleicht hierzulande zu erfolgreich, um jetzt noch gefragt zu werden?

    Kock: Das klingt manchmal so, aber in dem Moment, wo etwas sich institutionalisiert, bedarf es immer wieder lebendiger Impulse. Die Verkündigung, die sonntäglich stattfindet - manchmal vor kleinen Zahlen -, ist gerade das, das alles lebendig hält. Ich glaube, dass wir nicht die Kultur der Barmherzigkeit entwickeln können, wenn wir sie alle verinstitutionalisieren.

    Koczian: Aber sind nicht wichtige Rituale dadurch verloren gegangen, zum Beispiel Brot brechen und teilen? Gibt es einen Verlust im Sakralen, ein Unverständnis gegenüber uraltem symbolhaften Handeln?

    Kock: Ja, da ist was dran. Ich glaube, dass wir dieses wieder zu lernen haben, dass Teilen nicht irgendwie eine mechanische Überweisung auf ein Konto ist oder irgendeine achtlos hineingeworfene Münze, sondern dass Teilen etwas zu tun hat mit einer leibhaftigen Erfahrung. Das Brot teilen findet in Gottesdiensten statt, und das ist eine Kraft, die bleibt als Mahnung - als Impuls für diese Welt - erhalten. Man sollte sie nicht geringschätzen.

    Koczian: Hat man sich vielleicht auch zu weit von der Märtyrerkirche entfernt? Viele Handlungen des Papstes sind ja nur nachvollziehbar, weil er aus einem Herrschafts-bereich kommt, in dem bis vor einem Jahrzehnt noch Christen verfolgt wurden.

    Kock: Das ist eine der nachdenklichsten Fragen, was in einer Situation in der Kirche akzeptiert ist und nicht weiter stört, in der es nichts kostet, ein Christ zu sein. Das - denke ich - ist schon wichtig. Aber wir haben natürlich viele Teile der Welt, wo das gar nicht so ist, wo Menschen durchaus etwas riskieren, wenn sie Christen sind. Nirgendwann als im letzten Jahrhundert hat es so viele Märtyrer gegeben. Hinzu kommt, dass ja das, was an Schicksalsschlägen den Einzelnen trifft - nicht nur in den Kriegskatastrophen - 35 Kriege haben wir zur Zeit in der weiten Welt -, sondern auch im persönlichen Leben, wenn einem ein Mensch wegstirbt, an dem man gehangen hat, oder wenn ein Kind behindert ist: Das empfinden Menschen durchaus schon als ein Martyrium, und da ist alles gefragt was an geistiger Stärkung da ist, um damit fertig zu werden.

    Koczian: Nur drei Jahrhunderte, nachdem das Christentum Reichsreligion geworden war, entstand die mächtige Konkurrenz im Islam. Der Osten und Süden des Imperiums ging zunächst an ihn verloren, später standen die Türken zweimal vor Wien. Heute gehören die Moscheen zum Alltagsbild. In Frankreich, in Belgien, aber auch in Deutschland finden sich zunehmend Andachtsstellen für Muslime. Ist das christliche Abendland offener geworden?

    Kock: Es ist keine christliche Monostruktur mehr festzustellen. Das hängt mit der Globalisierung unserer Welt zusammen. Das muss aber nicht falsch sein. Wir haben eine historische Zeit in Spanien gehabt, in der Christentum, Islam und Judentum eine gute Symbiose eingegangen sind. Es war ein befruchtender Impuls für die ganze damalige Welt. Warum soll das nicht im neuen Jahrhundert wieder möglich sein, dass aus den geistlichen Kräften der Religionen etwas Gemeinsames erwächst, was die Humanität des Menschen fördert?

    Koczian: Nun hat es nichts mit den Muslimen zu tun, wenn sich die christliche Gesellschaft selbst demontiert. Zum Beispiel denke ich an den merkwürdigen Handel ‚Buß- und Bettag gegen Pflegeversicherung'. Ist die Kirche da glatt überfahren worden?

    Kock: Damals ja. Das ist eines der - wie ich finde - traurigen Erfahrungen, die wir gemacht haben. Der Buß- und Bettag war in den Kirchen, vor allem in der Evangelischen Kirche auch, nicht besonders fest verankert, und man hatte den Politikerversprechungen getraut. Das ist nicht so eingetreten. Wir haben dann plötzlich das Phänomen gehabt, dass der Tag weg war - ehe wir so richtig wach geworden sind. Wir werden das bei dem Sonntag anders machen. Wir machen es schon anders, und ich glaube, das ist auch ganz erfolgreich.

