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Das Nachleben des Roberto Bolaño

Ihm gelang der steilste denkbare Aufstieg ins literarische Hochgebirge. Doch als Roberto Bolaño nach seinem Roman "2666" als Begründer eines neuen Erzählens gefeiert wurde, war er bereits seit fünf Jahren tot. Postum ist nun sein unvollendet gebliebener Roman "Die Nöte des wahren Polizisten" erschienen.

Von Paul Ingendaay |
    Wer ihn in seinen besten Jahren sah, mochte an einen unbeugsamen Herumtreiber und Vagabunden denken, und in gewissem Sinne war er das auch. Roberto Bolaño, ein Dichter aus Chile, der nicht von seiner Dichtkunst leben konnte, ein Exilant in Mexiko und am Ende in Spanien, ein schmaler Mann mit riesiger runder Brille und im ewigen Wollpullover, unrasiert, mit wuscheligen Haaren und Zigarette im Mund, im Grunde nicht ganz präsentabel, doch von einem inneren Feuer beseelt, das jeder spürte, der sich mit ihm auf ein Gespräch einließ.

    Diesem Mann, und das ist der märchenhafte Teil an der Geschichte, gelang der steilste Aufstieg, den es in den sauerstoffärmeren Zonen des literarischen Hochgebirges seit Langem gegeben hat. Seine Romane "Die wilden Detektive" und "2666" – siebenhundert Seiten stark der eine, elfhundert der andere – gelten als Meilensteine des neuen Erzählens. Auch der Nobelpreis für diesen Autor wäre keine Überraschung gewesen – hätte nicht sein früher Tod 2003, im Alter von nur fünfzig Jahren, eine beispiellos kreative Karriere beendet. Und damit begann das Nachleben eines schon zu Lebzeiten legendären Phänomens. Inzwischen ist von einem "Bolaño-Kult" die Rede, als hätte die Literatur zu ihrer Erneuerung gerade eines solchen Vorbilds bedurft, eines Mitteldings aus Dichtermönch und Straßenköter.

    Sein erster deutscher Lektor und Übersetzer Heinrich von Berenberg erinnert sich daran, wie er auf einer langen Zugfahrt Mitte der neunziger Jahre mit wachsender Faszination Bolaños noch unübersetztes Buch "Die Naziliteratur in Amerika" las. Anders als dieser Erzählband, der eine Galerie kryptofaschistischer junger Dichter auf der Südhalbkugel schildert und für sie Poeme, Bücher und Lebensläufe erfindet, hatte der Mensch Bolaño offenbar nichts Dämonisches an sich:

    "Im Gegensatz zu den vielen Legenden, die über ihn im Umlauf waren – dass er mit Drogen gedealt hat, dass er die Gewalt verherrlicht hat und alles Mögliche, viele schwarze Legenden, die er immer gern mitgepflegt hat -, im Gegensatz dazu ist er für mich einer der liebenswürdigsten Freunde gewesen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Ich habe ihn mehrmals gesehen, und es war jedesmal wirklich ein großer Genuss."

    Dass es beim Schreiben um die ganze Existenz zu gehen habe, lenkte Bolaños Schritte von Anfang an. Geboren 1953 in einem Dorf im Süden Chiles, suchte der Junge sich seine Freunde unter Gleichgesinnten, die nicht leicht zu finden waren. Später, nach dem Umzug der Eltern nach Mexiko-Stadt, gründeten der junge Roberto und ein Kumpel eine lyrische Bewegung, schrieben Manifeste und machten in den frühen siebziger Jahren als Störenfriede des literarischen Establishments auf sich aufmerksam. Octavio Paz, Mexikos Universaldichter und späterer Nobelpreisträger, wurde zur geschmähten Figur der jungen Wilden. Systematischer Bücherklau in den Buchhandlungen der Hauptstadt gehört ebenso zu den wiederkehrenden Motiven in Bolaños Geschichten wie fröhlicher Sex und völlig losgelöstes Phantasieren über die einzig wahre Poetik.

