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Das politische Jahr 1999

Lange: 1999 war für Bundespolitiker ein bewegendes Jahr, meine Damen und Herren. Das ist durchaus auch im Wortsinn zu verstehen. Seit August wird die Republik von Berlin aus regiert; der Umzug von Parlament und Regierung von Bonn in die Hauptstadt ist vollbracht. Und dass Politik auch im übertragenen Sinne ständig in Bewegung ist, das hat dieses Jahr auch gezeigt. Die Affären der letzten 12 Monate haben manchen politischen Aufstieg in einen Absturz münden lassen, und wer sich welche unredlichen Vorteile verschafft hat, das bringt den durchschnittlichen Zeitgenossen wie kaum etwas anderes in Rage. Wie wirkt sich das alles auf die politische Kultur aus und auf die Autorität derer, die da in Berlin und anderswo Politik machen? Diese Frage wollen wir nun mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages erörtern. Er ist in Berlin am Telephon. Guten Morgen Herr Thierse.

    Thierse: Guten Morgen Herr Lange.

    Lange: Herr Thierse, kommen wir zunächst auf die Affäre der CDU zu sprechen. Dürfen wir davon ausgehen, dass die Staatsanwaltschaft Bonn in der nächsten Woche ihre Ermittlungen aufnehmen kann, ohne dass sie durch die parlamentarische Immunität von Helmut Kohl gehindert wird?

    Thierse: Also, zunächst einmal ist das die Entscheidung der Bonner Staatsanwaltschaft. Sie hat die Pflicht, wenn sie ein solches Ermittlungsverfahren einleiten will, den Bundestag davon in Kenntnis zu setzen. Und ich werde eine solche Information, eine solche Mitteilung, an den zuständigen Ausschuss, den Ausschuss für Geschäftsordnung und Immunität weiterleiten. Und dann hat die Staatsanwaltschaft ihre Pflicht zu erfüllen. Ob dann eine Aufhebung der Immunität stattfinden muss, das werden wir im weiteren Gang der Dinge sehen, das kann ich jetzt nicht beurteilen.

    Lange: Wie weit würden Sie denn gehen - oder was würden Sie zulassen, um die Offenlegung aller Fakten und die Ahndung von Rechtsbrüchen durchzusetzen?

    Thierse: Selbstverständlich müssen alle Fakten offengelegt werden, alle bisher verschwiegenen Details, denn was da stattgefunden hat, ist doch ein unerhörter Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat öffentlich eingestanden, über Jahre hin das Parteiengesetz - und damit auch das Grundgesetz - verletzt zu haben. Er hat übrigens damit auch gegen seinen Amtseid verstoßen. Das ist ein so außerordentlicher Vorgang, dass wir wirklich vollständige Aufklärung brauchen, um der Demokratie willen und der Glaubwürdigkeit demokratischer Politik willen.

    Lange: Aber je höher man diese Affäre ansiedelt, desto dramatischer beschreibt man ja auch die Folgen für die Demokratie. Sind die denn aus Ihrer Sicht wirklich so dramatisch, oder muss man nicht auch als Parlamentspräsident irgendwann mal gegensteuern und sagen: ‚Nun lasst mal die Kirche im Dorf, die Republik hat schon ganz andere Sachen überstanden'?

    Thierse: Selbstverständlich beteilige ich mich nicht an den Reden von denen, die sagen, es handle sich um eine Krise der Demokratie in Deutschland oder um die Entstehung italienischer Verhältnisse. Nein, dass unsere Gesellschaft sich dagegen wehrt, dass die Bürger kritisch auf solche Vorgänge reagieren, dass die Medien, die Journalisten ihre Pflicht tun, die Justiz ihre Pflicht tut, das zeigt doch, dass unsere rechtsstaatliche Demokratie vital ist und funktioniert. Und daran muss man auch erinnern, trotz aller Weheklagen.

    Lange: Sie selbst haben gesagt, es könne keiner ein Interesse daran haben, eine demokratische Partei wie de CDU zu ruinieren. Das könnte ja im Umkehrschluss bedeuten, dass sich diese Existenzfrage tatsächlich stellt, wenn nach den Buchstaben des Gesetzes verfahren wird?

