Tausend Kadetten in weißen Uniformjacken singen die chilenische Nationalhymne im Auditorium der Militärakademie – Auftakt zu einer Dichterlesung. Anderntags wird sie als "historische Begegnung" in der Presse gefeiert. Kulturelle Veranstaltungen hat es zwar an diesem Ort schon öfter gegeben, aber keine wie diese.
Auf der Bühne haben vier namhafte Poeten Platz genommen: Chilenen, die von Militärs während der Diktatur verfolgt, zum Teil gefoltert und aus dem Land getrieben wurden. Allerdings ist davon nichts dem Faltblatt zu entnehmen, das jeder Kadett erhalten hat und das Auskunft über diese vier Dichter gibt. Und den Wenigsten von ihnen dürfte bewußt sein, dass vor 32 Jahren auf derselben Bühne General Pinochet seine Machtergreifung verkündete.
"Die Streitkräfte haben mit dem heutigen Tag die Aufsicht über alle vaterländischen Institutionen übernommen, um das Land aus dem Chaos zu befreien, das die marxistische Regierung von Salvador Allende verbreitet hat" - so der von seinen Junta-Kollegen umgebene Pinochet. "
"Die Welt miteinander teilen" – das war das Motto des Festivals Chile-Poesía, in dessen Rahmen diese Begegnung von zwei so verschiedenartigen Welten stattfand.
Da steht auf der Bühne Leonel Lienlaf, der berühmteste Dichter vom Indio-Volk der Mapuche, und trägt zunächst in seiner Sprache, dem Mapudungun, ein Gedicht über die lange Unterdrückung der chilenischen Ureinwohner vor. Und selbst den Kadetten im Saal dürfte klar sein, dass für dieses dunkle Kapitel der Geschichte des Landes das Militär verantwortlich war.
Wie für jene andere Kapitel, die Pinochet-Diktatur, die Raúl Zúrita in seinem Lied an eine verschwundene Liebe beschreibt. Am Schluss überreicht Kommandant Hernández, der Chefideologe, den vier einst verfolgten Poeten eine Medaille der Erinnerung an ihren denkwürdigen Auftritt in der Militärakademie. War dies für die Armee nicht eine befremdliche Begegnung, Kommandant?
"Es war für uns äußerst interessant, vier herausragende Poeten in dieser Aula Magna auftreten zu lassen, denn sie haben vorzüglich dazu beigetragen, das Kulturgut unserer Schüler zu bereichern. Noch dazu durch Poesie in dieser Qualität – das war für die Absolventen der Militärakademie und der Akademie für Unteroffiziere, der Basis des Berufspersonals unserer Armee, von großem Nutzen … So weit ich mich erinnere, war dies der erste Akt dieser Art in unserer Aula Magna."
Dieser Art schon, aber früher fanden hier schon des Öfteren kulturelle Begegnungen mit Zivilisten statt. Dafür hatte die Verteidigungsministerin Michelle Bachelet gesorgt, denn sie sah es als ihre Aufgabe an, das chilenische Militär wieder in die chilenische Gesellschaft zu integrieren. José Weinstein, bis vor kurzem Kulturminister, sah darin auch die Bedeutung dieses Abends.
" Das ist eine Möglichkeit von besonderem Ausmaß für die Streitkräfte, sich mit dieser Veranstaltung dem Dialog zu öffen und dabei ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen, sich in wachsendem Maße der Kultur zu öffnen. Die neue Regierung wird unser Programm weiterentwickeln, das künstlerische Aktivitäten auch an entlegene Orte Chiles bringt und zwar mit Unterstützung der Streitkräfte. "
Das Militär als Förderer der Kultur – das ist eine ganz neue Rolle, an die sich beide gewöhnen müssen: die Streitkräfte und die Gesellschaft. Denn die meisten Chilenen erinnern sich noch allzu gut daran, wie Soldaten im September 1973 durch die Straßen Santiagos zogen, Kulturzentren und Galerien zertrümmerten, das Haus des todkranken Nobelpreisträgers Pablo Neruda verwüsteten, Bücher, Bilder und Filme auf offener Straße verbrannten und das Nationalstadion in ein Konzentrationslager verwandelten. Hier zerschlugen sie Victor Jara, Chiles berühmtestem Sänger, die Hände und ermordeten ihn – so wie viele andere Chilenen, weit mehr als 3.000. Das alles ist nicht vergessen und noch längst nicht gesühnt. Doch in der Zeit der Regierung Lagos hat ein grundlegender Wandel im Bewusstsein der Streitkräfte stattgefunden. Arturo Fontaine, Politologe und Direktor des CEP, des 'Zentrums für öffentliche Studien’:
" Die breite Diskussion, die es hier in den letzten drei, vier Jahren gegeben hat, drehte sich um die künftige Rolle des Militärs und seine Haltung gegenüber der jüngsten Geschichte: Wie vermag die Armee den jungen Leuten ihre Beteiligung an der Vergangenheit und ihre Beziehung zur Demokratie verständlich zu machen?