    Denn Gedichte sind für ihn keine Verzierung des Alltags, sondern Mittel zur Welterkenntnis. Ohne Gedichte geht gar nichts. Es gehört zu den anrührenden Zügen von Bolaños Werk, dass es der Lyrik gerade wegen ihres Außenseitertums, ihrer Nichtkonformität den höchsten Platz unter den Künsten zuweist – und ihre kiffenden, ungewaschenen Adepten gleichsam unter den Schutz des Universums stellt. Immer wieder inszenieren Bolaños Bücher die Suche nach verschwundenen Dichtern und singen selbst in ihren düsteren Zonen das Hohelied auf die ästhetische Avantgarde. Später wird der Schriftsteller die Erwartungen an einen marktgängigen Intellektuellen immer wieder mit Lust unterlaufen.

    "Ich bin der Clown meiner Leser, wenn mir der Sinn danach steht", hat er gesagt, "aber nie der Clown der Mächtigen. Das klingt vielleicht ein wenig melodramatisch, so wie die Erklärungen einer ehrbaren Nutte. Aber so ist es."

    Die Bücher machen allerdings ebenso klar, dass Dichter mit sich selbst und anderen im Wettbewerb stehen – nicht im Wettbewerb um viel Geld, denn das war in Bolaños Leben immer knapp, sondern um einen Platz im Gedächtnis der Menschheit. Mit diesem Anspruch trat der junge Mann auf. Was zählte es schon, dass er sich in Barcelona eine Zeitlang als Nachtwächter auf einem Campingplatz durchschlagen musste? Als sein spanischer Verleger Jorge Herralde, der Leiter des feinen Anagrama-Verlags, zum ersten Mal ein Manuskript von ihm in der Hand hielt, ahnte er nicht, dass Bolaño es auch einem anderen Verlag angeboten hatte. Die Eile, das fieberhafte Schreiben an mehreren Projekten zugleich, gehörte zum Wasserzeichen seiner Kunst. Und damit auch der Ehrgeiz, in der kurzen Spanne, die ihm vergönnt war, ein möglichst riesiges Werk aufzuschichten.

    "Listen faszinierten ihn. Deshalb, unter anderem, mochte er Georges Perec. Er sagte: 'Ich will bei Anagrama einen Titel pro Jahr veröffentlichen, um im Ranking derer aufzutauchen, die mehr als zehn Bücher im Programm haben.' Seit fünfundzwanzig Jahren bringen wir alle fünf Jahre ein Büchlein über den Verlag heraus, und es beginnt mit besagter Rangliste. Und Bolaño wollte eben auch in diesem Ranking auftauchen, das Namen wie Vila-Matas, Enzensberger, Pitol und Pombo enthält. Das war eine seiner fixen Ideen."

    Nicht nur auf dem spanischen, auch auf dem deutschen Markt ist eine Unmenge von Bolaño-Titeln zu finden, darunter "Stern in der Ferne", "Chilenisches Nachtstück", "Lumpenroman", "Der unerträgliche Gaucho", "Exil im Niemandsland" oder der Erzählband "Telefonanrufe", mit dem in Spanien seine eigentliche Wirkungsgeschichte begann. Der wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg seines Schreibens machte für Bolaño keinen Unterschied. Solange er keine andere Wahl hatte, lebte er von der Hand in den Mund, reichte Erzählungen bei Literaturpreisen in der Provinz ein – nachzulesen in einer seiner besten Geschichten, "Sensini" – und diente seinem Werk.

    Das Pathos ist nicht zu hoch gegriffen. Bolaño schrieb nicht nur Literatur, er atmete, lebte und erlitt sie. Seine Gespräche, so bezeugen es Freunde, drehten sich fast immer um Literatur. Als Leser war er gefräßig, und spürte er bei einem Autor denselben heiligen Ernst, den auch er empfand, konnte er selbstlos und großzügig loben. Meistens galt sein Lob den Gescheiterten, wie er selbst lange einer gewesen war. Ignacio Echevarría:

    "Bolaño war ein Schriftsteller mit einem erzählerischen Projekt. Dieses Projekt war klar definiert und hatte eine bewusste Architektur. Und er stürzte sich voll hinein. Vermutlich hatte er durch seine Krankheit ein geschärftes Gefühl für die verrinnende Zeit und rechnete mit einem frühen Tod. Das dürfte ihn angetrieben haben, schneller zum Abschluss zu kommen."

