Ensminger: Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt heute eine Woche nach seiner Wiederwahl im Bundestag sein Regierungsprogramm vor. Schwerpunkte, so heißt es, sollen die Reformen des Arbeitsmarktes und des Gesundheitsbereiches werden. Mit einer Radikalkur soll das Gesundheitswesen finanzielle auf gesunde Beine gestellt werden, war in den vergangenen Tagen zu hören. Eine große Gesundheitsreform soll es schon bald geben, so Ministerin Ulla Schmidt, und bis es soweit ist, wird ein Spargesetz vorgeschaltet, das bereits ab dem kommenden Jahr gelten soll. Derweil wird eine Kommission zur Vorbereitung der Strukturreform unter Federführung von Ministerin Schmidt vorbereitet. Klar ist, es muss gespart werden, und zwar mehr als die zunächst genannten 1,4 Milliarden Euro. Das gab dann gestern auch das Gesundheitsministerium zu. Am Telefon ist Horst Seehofer, stellvertretender Unionsfraktionsvorsitzender, zuständig für Gesundheit und Soziales. Schönen guten Morgen.
Seehofer: Guten Morgen.
Ensminger: Herr Seehofer, eine Kommission zur Beseitigung aller Differenzen, kann das klappen?
Seehofer: Ja, wenn sie so läuft wie die letzte Kommission von Frau Schmidt – Frau Schmidt hat ja schon zwei Jahre vor der Wahl eine Kommission ohne Ergebnis geleitet -, dann wird es nicht klappen. Ich denke, das Wichtigste was Frau Schmidt leisten muss und wo sie sich ja auch schrittweise drauf zubewegt, ist, sich einfach der Wahrheit zu stellen. Vor vier Wochen hat sie ja vor dem Wahltag noch die Situation geleugnet. Da sollten ja die Krankenkassen finanziell ein ausgeglichenes Ergebnis haben. Jetzt überrollen sie die Ereignisse und jetzt muss sie im Schnellverfahren handeln. Sie wird jetzt Opfer ihrer eigenen Unwahrheiten, die sie vor der Wahl verbreitet hat. Ich glaube nicht, dass Frau Schmidt eine wirkliche, strukturelle Reform unseres deutschen Gesundheitswesens schafft.
Ensminger: Aber ist es den Versuch nicht wert? Vielleicht geht es mit einer Kommission, an der alle Betroffenen beteiligt sind ja schneller?
Seehofer: Wissen Sie, wo leben wir eigentlich? Frau Schmidt hat jetzt zwei Jahre lang versucht, trainiert, ihre Lehrjahre abgelegt. Ohne jedes Ergebnis. Es gab runde Tische von allen Beteiligten im Gesundheitswesen. Ohne jedes Ergebnis. Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht solche Politik-Amateure leisten, die dann zwei und drei Versuche brauchen, bis sie mal zu einem richtigen Ergebnis kommen. Wissen Sie, in der Zwischenzeit laufen uns die Ausgaben im Gesundheitswesen davon, und was noch schlimmer ist, ist, dass die Versorgung kranker Menschen immer schlechter wird. Man kann doch nicht das Gesundheitswesen als Trainingsplatz benutzen.
Ensminger: Wobei die Qualität bei allen Sparmaßnahmen nicht leiden soll – das betont die Ministerin ja immer wieder.
Seehofer: Ja, wissen Sie, zwischen Vorsätzen und Realität liegen ja gelegentlich Lichtjahre dazwischen.
Ensminger: Das heißt, es geht auch auf Kosten der Patienten?
Seehofer: Wir haben jetzt in der Bundesrepublik schon ein gewaltiges Stück an Zwei-Klassen-Medizin. Ich habe es immer wieder in den letzten Monaten gesagt: Wir haben die eigenartige Entwicklung, dass die Menschen für die gesetzliche Krankenversicherung immer mehr zu zahlen haben, aber gleichzeitig immer mehr Leistungseinschränkungen erfolgen. Nicht einmal die Hälfte der chronisch Kranken bekommen heute in Deutschland noch eine Versorgung, die dem heutigen medizinischen Standard entspricht, und wir haben die ja geradezu bizarre Situation, dass ein Sozialhilfeempfänger medizinisch besser versorgt wird als ein gesetzlich Krankenversicherter.
Ensminger: Was würden Sie besser machen?
