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Das Massaker von Kilvenmani
Dem Hass der Opfer gerecht werden

Nach zwei Gedichtbänden hat die junge indische Lyrikerin Meena Kandasamy erstmals einen Roman veröffentlicht. In "Reis & Asche" schreibt sie über das historische Massaker an den unterdrückten Dalits, den "Unberührbaren", im südindischen Kilvenmani und kämpft dabei auch um eine angemessene literarische Form, um dem Hass der Opfer gerecht zu werden.

Von Michael Schmitt |
    Die indische Autorin, politische Aktivistin und Feministin Meena Kandasamy
    "Ich kandidiere nicht als Miss Angenehm", schreibt die indische Autorin, politische Aktivistin und Feministin Meena Kandasamy in ihrem Roman "Reis & Asche". (privat)
    "Ich denke nicht, dass meine Literatur hauptsächlich um der Literatur willen entsteht", hat die junge indische Lyrikerin, Übersetzerin und Romanautorin Meena Kandasamy vor zwei Jahren in einem Interview erklärt. Ihre Gedichte und ihr erster Roman stellen die Kunst ohne Umschweife in den Dienst der indischen Frauenbewegung oder in den des Kampfes für die Dalit, für die "Unberührbaren", die durch das hinduistische Kastenwesen traditionell als "unrein" ausgegrenzt und ungeachtet der in der Verfassung seit 1949 garantierten Gleichheit bis heute diskriminiert werden.
    Meena Kandasamy stammt aus einer Akademiker-Familie, die zur Volksgruppe der Tamilen gehört; aufgewachsen ist sie in dem Bundesstaat Tamil Nadu, wo Englisch und Tamil, nicht aber das Hindi der indischen Bevölkerungsmehrheit offizielle Amtssprachen sind. Sie hat tamilische Literatur ins Englische übersetzt, sie schreibt auf Englisch.
    Literatur geht nahtlose in politischen Aktivismus über
    Ihre Gedichte handeln von jungen Mädchen, die Opfer von Gruppenvergewaltigungen geworden sind oder sprechen für Tausende von Frauen, die, so wie sie selbst auch, Gewalt in der Ehe, Gewalt durch Männer erduldet haben. Literatur als ihre Möglichkeit sich auszudrücken geht nahtlos in politischen Aktivismus über, Engagement überlässt sie nicht allein den NGOs oder Demonstranten auf der Straße. Ihr literarisches Programm formuliert sie kurz, knapp und polemisch:
    "Tamilisch im Geschmack, englisch auf der Zunge, frei von Poesie und Prosodie, aufgetischt als prima Prosa. Vergeben Sie diesem Text den quälenden Hang zu Erklärungsversuchen und die Neigung, jeder Formulierung eine Meinung anzuhängen. Verstehen Sie bitte, dass Weitschweifigkeit zur Prosa gehört. Und verstehen Sie bitte auch, dass dieses Unterwertverkaufen klarer Beweis meiner Verpflichtung zu absoluter Selbstsabotage ist."
    Auf Youtube kann man Mitschnitte ihre Auftritte bei Lesungen oder in Talkrunden sehen. Sie ist Anfang dreißig, hat seit 2006 zunächst zwei Lyrikbände veröffentlicht, für die sie nicht nur Zuspruch, sondern auch harsche Kritik an ihren Themen oder an ihrer Verwendung des Englischen geerntet hat. Nun hat sie ihren ersten Roman veröffentlicht, "Reis & Asche".
    Er spielt im Jahr 1968 in Indien, in dem Dorf Kilvenmani in Tamil Nadu unter armen Landarbeitern. In einer verlorenen Ecke der Welt geraten die Ärmsten der Armen, die sich gegen die Ausbeutung durch die Großgrundbesitzer des Reiserzeugerverbandes wehren wollen, unter die Räder. Sie leiden unter einer Hungersnot, "über die niemand spricht". Ihre Tageslöhne bestehen in Reiszuteilungen – die Massbecher dafür sind jedoch nicht geeicht, was der Willkür Tür und Tor öffnet. Die Kämpfe um höhere Rationen enden in einem Massaker an der Bevölkerung, ausgeübt von gedungenen Killern der Reiserzeuger.