    Sein Freund und Nachlassverwalter, der Kritiker Ignacio Echevarría, hat von Bolaños ansteckendem Humor, seiner unerschöpflichen Kommunikationslust erzählt – und von nächtlichen Telefonanrufen, bei denen er, Echevarría, nicht immer den Hörer abgenommen habe, weil er unter zwei Stunden nicht weggekommen wäre. Und doch fand Bolaños Kampf am Rand völliger Armut statt. Ob er einmal erwogen habe, sich umzubringen, wurde er in späteren Jahren gefragt. Seine Antwort: "Selbstverständlich. In bestimmten Situationen habe ich nur deshalb überlebt, weil ich wusste, wie ich mich umbringen würde, wenn alles noch schlimmer käme."

    Dann kam der Erfolg. Sein Roman "Die wilden Detektive" machte ihn 1998 in Spanien und Lateinamerika schlagartig berühmt, ein Werk zwischen Bildungsroman und mexikanischer road novel, das die so oft denunzierte Kopfliteratur wieder auf die Füße stellte: Geistesabenteuer mit der Betonung auf beiden Wörtern. Manche seiner Künstlerfiguren sind so entlegen, dass man beim Lesen nicht immer weiß, ob er sie erfunden hat oder nur einem vergessenen Dichter ein Denkmal setzen wollte. Ganz beiläufig wird das Werk dieses Ironikers, der Vexierspiel und Tragödie so sicher auszubalancieren versteht, zum Speicher vergessener Bücher. Einen Ehrenplatz reservierte er für junge Selbstmörder. Zwischen dem Moment, in dem spanische Kritiker hellhörig wurden, und Bolaños frühem Tod, weil er zu lange auf eine Spenderleber warten musste, liegen nur fünf Jahre. Ignacio Echevarría:

    "Es sind fünf Jahre, in denen der Ruhm für ihn spürbar wird, aber sie geben ihm keine Zeit, wirklich daran zu glauben. Der Ruhm gibt ihm allenfalls die Sicherheit, dass er nicht zur Legion der Verlorenen gehören wird. Bolaños Besessenheit arbeitet mit der zentralen Idee vom verlorenen Schriftsteller. Vor diesem Schicksal war er also gefeit. Er, der ein deutliches Bewusstsein seiner enormen Begabung hatte, empfand die späte Phase seines Lebens als Bestätigung seines Talents. Er fühlte sich darin bestärkt, dass er wirklich der große Schriftsteller war, für den er sich immer gehalten hatte."

    Als er im Sommer 2003 stirbt, hat er viele hundert unveröffentlichte Seiten im Computer, die Echevarría ordnet. Der postume Roman "2666", der eigentlich aus fünf separaten Büchern besteht, die auch in beliebiger Abfolge gelesen werden können, bildet das Gravitationszentrum des Spätwerks. In einem einzigen fetten Band erscheint es 2004 bei Anagrama und fegt wie ein Sturmwind über die literarische Szene.

    Das folgende Kapitel der Bolaño-Story spielt ein paar Jahre später, auf einem anderen Kontinent. In New York spricht sich herum, dass es einen außergewöhnlichen chilenischen Autor gebe, dessen Werk man unbedingt lesen müsse. Die Marketingmaschine, die einen toten Lateinamerikaner in den literarischen Olymp heben soll, wird angeworfen. Jemand hat Susan Sontag aktiviert, die sich für Bolaños Bücher einsetzt. Auch die Rocksängerin Patti Smith gibt ihre Bewunderung zu Protokoll. Der Name Bolaño macht die Runde. Vergleiche mit Borges werden gezogen, mit Kafka und dem Kino von David Lynch. Man kann förmlich beobachten, wie der Schneeball Fahrt aufnimmt und ins Tal rollt. Es ist die nordamerikanische Rezeption des Jahres 2008, die im Jahr darauf auch die Reaktionen deutscher Literaturkritiker lenkt: Bolaños längstes und schwierigstes Buch wird zu seinem bestverkauften Titel. Jetzt heißt es wieder, große Literatur müsse die Kraft zu Verstörung und Provokation haben. Genau das hat Bolaño geliefert.