    Koczian: Die letzten Tage vor dem Jahr 2000 beherrschte ein Thema die Schlagzeilen, das viel mit Gewissen zu tun hat: Die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter. Hätte nicht auch hier die Kirche mehr und früher treibende Kraft sein können?

    Kock: Nein, das können wir uns nicht als Vorwurf auch noch anhängen lassen. Wir haben schon 1986 auf einer Synode der EKD - aber dem gehen andere landeskirchliche Impulse voraus - angemahnt, dass hier eine Schuld abzutragen ist, dass wir hier etwas zu tun haben. Und das haben wir wiederholt auf Synoden angemahnt. Dass es dann so lange dauerte, hängt sicherlich mit dieser gewissen Penetranz zusammen, weil sich die Gesellschaft, auch die Firmen, sehr dagegen gesträubt haben. Nun ist es geschehen - spät, aber es ist wenigstens geschehen.

    Koczian: Rechtzeitig vor dem Wechsel zum Jahr 2000 tat sich Bedeutendes in Sachen Ökumene. Ich denke dabei an die Annäherung von Augsburg. Wie sollte es ökumenisch weitergehen?

    Kock: Wir brauchen wirklich große Kraft, miteinander das zu tun, was wir unter den jetzt ermöglichten Dingen können. Wir müssen die Ungeduld der Menschen in den Gemeinden wahrnehmen, damit wir in den Kirchenleitungen selbst entdecken, in welche Richtung unsere Kirchen gehen. Das ist nötig. Wir müssen herausfinden, wie wir mit dem Abendmahl - mit der Gemeinschaft des Heiligen Mahles - weiterkommen. Das ist nicht ganz so einfach. Wir werden das Amtsverständnis zu diskutieren haben, wir müssen über die repräsentative Funktion des Papstamtes miteinander diskutieren. All diese Fragen spielen sich auf einer Ebene ab, die nicht vergleichbar ist mit dem praktischen Miteinander in den einzelnen Gemeinden. Da gibt es viele mögliche Beispiele, die muss man fortsetzen und vertiefen.

    Koczian: Von Weihnachtsruhe kann bei Ihnen keine Rede sein. Sie müssen die Rheinische Synode im Januar in Bad Neuenahr vorbereiten. Was wird sich da in den Vordergrund stellen? Es gibt ja das Sprichwort: ‚Wer den Zeitgeist heiratet, ist bald verwitwet', und die Evangelischen stehen so in dem Ruf, gerne dem Zeitgeist nachzuhängen.

    Kock: Na, ich weiß nicht, ob das ein Zeitgeist ist. Wir haben als Impuls aus einer Kreissynode vor etlichen Jahren das Nachdenken über die Situation der Gewalt, vor allem der Gewalt gegen Frauen. Wir werden uns zum ersten Mal auf dieser Synode ausführlich damit auseinandersetzen und klären, welche Impulse wir geben können, damit in den Familien, in den Gesellschaften, das Phänomen der Gewalt auch wahrgenommen, angemessen analysiert wird und Bedingungen entstehen, unter denen Gewalt abgebaut wird. Das halte ich nicht für eine Randfrage oder für eine säkularisierte Frage, sondern sie hängt mit dem Tiefsten zusammen. Wir wissen: Die erste Störung, die die Menschheit hat, ist eben der Mord des Bruders. Und das ist ein Phänomen, mit dem wir zwar zu tun haben und wo wir sicher auch keine paradiesischen Zustände in der Kirche entwickeln können, aber wir haben zu ermahnen und haben darauf hinzuweisen, dass diese Welt verändert werden muss. Das ist eine Krankheit in unserer Gesellschaft. Welch eine starke Form von Gewaltbereitschaft hier sich breitmacht in Schulen, und mit Kindern fängt es an, in den Familien werden Frauen, Kinder, Mädchen vergewaltigt usw. Das sind Phänomene, über deren tiefste Ursachen wir werden nachdenken müssen.

    Koczian: Wie lautet Ihr Weihnachtswunsch heute am 24. Dezember 1999?

    Kock: Nun, wahrscheinlich teile ich den mit vielen, vielen Menschen: Ein bißchen mehr Friede, ein bißchen mehr Ehrlichkeit und Offenheit, damit wir in der kalten Welt gewärmt sind.

    Koczian: Manfred Kock, Präses der EKD. Danke - und wir wünschen Ihnen ein schönes Weihnachtsfest, Herr Kock.

    Kock: Danke gleichfalls, Herr Koczian.