"
Diese Diskussion kam erst ein gutes Jahrzehnt nach dem Ende der Diktatur zustande. Präsident Lagos hatte mit Michelle Bachelet zum ersten Mal eine Frau als Verteidigungsministerin berufen. Und an der Spitze der Streitkräfte war ein Generationswechsel eingetreten: Emilio Cheyre war zum neuen Oberkommandierenden der Armee ernannt worden, ein Militär, der an der staatlichen Universität in Santiago und in London Politologie studiert hat. Es kam zu einschneidenden Veränderungen:
"Die Streitkräfte haben anerkannt" – so Arturo Fontaine – "dass die verschwundenen Toten von der Armee ermordet, verscharrt, wieder ausgegraben, ins Meer geworfen wurden. Sie erkannten weiter an, gefoltert zu haben und zwar nicht als Einzelne oder Verrückte, sondern systematisch und methodisch. Der Putsch wurde noch nur als ein historischer Vorgang, nicht aber als ein institutioneller Akt begriffen, der ein neues Chile begründet hat. Und endlich wurde die Verfassung geändert: die Oberkommandierenden wurden der zivilen Macht unterstellt, wie es in jeder Demokratie üblich ist."
Das heißt: die Chefs der drei Waffengattungen werden wieder vom Präsidenten ernannt und können auch nur von ihm und zwar jederzeit entlassen werden. Nicht allen Militärs und schon gar nicht der extremen Rechten gefällt diese weitere Demokratisierung Chiles. Aber sie ist nicht aufzuhalten: die Reformer sind stärker und wollen beweisen, dass diese Streitkräfte kein Fremdkörper, sondern Teil der Gesellschaft sind, in der es noch viel aufzuarbeiten gilt. Selbst Poesie kann dazu beitragen.
Auf der Bühne haben vier namhafte Poeten Platz genommen: Chilenen, die von Militärs während der Diktatur verfolgt, zum Teil gefoltert und aus dem Land getrieben wurden. Allerdings ist davon nichts dem Faltblatt zu entnehmen, das jeder Kadett erhalten hat und das Auskunft über diese vier Dichter gibt. Und den Wenigsten von ihnen dürfte bewußt sein, dass vor 32 Jahren auf derselben Bühne General Pinochet seine Machtergreifung verkündete.
"Die Streitkräfte haben mit dem heutigen Tag die Aufsicht über alle vaterländischen Institutionen übernommen, um das Land aus dem Chaos zu befreien, das die marxistische Regierung von Salvador Allende verbreitet hat" - so der von seinen Junta-Kollegen umgebene Pinochet. "
"Die Welt miteinander teilen" – das war das Motto des Festivals Chile-Poesía, in dessen Rahmen diese Begegnung von zwei so verschiedenartigen Welten stattfand.
Da steht auf der Bühne Leonel Lienlaf, der berühmteste Dichter vom Indio-Volk der Mapuche, und trägt zunächst in seiner Sprache, dem Mapudungun, ein Gedicht über die lange Unterdrückung der chilenischen Ureinwohner vor. Und selbst den Kadetten im Saal dürfte klar sein, dass für dieses dunkle Kapitel der Geschichte des Landes das Militär verantwortlich war.
Wie für jene andere Kapitel, die Pinochet-Diktatur, die Raúl Zúrita in seinem Lied an eine verschwundene Liebe beschreibt. Am Schluss überreicht Kommandant Hernández, der Chefideologe, den vier einst verfolgten Poeten eine Medaille der Erinnerung an ihren denkwürdigen Auftritt in der Militärakademie. War dies für die Armee nicht eine befremdliche Begegnung, Kommandant?
