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Das Mädchen, das der Taliban die Stirn bot

Malala Yousafzai hat ihre Geschichte - ihren Einsatz für die Mädchenschulbildung, den erlittenen Anschlag der Taliban und den Verlust der Heimat - der britischen Journalistin Christina Lamb erzählt. Daraus ist eine bewegende Biografie entstanden, in der sie deutliche Kritik übt.

Von Astrid Prange | 04.11.2013
    "Ich wollte keine Rache, ich wollte einfach nur zurück ins Swat. Manche Menschen meinen, ich könne nicht mehr zurück in meine Heimat, doch ich glaube tief in meinem Herzen, dass ich zurückkehren werde. Einem Land entrissen zu werden, das man liebt, ist etwas, dass ich meinem ärgsten Feind nicht wünsche."

    Das waren die ersten Gedanken von Malala Yousafzai, als sie im Krankenhaus von Birmingham aus dem Koma erwachte. Ihre Heimat, das Swat-Tal in Pakistan, war Tausende von Kilometern entfernt. Die Taliban, die ihr nach dem Leben trachteten, ebenfalls. Malala Yousafzai, am 12. Juli 1997 in der pakistanischen Stadt Mingora geboren, hat viel durchgemacht. Und sie hat viel bewegt. Sie war das einzige Mädchen, das sich traute, die Gräueltaten der Taliban öffentlich anzuprangern. Sie schrieb ein Blog-Tagebuch für die BBC, gab Interviews für pakistanische und internationale Medien, und war Sprecherin des Kinderparlaments im Swat.

    Als die Taliban verfügten, dass vom 15. Januar 2009 an kein Mädchen mehr zur Schule gehen durfte, ließ sie sich an ihrem letzten Schultag von einem Kamerateam der "New York Times" begleiten. Nicht nur Malala erhielt deshalb Todesdrohungen, auch ihr Vater Ziauddin. Der Lehrer und Schulleiter unterstützte seine Tochter in ihrem Kampf für Mädchenbildung, nahm sie zu politischen Veranstaltungen und Interviewterminen mit. Auch Malalas Buch ist eine journalistische Ko-Produktion. Sie erzählte ihre Geschichte der britischen Journalistin Christina Lamb, die daraus eine bewegende Biografie machte. Malalas Geschichte ist eingebettet in die Geschichte Pakistans. Sie ist verknüpft mit einem Exkurs über die Tradition der Paschtunen, einem Stamm, dem auch Malalas Familie angehört. Und auch die Abgründe der pakistanischen Politik bleiben dem Leser nicht erspart. In dem Verwirrspiel zwischen Taliban, pakistanischer Armee, Regierung und Geheimdienst erscheint Malala als Heldin, die Kinderrechte verteidigt, ihrer Heimat und Familie verbunden ist, und als fromme Muslimin ihren Glauben lebt. Doch, was steckt hinter dem so oft gelobten Stolz der Paschtunen? Was sind das für Traditionen, die Menschen dazu bewegen, bei der Geburt eines Mädchens Müttern ihr Beileid auszusprechen? Bereits im Vorwort der Autobiografie wird klar: Malala lehnt diese Traditionen ab, auch wenn sie immer wieder das Gegenteil beteuert.

    "Ich bin sehr stolz darauf, eine Paschtunin zu sein. Doch manchmal habe ich Schwierigkeiten mit unserem Paschtunwali-Kodex."

    Welche Schwierigkeiten das sind, wird schnell klar. Denn immer wieder beschreibt Malala die Gräueltaten, die im Namen der Tradition begangen werden. So wurde eine Cousine im Alter von zehn Jahren an einen alten Mann verkauft. Mit dem Geld finanzierte die Familie die Ausbildung einer ihrer Söhne. Mädchen, die es wagen zu flirten, sind dem Tod geweiht – sie werden meist von der eigenen Familie vergiftet, um die sogenannte Ehre wiederherzustellen. Immer noch üblich sind auch die offiziell verbotenen Zwangsheiraten zur Aussöhnung von verfeindeten Stämmen, genannt "Swara". Doch auch in Malalas Familie gibt es kein Entkommen von der Tradition:

    "Wurden wir älter, wurde von uns Mädchen erwartet, für unsere Brüder und Väter zu kochen und sie zu bedienen. Während die Jungen frei in der Stadt herumstreifen durften, konnten meine Mutter und ich nicht ohne Begleitung eines männlichen Verwandten aus dem Haus, und wenn es ein fünfjähriger Junge war!"