Seehofer: Wir brauchen zwei Dinge, weil das Gesundheitswesen von zwei Seiten her in der Zange ist: Auf der einen Seite brechen den Krankenkassen durch die schwache Konjunktur die Einnahmen weg. Das kann nicht die Frau Schmidt lösen. Das muss im Wirtschaftsministerium und durch die Tarifpartner gelöst werden. Also, eine andere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik mit dem Ziel: mehr Arbeitsplätze und mehr Beitragszahler. Und auf der Ausgabenseite der Krankenversicherung brauchen wir jetzt nicht kurzfristige, hektische Sparmaßnahmen, die dazu führen, dass man nach einigen Monaten wieder vor dem gleichen Problem auf höherem Niveau steht, sondern wir brauchen erstens einmal eine Transparenz im Gesundheitswesen. Die Versicherten brauchen eine Rechnung, aus der sich ergibt, was der Arzt geleistet und abgerechnet hat. Wir brauchen zwischen den Krankenkassen und Ärzten ein Stück mehr Wettbewerb um die bestmöglichste Versorgung der kranken Menschen zu gewährleisten, und wir brauchen drittens, dass die Versicherten selbst in der Gesundheitspolitik mehr mitentscheiden können. Sie müssen in die Krankenkassen reingesetzt werden, dort über ihre Versorgung mitentscheiden dürfen, und der einzelne Versicherte braucht auch ein Stück mehr Wahlmöglichkeit bezüglich der medizinischen Leistungen gegenüber seiner Krankenkasse.
Ensminger: Die letztgenannten drei Punkte können ja durchaus noch in irgendeiner Form zur Sprache kommen, denn die große Gesundheitsreform steht ja noch an. Was jetzt erst einmal geplant ist, ist das große Sparpaket, und Sie haben es angesprochen: Die Ausgabenseite, die Beitragsentwicklung gefällt vielen nicht. Nun soll eben Stabilität reingebracht werden und erst einmal gespart werden, um dann die große Reform einleiten zu können. Stichwort: Vorschaltgesetz. Das könnte ja Sinn machen.
Seehofer: Ja, wissen Sie, bei der Regierung und besonders bei Frau Schmidt muss man immer sehr misstrauisch den theoretischen Ankündigungen folgen. Sie spricht ja schon seit zwei Jahren über die Notwendigkeiten und hat es nicht getan. Und deshalb bin ich äußerst skeptisch, ob sie jetzt plötzlich die Kraft hat, das Notwendige im Gesundheitswesen zu tun. Wir werden es ja erleben, dass nach wenigen Monaten die Dinge wieder ganz anders aussehen werden. Dass sie jetzt ein Sparpaket vorlegen will, ist ja nicht ihrer Einsicht zu verdanken, sondern einfach dem Druck der Verhältnisse, weil sonst die Krankenversicherungsbeiträge explosionsartig ansteigen werden. Also, ich glaube der Frau Schmidt einfach nicht mehr. Wissen Sie, wenn innerhalb von vier Wochen, im Bundestagswahlkampf, hat sie mir noch vorgehalten, ich würde Panikmache betreiben, ich würde die Versicherten, die kranken Menschen verunsichern. Und innerhalb von vier Wochen muss sie nicht nur einräumen, dass wir Recht gehabt haben, sondern es steht eigentlich noch viel schlimmer um die gesetzliche Krankenversicherung als von uns immer angenommen. Eine Ministerin, die sich so vorsätzlich über die Wahrheit hinweggesetzt hat, die kann und wird nicht erzählen, dass sie das richtige Instrument in der Hand hat, um die Dinge in den Griff zu bekommen.
Ensminger: Sie haben eingangs von Wahrheit und Wirklichkeit gesprochen - wenn Sie so massiv Frau Schmidt kritisieren - dass nach wenigen Monaten die Verhältnisse anders aussahen, das ging ja auch schon anderen Regierungen so. Ist es denn überhaupt möglich, in der Bundesrepublik Deutschland eine große Gesundheitsreform einfach durchzusetzen?
Seehofer: Ja. Wissen Sie, natürlich hatten auch andere Regierungen – auch Regierungen, denen ich angehörte – ihre Probleme...
Ensminger: Auch mit den Lobbyisten?
Seehofer: Auch mit den Lobbyisten ist gestritten worden, aber eines hat uns doch deutlich unterschieden: Man darf nicht wieder besseren Wissens der Bevölkerung eine andere Situation schildern als man sie tatsächlich auf dem Schreibtisch liegen hat. Und das ist der Hauptvorwurf. Frau Schmidt hat die Bevölkerung angelogen, und ich sage, sehr bewusst, denn sie wusste es natürlich anders. Ich habe ja von meinen früheren Zeiten her Kontakt zu den Mitarbeitern im Gesundheitsministerium. Und die wussten auch vor dem Wahltag, wie es um das deutsche Gesundheitswesen steht. Und bei allen Diskussionen, bei denen ich mit Frau Schmidt im Fernsehen zusammentraf, hat sie das einfach geleugnet. Das war nicht unerheblich für den Wahltag.