"Es war für uns äußerst interessant, vier herausragende Poeten in dieser Aula Magna auftreten zu lassen, denn sie haben vorzüglich dazu beigetragen, das Kulturgut unserer Schüler zu bereichern. Noch dazu durch Poesie in dieser Qualität – das war für die Absolventen der Militärakademie und der Akademie für Unteroffiziere, der Basis des Berufspersonals unserer Armee, von großem Nutzen … So weit ich mich erinnere, war dies der erste Akt dieser Art in unserer Aula Magna."
Dieser Art schon, aber früher fanden hier schon des Öfteren kulturelle Begegnungen mit Zivilisten statt. Dafür hatte die Verteidigungsministerin Michelle Bachelet gesorgt, denn sie sah es als ihre Aufgabe an, das chilenische Militär wieder in die chilenische Gesellschaft zu integrieren. José Weinstein, bis vor kurzem Kulturminister, sah darin auch die Bedeutung dieses Abends.
" Das ist eine Möglichkeit von besonderem Ausmaß für die Streitkräfte, sich mit dieser Veranstaltung dem Dialog zu öffen und dabei ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen, sich in wachsendem Maße der Kultur zu öffnen. Die neue Regierung wird unser Programm weiterentwickeln, das künstlerische Aktivitäten auch an entlegene Orte Chiles bringt und zwar mit Unterstützung der Streitkräfte. "
Das Militär als Förderer der Kultur – das ist eine ganz neue Rolle, an die sich beide gewöhnen müssen: die Streitkräfte und die Gesellschaft. Denn die meisten Chilenen erinnern sich noch allzu gut daran, wie Soldaten im September 1973 durch die Straßen Santiagos zogen, Kulturzentren und Galerien zertrümmerten, das Haus des todkranken Nobelpreisträgers Pablo Neruda verwüsteten, Bücher, Bilder und Filme auf offener Straße verbrannten und das Nationalstadion in ein Konzentrationslager verwandelten. Hier zerschlugen sie Victor Jara, Chiles berühmtestem Sänger, die Hände und ermordeten ihn – so wie viele andere Chilenen, weit mehr als 3.000. Das alles ist nicht vergessen und noch längst nicht gesühnt. Doch in der Zeit der Regierung Lagos hat ein grundlegender Wandel im Bewusstsein der Streitkräfte stattgefunden. Arturo Fontaine, Politologe und Direktor des CEP, des 'Zentrums für öffentliche Studien’:
" Die breite Diskussion, die es hier in den letzten drei, vier Jahren gegeben hat, drehte sich um die künftige Rolle des Militärs und seine Haltung gegenüber der jüngsten Geschichte: Wie vermag die Armee den jungen Leuten ihre Beteiligung an der Vergangenheit und ihre Beziehung zur Demokratie verständlich zu machen?
"
Diese Diskussion kam erst ein gutes Jahrzehnt nach dem Ende der Diktatur zustande. Präsident Lagos hatte mit Michelle Bachelet zum ersten Mal eine Frau als Verteidigungsministerin berufen. Und an der Spitze der Streitkräfte war ein Generationswechsel eingetreten: Emilio Cheyre war zum neuen Oberkommandierenden der Armee ernannt worden, ein Militär, der an der staatlichen Universität in Santiago und in London Politologie studiert hat. Es kam zu einschneidenden Veränderungen:
"Die Streitkräfte haben anerkannt" – so Arturo Fontaine – "dass die verschwundenen Toten von der Armee ermordet, verscharrt, wieder ausgegraben, ins Meer geworfen wurden. Sie erkannten weiter an, gefoltert zu haben und zwar nicht als Einzelne oder Verrückte, sondern systematisch und methodisch. Der Putsch wurde noch nur als ein historischer Vorgang, nicht aber als ein institutioneller Akt begriffen, der ein neues Chile begründet hat. Und endlich wurde die Verfassung geändert: die Oberkommandierenden wurden der zivilen Macht unterstellt, wie es in jeder Demokratie üblich ist."
Das heißt: die Chefs der drei Waffengattungen werden wieder vom Präsidenten ernannt und können auch nur von ihm und zwar jederzeit entlassen werden. Nicht allen Militärs und schon gar nicht der extremen Rechten gefällt diese weitere Demokratisierung Chiles. Aber sie ist nicht aufzuhalten: die Reformer sind stärker und wollen beweisen, dass diese Streitkräfte kein Fremdkörper, sondern Teil der Gesellschaft sind, in der es noch viel aufzuarbeiten gilt. Selbst Poesie kann dazu beitragen.