    Kandasamy will Einzelschicksale zum Thema machen
    Diese Vorfälle sind seinerzeit in der internationalen Presse durchaus kommentiert, dabei aber meist gleich politisch oder soziologisch gedeutet, also auf einer abstrakten Ebene verhandelt worden. Meena Kandasamy hingegen will Einzelschicksale zum Thema machen; zielt darüber hinaus aber auch auf eine Abrechnung mit dem hinduistischen Bürgertum, das zwar die Unabhängigkeit Indiens von den Engländern erkämpft, sich dann aber im selbstständigen Staat auch Privilegien gesichert hat.
    Der oft verherrlichte Mahatma Gandhi hat dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, da er die Dalit als "Kinder Gottes", als "Vishnu-Geborene", letztlich als unmündige, schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe bezeichnet hat. In "Reis & Asche" werden viele Kämpfe an vielen Fronten ausgefochten – nicht zuletzt im Ringen um eine angemessene literarische Form, die den vielen Facetten des Themas, vor allem dem Hass der Opfer gerecht werden könnte:
    "Trotz meiner Unzulänglichkeiten werde ich Sie nicht zwingen, einer linearen oder nicht-linearen Logik zu folgen, bei der sich der Hass entlang einer Gitterbrücke zieht und an einem vorherbestimmten Ort ankommt. Ich vermute, der Hass ist willkürlich, mit eigenem Kopf und rücksichtsloser Ungeduld, die ihn daran hindert, den eigenen Verlauf mit Flussdiagrammen zu erfassen. Selbst wenn wir stilistisch versuchen, die Textur jeder einzelnen Alt-Jungfer-Geschichte aufzufrischen, dürfen wir nicht vergessen, dass der Hass nicht immer dem Plot folgt. Er ist ehrgeizig, glaubt an unbegrenzte Möglichkeiten und vertraut Tangenten."
    Den Leser aufrütteln und verstören
    "Reis & Asche" soll keiner jener umfangreichen "Great Indian Novels" sein, die seit Jahrzehnten unter dem Label "the Empire writes back" weltweit lesbar von den Nachwirkungen kolonialer Traditionen erzählen, souverän, meist aus einer spürbaren historischen und geistigen Distanz. Meena Kandasamy ist jünger als die meisten der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, denen sie auf diesem Weg nicht folgen möchte.
    Was sie vor allem aber unterscheidet ist der Furor, mit dem sie zu Werke geht. Sie will aufrütteln und verstören und wird nicht müde, das in Interviews zu betonen – sie nähert sich einem geradezu archaischen Gemetzel zwar mit den Mitteln der Postmoderne, die alles zum Spiel erklären möchte, aber sie wendet diese Postmoderne gegen sich selbst, denunziert die Unverbindlichkeit einer sich über alles erhebenden Ironie, indem sie deren Mittel ins Bizarre übersteigert. Als wolle sie einem Thema Sarkasmus und bitteres Lachen abringen, an dem eigentlich überhaupt nichts zum Lachen ist.
    Diese Anstrengung merkt man dem Roman deutlich an – es ist eine Art von Überbietungsspirale, in die Meena Kandasamy sich hineinsteigert. Sie spielt mit der eigenen Rolle, ohne je einen Zweifel daran zu lassen, auf welcher Seite sie steht; sie mischt Fakten und Fiktion, Elemente der Chronik, Dokumente und Protokolle, sie baut einen Rahmen aus erzähl-theoretischen Taschenspielereien um einen reportage-artig inszenierten harten Kern aus Elend und Gewalt:
    "Meines Wissen geht es in einem Roman nicht um gute Manieren"
    "Es könnte sein, dass Sie viele Figuren, die Ihnen in diesem Kapitel begegnet sind, zum ersten und letzten Mal gesehen haben. Ich bin ultra-utilitaristisch, das gebe ich schuldbewusst zu, doch meines Wissens geht es in einem Roman nicht um gute Manieren. Nur weil es einen schlechten Eindruck macht, wenn man jemanden hinausbeordert, braucht man ihn nicht gleich bei sich übernachten zu lassen.