Ensminger: Das ist ein harter Vorwurf.
Seehofer: Ja, aber sehr bewusst, weil es so war. Wissen Sie, wir müssen schon aufpassen, dass die politische Kultur in Deutschland nicht weiter verflacht. Es kann doch nicht so sein, dass eine politische Kraft, die die Bevölkerung mit der Unwahrheit bedient, deshalb, weil sie die Wahrheit verschweigt, auch noch an der Wahlurne belohnt wird. Wissen Sie, ich hatte letzte Woche in Berlin eine Besuchergruppe, die mich aufgefordert hat, genau so zu verfahren wie die Ministerin. Einfach den Menschen nicht die Wahrheit zu sagen. Wo kommen wir denn eigentlich hin, damit wir einen politischen Erfolg haben, einfach die Bevölkerung anzulügen. Das hat einfach Konsequenzen für die politische Kultur. Ich halte etwas davon, dass man geradlinig und ehrlich mit der Bevölkerung umgeht, auch wenn Wahlen vor der Tür stehen.
Ensminger: Das ist, denke ich, selbstverständlich, Herr Seehofer. Eine Frage noch als stellvertretender Unionsfraktionsvorsitzender. Die Regierungserklärung steht an. Wo wird denn der Hauptangriffspunkt der Union sein?
Seehofer: Natürlich ist das zentrale Thema unsere Wirtschafts-, Finanz und Arbeitsmarktlage, aber wir haben genau so in vielen Fachbereichen der Politik riesige Probleme. Denken Sie an die Bildungspolitik, Pisa-Studie – daran muss weitergearbeitet werden – bis hin zu dem Thema, das wir jetzt gerade erörtert haben: Gesundheit. Aber wir dürfen auch die Renten nicht vergessen. Es ist ja auch erstaunlich: Vor einem Jahr eine Rentenreform, und jetzt kündigt der Bundeskanzler an, wir brauchen eine Kommission, um die Renten zu sanieren. Vor einem Jahr hieß es noch, das ist die Reform, die die Renten zukunftsfähig macht und jetzt ist sie schon Makulatur. Auch da wurde nicht ehrlich mit der Bevölkerung umgegangen. Also, wir haben praktisch kein Politikfeld, Frau Ensminger, das nicht sanierungsbedürftig ist, und der Schwerpunkt ist natürlich Wirtschaft und Arbeitsmarkt.
Ensminger: Vielen Dank, Horst Seehofer, stellvertretender Unionsfraktionsvorsitzender und zuständig für Gesundheit und Soziales.
Link: Interview als RealAudio
Seehofer: Guten Morgen.
Ensminger: Herr Seehofer, eine Kommission zur Beseitigung aller Differenzen, kann das klappen?
Seehofer: Ja, wenn sie so läuft wie die letzte Kommission von Frau Schmidt – Frau Schmidt hat ja schon zwei Jahre vor der Wahl eine Kommission ohne Ergebnis geleitet -, dann wird es nicht klappen. Ich denke, das Wichtigste was Frau Schmidt leisten muss und wo sie sich ja auch schrittweise drauf zubewegt, ist, sich einfach der Wahrheit zu stellen. Vor vier Wochen hat sie ja vor dem Wahltag noch die Situation geleugnet. Da sollten ja die Krankenkassen finanziell ein ausgeglichenes Ergebnis haben. Jetzt überrollen sie die Ereignisse und jetzt muss sie im Schnellverfahren handeln. Sie wird jetzt Opfer ihrer eigenen Unwahrheiten, die sie vor der Wahl verbreitet hat. Ich glaube nicht, dass Frau Schmidt eine wirkliche, strukturelle Reform unseres deutschen Gesundheitswesens schafft.
Ensminger: Aber ist es den Versuch nicht wert? Vielleicht geht es mit einer Kommission, an der alle Betroffenen beteiligt sind ja schneller?
Seehofer: Wissen Sie, wo leben wir eigentlich? Frau Schmidt hat jetzt zwei Jahre lang versucht, trainiert, ihre Lehrjahre abgelegt. Ohne jedes Ergebnis. Es gab runde Tische von allen Beteiligten im Gesundheitswesen. Ohne jedes Ergebnis. Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht solche Politik-Amateure leisten, die dann zwei und drei Versuche brauchen, bis sie mal zu einem richtigen Ergebnis kommen. Wissen Sie, in der Zwischenzeit laufen uns die Ausgaben im Gesundheitswesen davon, und was noch schlimmer ist, ist, dass die Versorgung kranker Menschen immer schlechter wird. Man kann doch nicht das Gesundheitswesen als Trainingsplatz benutzen.