    Malalas Kritik beschränkt sich nicht auf die traditionelle Unterdrückung von Mädchen und Frauen. Sie prangert auch die Missachtung der kleinen Leute und die gesellschaftliche Doppelmoral an.

    "Wir Paschtunen lieben zwar Schuhe, aber den Schuster lieben wir nicht; wir lieben unsere Schals und unsere Decken, aber wir haben keinen Respekt vor den Webern. Die Handwerker leisteten einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft, erhielten aber keine Anerkennung dafür. Und das ist der Grund, weshalb sich viele von ihnen den Taliban anschlossen: um einen gewissen Status und Macht zu erhalten."

    Auf einmal wird die Kehrseite der stolzen Paschtunenkultur sichtbar: Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Unterdrückung von Mädchen und Frauen sowie die Missachtung ganzer gesellschaftlicher Gruppen.

    "Ich hatte sehr früh beschlossen, nicht so zu leben. Im Koran steht nirgendwo, dass eine Frau von einem Mann abhängig sein soll. Der Himmel hat uns kein Wort darüber geschickt, dass jede Frau auf einen Mann zu hören hat."

    Klar ist damit auch, dass Malala bereits vor dem Mordanschlag der Taliban in ihrer Heimat keine Zukunft mehr hatte. Es ist verblüffend: Was sich zunächst als Anklageschrift gegen die Taliban liest, entpuppt sich nach und nach als Abrechnung mit der eigenen Kultur. Denn Malala Yousafzai und Christina Lamb schauen genauer hin. Es gelingt ihnen, den fruchtbaren Nährboden zu beschreiben, den der Paschtunwali-Kodex und auch die pakistanische Politik den Taliban bereiten. Diese Perspektive macht das Buch so lesenswert. Denn die Taliban stießen mit ihren antiamerikanischen Hasstiraden und ihrer Kritik an der pakistanischen Regierung offensichtlich auf Verständnis.

    Islamabad scheint die Gewalt im Swat-Tal, kalt zu lassen. Malala musste mit ansehen, wie sich ihr geliebtes Tal in ein Schlachtfeld verwandelte. Auf der einen Seite die Taliban, auf der anderen Seite die pakistanische Armee. Millionen Menschen flohen vor der Gewaltorgie. Ihren 12. Geburtstag feierte das Mädchen am 12. Juli 2009 als IDP, internally displaced person, als Flüchtling im eigenen Land. Mittlerweile lebt sie in Birmingham. Sie träumt von einer Rückkehr in ihre Heimat, von Bildung für alle und weltweitem Frieden. Doch das Buch zeigt, dass ihr Einsatz für Mädchenbildung vorerst an seine politischen Grenzen gestoßen ist. Und es zeigt auch, wie gespalten die pakistanische Gesellschaft ist. Malalas Bewertung schwankt dort zwischen "Ikone des Friedens" und "Hure des Westens". Malala ist dies wohl bewusst. Sie schreibt:

    "Obwohl ich nach meiner Rede vor der UN-Generalversammlung Unterstützungsbekundungen aus aller Welt bekam, blieb es in meinem Heimatland überwiegend still. Über Twitter und Facebook bekamen wir mit, dass meine eigenen pakistanischen Brüder und Schwestern gegen mich waren. Sie schrieben Dinge wie: ‚Jetzt hat sie endlich bekommen, was sie wollte: ein Luxusleben im Ausland‘."

    Größer kann Entfremdung nicht sein. Malala hat ihr Leben gerettet, doch ihre Heimat verloren.

    Malala Yousafzai/Christina Lamb: Ich bin Malala. Das Mädchen, das die Taliban erschießen wollten, weil es für das Recht auf Bildung kämpfen wollte.
    Droemer Verlag, 400 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-426-27629-7