    Natürlich sind die amerikanischen Intellektuellen nicht ganz unvorbereitet. Mit Thomas Pynchon, William Gaddis oder David Foster Wallace haben sie ihre eigenen kühnen Sprachkünstler und Apokalyptiker hervorgebracht, Schriftsteller, die dem Mainstream des arrivierten Romangeschäfts immer misstraut haben. So einer, das fühlt man, ist Bolaño auch. "2666" ist nicht nur von großem formalen Ehrgeiz, es fasst furchtlos die Hölle des amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiets ins Auge, beschreibt auf mehreren hundert Seiten die ermordeten Frauen von Santa Teresa, als gelte es, ihnen einen Grabstein in der Fiktion zu setzen: ein poetischer Gegenentwurf zu einer gestürzten Welt. Mehr, so empfindet man, kann ein Künstler nicht tun. Jorge Herralde:

    "Es war ja auch paradox: Ein Schriftsteller, der von Dichtern und Schriftstellern schrieb, die oft noch nicht einmal ein Werk vorzuweisen hatten. Und wie er es dann schafft, den Leser mit diesem eigentlich öden Thema zu packen, mit einer Kraft, einer Aufrichtigkeit, einer Poesie, die alles andere als sogenannte poetische Prosa ist: Man spürte dahinter jemanden, der schreiben musste, um das Beste aus sich herauszuholen, der neugierig war und vor nichts und niemandem kuschte. Er mochte Tapferkeit und Heroismus, und das ist es, was er selbst war: tapfer und heroisch."

    Als Bolaños Riesenroman in englischer Übersetzung die amerikanischen Bestsellerlisten emporklettert, ist sein Autor schon seit fünf Jahren tot, genauso lange, wie sein Ruhm zu Lebzeiten gewährt hat. Das Zeitalter der romantischen Vereinnahmung hat begonnen, a star is born, und der Zufall will es, dass der Kult einem rebellischen Autor mit oft kuriosen, eher eklektischen Vorlieben gilt, einem enfant terrible, dem es auch bei näherer Betrachtung immer nur um eines ging: das Glück zu schreiben. Wer ihn als Exilanten bemitleiden oder die Dritte-Welt-Karte spielen wollte, den traf Bolaños Ironie mit einer Breitseite noch vom Grabe aus. Heinrich von Berenberg:

    "Er hat ja immer mit großem Spott – daran kann ich mich erinnern - auf den Lesungen die Exilanten begrüßt, wenn sie kamen und gefragt haben: 'Señor Bolaño, was sagen Sie denn zur chilenischen Gegenwartsliteratur?' Dann hat er immer gesagt: 'Ist alles grottenschlecht, alles grauenhaft, alles miserabel.' Er hat die Leute gern vor den Kopf geschlagen. Trotzdem bleibt es, wie er in der Rómulo-Gallegos-Rede gesagt hat, dass sein ganzes Werk nichts anderes ist als ein Liebesbrief an seine Generation."
    In Barcelona fand gerade die erste Bolaño-Ausstellung statt, ein Rundgang durchs Labor seiner Notizbücher, Arbeitspläne, Gedichtseiten, Briefe und Fotografien. Und man staunt. Jede Zeile, jedes Tagebuchblatt zählt. Dieser Mann hat Literatur rigoros an die erste Stelle gesetzt, ohne Hintergedanken oder Absicherung.

    Und noch immer reißt die Kette der nachgelassenen Werke des Chilenen nicht ab – Bücher von zweifelhafter Textgestalt, nicht ganz zu Ende geschrieben, behaftet mit den Schmier- und Schmauchspuren der Werkstatt. Im vorliegenden Fall ist die Neuerscheinung aber von so herausragender sprachlicher Qualität, dass man sich als Bolaño-Leser gleich darüber hermachen will. Die Hauptfigur des jetzt erschienenen Romans "Die Nöte des wahren Polizisten", von Christian Hansen mit bewährter Klasse ins Deutsche gebracht, ist ja auch kein Unbekannter. Es ist Óscar Amalfitano, bekannt aus dem Roman "2666", ein fünfzigjähriger chilenischer Philosophieprofessor, der durch seine sexuellen Vorlieben ins Gerede kommt und sich gezwungen sieht, die Universität von Barcelona zu verlassen. Zusammen mit seiner siebzehnjährigen Tochter zieht Amalfitano nach Santa Teresa im Norden Mexikos, erlebt das akademische Provinzmilieu und wechselt Briefe mit einem Freund, der in Barcelona an Aids erkrankt ist. Die Atmosphäre dieses vom Wind zerzausten, gottverlassenen Santa Teresa ist grandios geschildert, mit der eigenartigen Mischung aus Kühle, Komik und Anteilnahme, für die Bolaño im Schriftstellerhimmel das Patent besitzt.