    Ich stoße die Figuren hier einfach von der Seite. Verschonen Sie mich mit Fragen nach der Autorenetikette und solchem Kram. Ich kandidiere nicht als Miss Angenehm und mit dem höflichen Benehmen habe ich in der zehnten Klasse aufgehört. Weil ich Gefallen daran gefunden habe, Sie mit metafiktiven Mitteln aufs Aggressivste fertigzumachen, kann ich Sie bereits fragen hören: Was ist aus den Spielregeln des Romans geworden? Sie hängen dort drüben auf meiner Wäscheleine."
    "Fräulein Militanz" lautet der Titel eines ihrer beiden Lyrik-Bände – auch der Titel einer Auswahl dieser Gedichte, die Raphael Urweider vor zwei Jahren ins Deutsche übertragen hat, heißt so. Dieser Selbstdarstellung wird der Roman nun ebenfalls gerecht. Der Titel der deutschen Übersetzung von Claudia Wenner, "Reis & Asche", bereitet den Leser allerdings nicht allzu genau auf das vor, was ihn erwartet.
    Die Lebens- und Glaubenswelt der Landarbeiter
    Die Originalausgabe ist unter dem Titel "The Gypsy Goddess", "Die Zigeunergöttin" erschienen und verdankt sich der Legende von einer grausamen, rächenden Göttin, die in einem indischen Dorf angebetet wird, um den willkürlichen Mord an sieben Zigeunerinnen und ihren Babys zu sühnen. Diese Göttin kann Geizhälse ruinieren, kann Vergewaltiger kastrieren und Männern, die ihre Frauen schlagen, kann sie Hörner wachsen lassen. Sie ist zu jeder Form der Rache fähig, kann aber meist durch Tieropfer, zuweilen sogar durch eine Opfergabe von nur sechs Maß Reis zufriedengestellt werden.
    Diese spielerisch eingebaute mythische Überhöhung bindet die Geschichte zurück an die Lebens- und Glaubenswelt der Landarbeiter – die Motive verweisen detailgenau auf alles, was die Katastrophe von Kilvenmani bestimmen wird: Die sechs Maß Reis entsprechen der Forderung der Landarbeiter nach gerechtem Lohn, die Ermordung von Frauen und Kindern entspricht der Antwort der Reisproduzenten auf diese Forderung. Nur die Rache ist noch nicht erfolgt.
    In einem ausführlichen Interview mit Meena Kandasamy aus dem Jahr 2008, zwei Jahre nach dem Erscheinen ihres ersten Lyrik-Bandes, hat sie erklärt, sie scheue vor dem Schreiben eines Romans zurück, weil sie als Prosa-Autorin sehr viel subtiler würde arbeiten müssen als in ihren militanten Gedichten. Diese Zurückhaltung hat sie offenbar zwischenzeitlich abgelegt.
    "Die Historie ist eine Hure"
    Sie eröffnet den Roman "Reis & Asche" mit einer Petition des Reiserzeugerverbandes, der sich in schönster Untertänigkeit an den Ministerpräsidenten von Tamil Nadu wendet, und um Unterstützung im Kampf gegen die Forderungen der Landarbeiter bittet sowie um Hilfe im Kampf gegen die Kommunisten, die Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen organisieren. Die Reiserzeuger nehmen strikte Gewaltlosigkeit für sich selbst in Anspruch und erklären, es sei höchste Zeit, das Dogma des Kommunismus zu zerstören.
    Ihr Ton ist blumig, die Hoffnung wird ausgedrückt, "Gewalt und Blutvergießen" könnten verhindert werden. Die organisierte Gegenseite, die Kommunisten, kommen im Verlauf dann ebenfalls ausführlich zu Wort und erzählen eine andere Version der gleichen Geschichten. Die Historie aber ist eine Hure und lässt sich in den Dienst von allem und jedem stellen, heißt es später einmal im Roman.