    Thierse: Da bin ich vorsichtig. Ich habe darauf reagiert, dass in der Öffentlichkeit gigantische Zahlen genannt worden sind und habe dann gesagt: Das ist alles Spekulation und man muss selbstverständlich daran erinnern, dass eine demokratische Partei wie die CDU nicht allein daran gemessen werden kann, dass einer ihrer - zwar einer ihrer wichtigen und langjährigen - Vorsitzenden gegen dass Gesetz verstoßen hat. Es ist unsinnig, nur weil einer gegen das Gesetz verstoßen hat oder weil einige gegen das Gesetzt verstoßen haben überhaupt zu meinen, dass alle CDU-Politiker Gesetzesbrecher seien. Solche Art von Verallgemeinerungen halte ich für fatal, egal von wem sie ausgesprochen werden.

    Lange: Aber die finanziellen Folgen für die CDU könnten existenzbedrohend werden?

    Thierse: Das weiß ich nicht. Ich warte jetzt auf die Korrektur der Rechenschaftsberichte der CDU für die Jahre 98 und in bestimmter Weise auch für 97. Dann werde ich sehen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben und was insgesamt für die davorliegenden Jahre festzustellen ist an illegalen Spenden, weil sie anonym waren, an Verletzungen des Gesetzes. Und dann werde ich in den nächsten Monaten festzustellen haben, welche Sanktionen auf die CDU zukommen. Ich halte nichts von Spekulationen, jedenfalls werde ich mich an allerletzter Stelle daran beteiligen.

    Lange: Eine Reihe von Namen hat uns dieses Jahr beschäftigt, Herr

    Thierse: Bangemann, Hombach, Heugel, die Affäre um die Finanzen der LWS in Bayern, dann die CDU-Spendenaffäre, und zuletzt die sogenannte Flugaffäre in Nordrhein-Westfalen. Ist das die übliche ‚Schwundquote' der Demokratie, oder brechen hier langsam die Dämme?

    Thierse: Allgemeine Urteile sind schwierig, und ich finde auch, dass man Unterschiede machen soll und nicht alles in einen Brei verrühren, der dann die Überschrift hat ‚Alle Politiker sind korrupt' und ‚Alle Politiker sind irgendwie unanständig'. Ich halte dafür, dass die meisten der Politiker - egal, ob sie Kommunalpolitik machen, Landespolitik oder Bundespolitik - hart und fleißig arbeiten und anständige Leute sind. Aber Politiker sind eben auch nicht bessere Menschen als die Mitglieder unserer Gesellschaft sonst. Sie sind gefährdet, sie sind fehlbar, sie sind erbarmungswürdig, und - das kann man an den verschiedenen Beispielen zeigen - sie sind auch hochgradig gefährdet dadurch, dass sie Macht innehaben, dass sie umringt sind von Leuten, die etwas von ihnen wollen und die ihnen dann - in Anführungsstrichen - ‚auch helfen wollen'. Also, dies muss man alles berücksichtigen und sagen: Die Demokratie macht die Menschen nicht besser, aber sie hat Regelarien der Kontrolle, die die Fehler und Gesetzesverletzungen von Politikern doch dann öffentlich machen, die korrigieren, die strafen. Und das ist das eigentlich Positive, dass wir in der Demokratie ein solches Regelwerk haben, das die Fehlbarkeit von Menschen voraussetzt und zugleich auch Abhilfe schafft.

    Lange: Würde es denn der Glaubwürdigkeit der Politiker helfen, wenn man sie mal von diesem moralischen Sockel herunterholen würde und sie genau so wahrnehmen würde, wie alle anderen auch, die für das Funktionieren von Gemeinwesen wichtig sind, also Krankenschwestern, Polizisten, Kommunalbeamte, Lehrer usw.? Da gibt es doch immer noch einen moralischen Anspruch, der da manchmal im Wege steht.

    Thierse: Also, das finde ich sehr hilfreich. Ich habe immer gesagt, man soll nicht erwarten, dass Politiker Heilige sind, sondern was man von Politikern erwarten muss, ist etwas Einfaches: Sie sollen erkennbar für das Gemeinwohl arbeiten. Das ist das Kriterium. Nicht Heiligkeit, nicht, dass sie in jeder Hinsicht moralisches Vorbild sind, sondern dass sie für das Gemeinwohl arbeiten, und zwar öffentlich und unter öffentlicher Kontrolle. Das ist vielleicht der wichtigste Unterschied zu den Berufen, die Sie genannt haben, dass wir Politiker öffentlich arbeiten und unter öffentlicher Kontrolle, weil wir eben auch Macht über andere Menschen haben. Und deswegen müssen wir auch kontrolliert werden. Das ist genau das, was in der Demokratie funktionieren muss, sonst ist sie gefährdet.