Ensminger: Wobei die Qualität bei allen Sparmaßnahmen nicht leiden soll – das betont die Ministerin ja immer wieder.
Seehofer: Ja, wissen Sie, zwischen Vorsätzen und Realität liegen ja gelegentlich Lichtjahre dazwischen.
Ensminger: Das heißt, es geht auch auf Kosten der Patienten?
Seehofer: Wir haben jetzt in der Bundesrepublik schon ein gewaltiges Stück an Zwei-Klassen-Medizin. Ich habe es immer wieder in den letzten Monaten gesagt: Wir haben die eigenartige Entwicklung, dass die Menschen für die gesetzliche Krankenversicherung immer mehr zu zahlen haben, aber gleichzeitig immer mehr Leistungseinschränkungen erfolgen. Nicht einmal die Hälfte der chronisch Kranken bekommen heute in Deutschland noch eine Versorgung, die dem heutigen medizinischen Standard entspricht, und wir haben die ja geradezu bizarre Situation, dass ein Sozialhilfeempfänger medizinisch besser versorgt wird als ein gesetzlich Krankenversicherter.
Ensminger: Was würden Sie besser machen?
Seehofer: Wir brauchen zwei Dinge, weil das Gesundheitswesen von zwei Seiten her in der Zange ist: Auf der einen Seite brechen den Krankenkassen durch die schwache Konjunktur die Einnahmen weg. Das kann nicht die Frau Schmidt lösen. Das muss im Wirtschaftsministerium und durch die Tarifpartner gelöst werden. Also, eine andere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik mit dem Ziel: mehr Arbeitsplätze und mehr Beitragszahler. Und auf der Ausgabenseite der Krankenversicherung brauchen wir jetzt nicht kurzfristige, hektische Sparmaßnahmen, die dazu führen, dass man nach einigen Monaten wieder vor dem gleichen Problem auf höherem Niveau steht, sondern wir brauchen erstens einmal eine Transparenz im Gesundheitswesen. Die Versicherten brauchen eine Rechnung, aus der sich ergibt, was der Arzt geleistet und abgerechnet hat. Wir brauchen zwischen den Krankenkassen und Ärzten ein Stück mehr Wettbewerb um die bestmöglichste Versorgung der kranken Menschen zu gewährleisten, und wir brauchen drittens, dass die Versicherten selbst in der Gesundheitspolitik mehr mitentscheiden können. Sie müssen in die Krankenkassen reingesetzt werden, dort über ihre Versorgung mitentscheiden dürfen, und der einzelne Versicherte braucht auch ein Stück mehr Wahlmöglichkeit bezüglich der medizinischen Leistungen gegenüber seiner Krankenkasse.
Ensminger: Die letztgenannten drei Punkte können ja durchaus noch in irgendeiner Form zur Sprache kommen, denn die große Gesundheitsreform steht ja noch an. Was jetzt erst einmal geplant ist, ist das große Sparpaket, und Sie haben es angesprochen: Die Ausgabenseite, die Beitragsentwicklung gefällt vielen nicht. Nun soll eben Stabilität reingebracht werden und erst einmal gespart werden, um dann die große Reform einleiten zu können. Stichwort: Vorschaltgesetz. Das könnte ja Sinn machen.
Seehofer: Ja, wissen Sie, bei der Regierung und besonders bei Frau Schmidt muss man immer sehr misstrauisch den theoretischen Ankündigungen folgen. Sie spricht ja schon seit zwei Jahren über die Notwendigkeiten und hat es nicht getan. Und deshalb bin ich äußerst skeptisch, ob sie jetzt plötzlich die Kraft hat, das Notwendige im Gesundheitswesen zu tun. Wir werden es ja erleben, dass nach wenigen Monaten die Dinge wieder ganz anders aussehen werden. Dass sie jetzt ein Sparpaket vorlegen will, ist ja nicht ihrer Einsicht zu verdanken, sondern einfach dem Druck der Verhältnisse, weil sonst die Krankenversicherungsbeiträge explosionsartig ansteigen werden. Also, ich glaube der Frau Schmidt einfach nicht mehr. Wissen Sie, wenn innerhalb von vier Wochen, im Bundestagswahlkampf, hat sie mir noch vorgehalten, ich würde Panikmache betreiben, ich würde die Versicherten, die kranken Menschen verunsichern. Und innerhalb von vier Wochen muss sie nicht nur einräumen, dass wir Recht gehabt haben, sondern es steht eigentlich noch viel schlimmer um die gesetzliche Krankenversicherung als von uns immer angenommen. Eine Ministerin, die sich so vorsätzlich über die Wahrheit hinweggesetzt hat, die kann und wird nicht erzählen, dass sie das richtige Instrument in der Hand hat, um die Dinge in den Griff zu bekommen.