    Der offensichtlichen Heuchelei der Großgrundbesitzer korrespondiert im Verlauf der Ereignisse eine Schwäche der Kommunisten, die sich gerade aus ihren Erfolgen herleitet: Die Partei, deren einzelne Aktivisten mit den Arbeitern gemeinsam marschieren – und in einem Fall auch ermordet werden -, agiert als parlamentarische Kraft, als Teil des indischen Establishments relativ zahnlos, als es darum geht, die vorgefallenen Ungerechtigkeiten aufzuklären und zu verfolgen.
    Wie soll ein Roman gegen die lange Tradition des Schweigens antreten?
    Verfahrensweise und Untersuchungen treten an die Stelle von Engagement, zugespitzt formuliert lässt die Partei ihre Arbeiter gerade in dem Moment im Stich, als die reihenweise ermordet und die Überlebenden ins Gefängnis gesteckt werden. Wie soll ein Roman gegen eine solche lange Tradition des Schweigens oder offenen Lügens antreten?
    "Sollen wir zu dem winzigen Dorf gehen und uns seine Geschichte anhören? Oder sollen wir lieber hier bleiben und stattdessen Geschichte studieren? Sollen wir ein großes Wort verwenden, das für Aufregung sorgt? Sklaverei. Bei den Weißen nährt es Schuldgefühle und den Braunen nimmt es die Möglichkeit, stolz darauf zu sein, dass man sie besser behandelt als die Schwarzen.
    Disziplinierte Romane sind tot, und brave werden verrissen, man gebe mir also die Gelegenheit, dieses Thema mit einem vornehmen Euphemismus anzuschneiden: der Emigration. Im zwölften Jahrhundert konnte ein Sklave in Tanjore einen Preis nennen und sich selbst verkaufen. Diese Praxis hat nicht ausgedient. (...) Männer, die zum 'Coolie Export Depot' im Hafen von Nagapattinam kamen, sah kaum jemand wieder – wie Tote, die in ihren Gräbern verschwanden."
    "Ländlicher Wandel in Südostasien" könnte ein wissenschaftlicher Arbeitstitel für die Hintergründe des Gemetzels sein, schreibt Meena Kandasamy und auf diesem Abstraktionsgrad ließen sich die sozialen Gruppen dann auch gut hierarchisieren – von den Grundbesitzern über reiche, mittlere und arme Bauern bis hinunter zu den Erb-Leibeigenen, den Dauerschuldknechten, den angeworbenen Arbeitern und den Gelegenheitskulis.
    Aussagen der Betroffenen anstelle von Reflexion
    Das sind Begriffe und Gruppierungen, die auch in Geschichte und Geschichtsschreibung der westlichen Welt eine Rolle spielen und in Zeiten einer neuen Sklaverei vielleicht auch schon wieder eine Rolle spielen. Im Roman aber sollen Personen greifbar werden – die Geschichten aus dem Dorf sollen wenigstens einmal gehört werden: die Wortmeldungen der Landarbeiter, die Frauen, die ihren Männern raten, sich hinter die Partei zu stellen und weiter für ihre Rechte zu kämpfen, die Killertrupps, die angeheuert werden, um die Protestierenden einzuschüchtern – bewaffnete Männer, die noch nicht einmal wirklich wissen, gegen welches Dorf und gegen wen genau sie eingesetzt werden. An die Stelle der Reflexion treten die Aussagen der Betroffenen:
    "Und dann verriegelt der Mob draußen die Hütte zum letzten Mal und auf immer und die sich dort drängenden Toten und Sterbenden und lebenden Toten werden dem Feuer eines gnadenlos wütenden menschenfressenden Gottes überlassen der fordert dass sich alle dem Leiden beugen und im Nu ist das Klagen und Heulen sechs Dörfer weit zu hören doch sind die Schreie vergeblich und binnen Minuten hüllt der schwarze Rauch sie ein und sie können nicht länger um Hilfe rufen weil ihre Stimmbänder versengt und geschlossen sind und selbst das Einatmen plötzlich weh tut und nun breitet sich das Feuer zärtlich und vertraulich aus die alten Männer und Frauen und Kinder berühren mit Blasen bedeckt ihr größtes Trauma auf ihren Armen erscheinen die einst eintätowierten Namen ihrer Lieben aber während sie weiter brennen und schon fast tot sind beginnt ihr Blut zu brodeln und aus jeder Pore zu sickern und wenn das Blut mit aller Gewalt eilig an die frische Luft drängt platzt manchmal die Haut und dann beginnt das Blut braun und schließlich schwarz zu werden."