    Wie feine Goldfäden durchziehen poetologische Erörterungen den Roman, die von Homosexualität, Außenseitertum und Literatur handeln, einer Obsession in vielen Büchern Bolaños. Vor allem aber zeichnet der Autor in einer leidenschaftlichen Litanei einen politisch unerwünschten, gestrandeten, der Verzweiflung nahen Charakter, der versucht, gegen alle Anfeindungen seine Würde zu behaupten:

    […] der ich Proklamationen und offene Briefe linker Gruppen unterschrieb, der ich an den Wandel glaubte, an etwas, das dem ganzen Elend, der ganzen Verkommenheit ein Ende bereiten würde (noch in unschuldiger Unkenntnis darüber, was Elend und was Verkommenheit waren), der ich sentimental war und im Grunde nichts anderes wollte, als mit Edith Lieberman durch hellerleuchtete Straßen zu schlendern, auf und ab, ihre warme Hand in meiner spürend, erfüllt von unserer Liebe, während in unserem Rücken das Gewitter und der Orkan und die Erdbeben der Zukunft Anlauf nahmen, der ich Allendes Sturz vorausgesagt hatte und trotzdem nichts in dieser Hinsicht unternahm, der ich verhaftet und mit verbundenen Augen zum Verhör geführt wurde und die Folter ertrug, während Stärkere als ich einknickten, der ich die Schreie dreier Studentinnen vom Konservatorium hörte, die gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden […]

    Die Frage, ob man das Buch in dieser Form hätte veröffentlichen sollen, ist damit aber nicht hinfällig, denn Bolaño gab bekanntlich nur aus der Hand, was er für abgeschlossen hielt. Wenn es einmal so weit war, konnte ihn nichts mehr dazu bewegen, auch nur ein Komma zu ändern. Diese Selbstkontrolle des Autors unterläuft seine Witwe Carolina López, indem sie im Nachwort etwas zu eilfertig beteuert, die "vorgenommenen Änderungen und Korrekturen" seien "minimal und auf das Notwendigste beschränkt" gewesen. Warum dürfen wir dann nicht wissen, worin sie bestanden?

    Das Motiv für solche Manöver, so muss man befürchten, ist forsche kommerzielle Ausbeutung. Bolaños Witwe sicherte sich dafür die Hilfe des Literaturagenten Andrew Wylie, Branchenspitznamen: "der Hai". Man kann Carolina López kaum einen Vorwurf daraus machen, dass sie mit Bolaños Nachlass Geld verdienen will, denn in den harten frühen Jahren hat sie sich um die beiden Kinder gekümmert und dafür gesorgt, dass ihr Mann schreiben konnte. Schwerer wiegt da schon die andere Spaltung, die mit dem Wechsel zu Wylie einherging: Bolaños Freunde und Bekannte wurden herausgedrängt und haben mit künftigen Buchprojekten nichts mehr zu tun.

    Und was wären solche Projekte? Verstreute Prosatexte vielleicht. Pläne, Notizen, Vorstufen. Aber ganz bestimmt keine Autobiographie. "Die Einzigen, denen man gestatten sollte, ihre Memoiren zu schreiben", hat Bolaño einmal gesagt, "sind die blutdürstigen Abenteurer, Pornoschauspielerinnen, die großen Detektive, die Drogenhändler und die Bettler."

    Ein Bettler zu werden, wäre es nötig gewesen, hätte Bolaño auch noch in Kauf genommen. Pornoschauspieler … wissen wir nicht.

    Roberto Bolaño: Die Nöte des wahren Polizisten.
    Aus dem Spanischen von Christian Hansen.
    Hanser Verlag, 272 Seiten, 21,90 €.