Ensminger: Sie haben eingangs von Wahrheit und Wirklichkeit gesprochen - wenn Sie so massiv Frau Schmidt kritisieren - dass nach wenigen Monaten die Verhältnisse anders aussahen, das ging ja auch schon anderen Regierungen so. Ist es denn überhaupt möglich, in der Bundesrepublik Deutschland eine große Gesundheitsreform einfach durchzusetzen?
Seehofer: Ja. Wissen Sie, natürlich hatten auch andere Regierungen – auch Regierungen, denen ich angehörte – ihre Probleme...
Ensminger: Auch mit den Lobbyisten?
Seehofer: Auch mit den Lobbyisten ist gestritten worden, aber eines hat uns doch deutlich unterschieden: Man darf nicht wieder besseren Wissens der Bevölkerung eine andere Situation schildern als man sie tatsächlich auf dem Schreibtisch liegen hat. Und das ist der Hauptvorwurf. Frau Schmidt hat die Bevölkerung angelogen, und ich sage, sehr bewusst, denn sie wusste es natürlich anders. Ich habe ja von meinen früheren Zeiten her Kontakt zu den Mitarbeitern im Gesundheitsministerium. Und die wussten auch vor dem Wahltag, wie es um das deutsche Gesundheitswesen steht. Und bei allen Diskussionen, bei denen ich mit Frau Schmidt im Fernsehen zusammentraf, hat sie das einfach geleugnet. Das war nicht unerheblich für den Wahltag.
Ensminger: Das ist ein harter Vorwurf.
Seehofer: Ja, aber sehr bewusst, weil es so war. Wissen Sie, wir müssen schon aufpassen, dass die politische Kultur in Deutschland nicht weiter verflacht. Es kann doch nicht so sein, dass eine politische Kraft, die die Bevölkerung mit der Unwahrheit bedient, deshalb, weil sie die Wahrheit verschweigt, auch noch an der Wahlurne belohnt wird. Wissen Sie, ich hatte letzte Woche in Berlin eine Besuchergruppe, die mich aufgefordert hat, genau so zu verfahren wie die Ministerin. Einfach den Menschen nicht die Wahrheit zu sagen. Wo kommen wir denn eigentlich hin, damit wir einen politischen Erfolg haben, einfach die Bevölkerung anzulügen. Das hat einfach Konsequenzen für die politische Kultur. Ich halte etwas davon, dass man geradlinig und ehrlich mit der Bevölkerung umgeht, auch wenn Wahlen vor der Tür stehen.
Ensminger: Das ist, denke ich, selbstverständlich, Herr Seehofer. Eine Frage noch als stellvertretender Unionsfraktionsvorsitzender. Die Regierungserklärung steht an. Wo wird denn der Hauptangriffspunkt der Union sein?
Seehofer: Natürlich ist das zentrale Thema unsere Wirtschafts-, Finanz und Arbeitsmarktlage, aber wir haben genau so in vielen Fachbereichen der Politik riesige Probleme. Denken Sie an die Bildungspolitik, Pisa-Studie – daran muss weitergearbeitet werden – bis hin zu dem Thema, das wir jetzt gerade erörtert haben: Gesundheit. Aber wir dürfen auch die Renten nicht vergessen. Es ist ja auch erstaunlich: Vor einem Jahr eine Rentenreform, und jetzt kündigt der Bundeskanzler an, wir brauchen eine Kommission, um die Renten zu sanieren. Vor einem Jahr hieß es noch, das ist die Reform, die die Renten zukunftsfähig macht und jetzt ist sie schon Makulatur. Auch da wurde nicht ehrlich mit der Bevölkerung umgegangen. Also, wir haben praktisch kein Politikfeld, Frau Ensminger, das nicht sanierungsbedürftig ist, und der Schwerpunkt ist natürlich Wirtschaft und Arbeitsmarkt.
Ensminger: Vielen Dank, Horst Seehofer, stellvertretender Unionsfraktionsvorsitzender und zuständig für Gesundheit und Soziales.
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