    Rückhaltlose, unmissverständliche Drastik statt postmoderner Sarkasmen
    Sie berichten ohne Punkt und Komma, und so tritt im dritten Teil des Romans, unter dem Titel "Schlachtfeld", rückhaltlose, unmissverständliche Drastik an die Stelle postmoderner Sarkasmen. Meena Kandasamy spricht nicht mehr von ihrem Versuch, das Thema in den Griff zu bekommen, sondern überlässt den Opfern das Wort, die sich den Gewehrläufen gegenübersehen - und schlimmer noch: einer Kooperation von Polizei und Gewalttätern, die ihnen klar macht, dass sie auf keinerlei Schutz hoffen dürfen. Der Tod trifft nicht die erwachsenen Männer, die ihren Arbeitskampf fortsetzen, sondern es trifft die Frauen, Kinder und Greise, die in den Hütten des Dorfes zurückgeblieben sind. Die hilflosen Landarbeiter müssen zuschauen, wie vierundvierzig Menschen sterben, wie ihre Familien verbrennen:
    "Als sie näher kam, rannten immer mehr von unseren Leuten vor Angst davon, diese Männer mit ihren Flinten zu sehen war Furcht erregend, und in dem Augenblick bogen drei große schwarze Polizeiwagen um die Ecke und wir hatten das Gefühl, jetzt ist die Polizei da, wir schöpften Hoffnung, weil unsere Retter gekommen waren, und rannten hilfesuchend zu den Wagen, doch Gopalakrishna Naidu und seine Handlanger stiegen aus den Wagen und Anhängern (...), wir waren entsetzt, man hatte uns zum Narren gehalten, sie platzten mit einer Salve von Kommandos heraus: Packt sie! Schlagt zu! Verprügelt Sie!, wir schrien, wir rannten um unser Leben, wir rannten durch die Kanäle und Teiche (...), wir rannten ohne Atem zu holen, wir mussten uns retten, wir liefen auf die Reisfelder und versteckten uns dort und taten keinen Mucks, als seien wir mausetot, wir sahen, wie sie unsere Häuser anzündeten, wir sahen mit an, wie unser Dorf lichterloh brannte, wir hörten pausenlos Schreie und wussten, dass die furchtbarsten Dinge geschahen, aber wissen Sie, wir konnten ja nicht zurück, das wäre sinnlos gewesen, bloßes Draufgängertum, wenn Sie dabei gewesen wären, hätten Sie sich auch so entschieden, wenn wir nämlich zurückgegangen wären, hätten sie uns erschossen und wir konnten die Felder nicht verlassen, weil unsere Schatten uns verraten hätten, wir lagen auf der Lauer und irgendwann in der Nacht kam wieder die Polizei, verschwand aber wieder, als sei nichts gewesen."
    Vollständige Abwesenheit von Gerechtigkeit
    Es ist die vollständige Abwesenheit jeder denkbaren Form von Gerechtigkeit oder Gerechtigkeitssinn, die das Geschehen für die Beteiligten wie für die Schriftstellerin unfassbar macht. Die Männer des Dorfes werden vor Gericht gestellt werden, und niemand weiß warum, denn was haben sie schon verbrochen? Die Familien der Opfer bekommen noch nicht einmal die Leichen der Getöteten zurück, um sie bestatten zu können.