    Lange: Das Ansehen der Politik, Herr Thierse, und der Politiker leidet ja auch darunter, dass es bei einzelnen Abgeordneten offenbar eine gewisse Versuchung gibt, die Interessen einzelner Konzerne mit den Interessen des Gemeinwohls gleichzusetzen, was dann in diese gut dotierten Beraterverträge mündet. Kann das auf Dauer so bleiben?

    Thierse: Wir haben ja ein Regelwerk, das verlangt, dass Abgeordnete Nebentätigkeiten, Honorartätigkeiten und berufliche Verpflichtung bekanntgeben. Das ist überhaupt das wichtigste Instrument, die Transparenz. Sollen wir verbieten, dass ein Abgeordneter, der zugleich Rechtsanwalt ist, Rechtsanwalt weiterhin bleibt, dass ein Abgeordneter ein wirtschaftliches Unternehmen hat oder ein wirtschaftliches Unternehmen berät? Nein, es soll transparent sein. Die Bürger sollen wissen, dass das der Fall ist. Und damit kann man das kontrollieren, damit kann man Abhängigkeiten öffentlich machen und sie damit in ihrer Wirkung verringern. Ich denke, das ist das eigentlich Wichtige in der Demokratie - nicht dass wir alles und jedes verbieten, sondern dass öffentliche Kontrolle da ist, dass die Justiz und der Journalismus funktionieren. Ich denke, das ist das Wichtige. Und die Fälle der letzten Wochen zeigen ja, dass es in Deutschland funktioniert.

    Lange: Herr Thierse, die Bürger in Ostdeutschland haben nun zehn Jahre Erfahrung mit der parlamentarischen Demokratie. Wenn die nun ankommen und sagen: ‚Die treiben es ja noch toller als unsere Bonzen damals' - haben Sie Verständnis für solche Reaktionen?

    Thierse: Begrenzt, denn der Unterschied zur DDR ist, dass es keine Öffentlichkeit gab, dass die Machtvollkommenheit und die Verquickung von öffentlichen und persönlichen Interessen niemals kontrolliert werden konnte. Honecker und die Seinen, die ihre kleinen oder größeren Privilegien mehr oder minder genossen haben, die konnten nicht abgewählt werden, die konnten nicht durch das Fernsehen oder durch die Zeitung kritisiert werden. Und das ist der gravierende Unterschied. Das ist der Fortschritt, den wir Ostdeutschen doch erreicht haben, dass Verfehlungen von Politikern, unangemessene Verquickungen, dass Gesetzesverletzungen geahndet werden, weil sie doch immer - manchmal mit zeitlicher Verzögerung - öffentlich bekannt werden.

    Lange: Das Parlament, Herr Thierse, ist jetzt etwa ein halbes Jahr in Berlin. Was haben Sie denn an Veränderungen beobachtet im alltäglichen Politikbetrieb - verglichen mit Bonn?

    Thierse: Zunächst einmal geht es um ganz praktische Dinge. Die Entfernungen sind größer, man muss sich umstellen. Wir sind ja auch noch teilweise in Provisorien. Desweiteren: Es gibt viel mehr Journalisten, viel mehr Kameras, viel mehr Fotoapparate. Der Konkurrenzkampf der Medien ist härter, in gewisser Weise sogar brutaler geworden. Das heißt: Der Stil, den es in Bonn gegeben hat, der ja doch intim und ruhig war, der hat sich in Berlin erheblich verändert. Ob das nur von Vorteil ist, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls lese und höre ich in den letzten Wochen auch sehr viel Selbstkritisches von den Journalisten.

    Lange: Rechtfertigen denn die Unterschiede im Nachhinein das Wort von der ‚Berliner Republik'?

    Thierse: Nein. Das Wort habe ich immer für falsch gehalten. Auch von Berlin aus werden die Grundkoordinaten der deutschen Politik die gleichen bleiben. Wir machen auch von Berlin aus - dessen bin ich sicher - europäisch gesinnte, friedfertige Politik, eine Politik, die auf sozialen Ausgleich im Inneren und Frieden nach außen zielt. Dieser ideologisch überfrachtete Begriff ‚Berliner Republik' - der ist fatal falsch.

    Lange: Wolfgang Thierse war das, der Präsident des Deutschen Bundestages. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Thierse: Auf Wiederhören.