    Was sind Begriffe wie "Recht" oder eine Rote Fahne der Kommunisten dann aber noch wert, wenn die Machthaber und die Exekutive in Tamil Nadu die eigenen Landarbeiter niedermetzeln lässt? Gleichheit vor dem Gesetz, wie in der Verfassung bestimmt, Gleichheit der Menschen untereinander – das alles ist das Papier nicht wert, auf dem es 1947/8 niedergeschrieben worden ist.
    "Weil die Zukunft an die Vergangenheit gebunden war, hörten wir unsere Geschichte immer und immer wieder. Ganz gleich wo wir anfingen, am Ende hörten wir diese Geschichte. An manchen Tagen ging es um den Fluch des Kapitalismus, an manchen um die Geißel des Feudalismus, der mit aller Macht bekämpft werden müsse.
    Manchmal ging es um das Kastenwesen, jedoch nur am Rande, an den Flügelspitzen, wo das Thema leicht abgetan werden konnte, bevor wir uns alle in die Lüfte erheben konnten. Man erzählte uns von den steuerfreien Ländereien, mit denen die Könige dieser Gegend die Brahmanen überhäuften. (…) Da es den Brahmanen in ihren heiligen Büchern verboten war, einen Pflug zu verwenden, und da sie fanden, alle körperliche Arbeit sei abscheulich und entwürdigend und nur etwas für die niederen Kasten, vermieteten sie ihr Land weiter.
    Und da alles, was für Brahmanen als geziemend galt, sich auch für alle ziemte, die sich überlegen fühlen wollten, und für alle, die andere beherrschen wollten, begannen die Land besitzenden Naidus und die Land besitzenden anderen Kasten, alle körperliche Arbeit ebenfalls zu meiden. Man sagte uns, diese Abneigung gegen körperliche Arbeit sei besonders charakteristisch für das Verhalten der herrschenden Klasse. Man sagte uns, Marx habe darüber geschrieben."
    Kampf gegen die Unterdrückung der Dalit
    Aber die Werke von Karl Marx sind in dieser Welt so tot wie die Idee von Freiheit und Gerechtigkeit. Am Ende des Romans resümiert eine alte Frau, dass alle, die Glück gehabt hätten, die Schusswunden oder Prügel erhalten hätten, ebenso die niederen Ränge der Parteimitglieder, denn ihr Schmerz und ihre Wut würden sie erden, würden sie am Leben halten. Moderne Traumaforscher könnten dieser schlichten Lebensweisheit vermutlich zustimmen – jeder offener Umgang mit Erinnerungen ist besser als verdrängtes Unglück, zumal wenn es dabei um ein kollektives Verdrängen geht.
    "Es ist erledigt" kann daher der vorletzte Satz des Romans lauten, nachdem die Ereignisse in Sprache gefasst worden sind, zumindest soweit es die Vorfälle von 1968 betrifft. In der gesellschaftlichen Gegenwart von Tamil Nadu aber ist noch nichts zu einem guten Ende gebracht. Vor etwas mehr als zehn Jahren wurde Meena Kandasmy in ihrer Heimat vor Gericht gestellt, weil sie in der Anmerkung zu einer ihrer Übersetzungen erwähnt hatte, dass zwei der vielen tamilischen Gottheiten möglicherweise einer Dalit-Überlieferungen entstammen.
    Und befragt, was man aus den Ereignissen in Kilvenmany für die Gegenwart entnehmen könne, antwortet sie im Interview bloß: Man müsse noch viel lernen, um die Unterdrückung der Dalit irgendwann erfolgreich bekämpfen zu können. Und das, obwohl schon 1997 mit Kocheril Raman Narayanan erstmals ein Dalit zum indischen Staatspräsidenten gewählt werden konnte.

    Meena Kandasamy: "Reis und Asche"
    Aus dem Englischen und mit einem Glossar von Claudia Wenner.
    Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, April 2016, 224 Seiten.