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Das Provisorium

Wolfgang Hilbig hat einen Nachttext geschrieben, eine Nocturne. Keine Nacht ist dunkler und trostloser als die Schwärze im eigenen Inneren. Der Protagonist C. in Hilbigs neuem, lang erwarteten Roman "Das Provisorium" läuft gleichsam mit einem Schwarzfilter vor den Augen durch die Welt. C. ist ehemaliger Industriearbeiter und Schriftsteller, ein unwilliger, halbherziger DDR-Bürger, der Mitte der achtziger Jahre durch ein Visum ebenso unwillig in den Westen gerät. Das Visum erlaubt es ihm, ein Jahr lang hin- und herzufahren. Doch die scheinbare Freiheit, von der so viele Ostdeutsche träumten, gerät C. zum Fluch. Er geht sich selbst verloren, er gerät in eine unselige Kreisbewegung zwischen den Staaten, den Ideologien, den Frauen, den Lebensweisen. C. ist wie alle autobiographisch grundierten Helden dieses Autors ein zäher Einzelgänger, ein unbedingter Solipsist. Wo er sich auch hinbegibt, ob nach Hanau, Nürnberg, Leipzig oder ins geteilte Berlin - er bleibt unbehaust und im Grunde genommen abwesend.

Katrin Hillgruber | 10.02.2000
    "Abwesenheit" hieß der Lyrikband, mit dem Wolfgang Hilbig 1979 im Westen debütierte. Das Buch erschien beim S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main und geriet seinerzeit zur literarischen Sensation. Im titelgebenden Gedicht heißt es:

    "wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet / keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind / wie wir in uns selbst verkrochen sind / in unsere schwärze"

    Gut zwanzig Jahre später vollendet sich der thematische Kreis, denn die innere Schwärze des neuen Hilbigschen Helden C. erscheint unüberbietbar. "Das Provisorium" ist ein radikales Buch, leuchtend in seiner negativen Energie. Wolfgang Hilbig schrieb fünf Jahre lang an dem Text, eine erste Fassung in der Ich-Form arbeitete er komplett um. Zuletzt waren von ihm 1993/94 der Roman "Ich" über einen Stasi-Spitzel und "Die Kunde von den Bäumen" erschienen. Im Jahr darauf folgten die Frankfurter Poetikvorlesungen "Abriß der Kritik".

    Eine massive Schreibhemmung befällt C. nach dem Grenzübertritt, er fühlt sich seinem Dasein erbarmungslos ausgeliefert. Dabei war er doch zum Schreiben in den Westen gekommen, wurde er doch von seinen Schriftstellerkollegen aus Leipzig durchaus um das Visum beneidet. Sein vordergründiges Versagen treibt C. immer tiefer in den Alkoholismus, in die Selbstzerstörung. Seine obsessive Melancholie macht sich in Selbstanklagen Luft. Sie lähmt ihn und jagt ihn zugleich vorwärts.

    Diesen Mann aus dem Osten mit seiner schwarzen Seele setzt der Autor gnadenlos der gleißenden Helligkeit einer Nürnberger Einkaufspassage aus. Der Lichtmetaphorik fällt in diesem Text eine zentrale stilistische Bedeutung zu. Der Lyriker und Romancier Wolfgang Hilbig ist im Westen angekommen. Er hat den Schutzpanzer der Heizungskeller, Abraumhalden und der "Elendshöhlen des Massivs Berlin", wie es in dem Roman "Die Übertragung" heißt, verlassen. Nun begibt er sich erstmals an den Schauplatz alte Bundesrepublik, und zwar dorthin, wo Westdeutschland besonders abschreckend und zugleich typisch ist: in die verkehrsberuhigte Innenstadt, in das Einkaufsparadies der Fußgängerzone. Nürnberg wird für C. zum tragikomischen Alptraum bundesdeutscher Normalität.

    "Nichts war geschehen, der Nachmittag war normal, alles verhielt sich denkbar normal, auf der Breiten Gasse herrschte das alltägliche Gewühl der Konsumenten, in dem er ohne Aufsehen untertauchen konnte. Der Andrang war gerade jetzt, wenige Stunden vor dem Ende der Geschäftszeit, besonders stark; es gab niemanden, der in der glänzenden Ladenzeile langsam ging, alles eilte und eiferte, und alles trug in den Gesichtern die Überzeugung zur Schau, der gerechtesten Sache der Welt zu dienen: dem Shopping. Unten am Rand der Querstraße zur Breiten Gasse kamen die Taxis nicht zur Ruhe, kaum hielt eins von ihnen, wurden schon pralle Plastiksäcke auf die Rücksitze oder in den Kofferraum geworfen, ein Wagen nach dem anderen füllte sich mit Kundschaft, und einer nach dem andern glitten sie davon, weich und spielerisch, den nachrückenden Autos Platz machend, sie schnurrten auf das Weichbild der Stadt zu, oder hinaus in die Außenbezirke, wo die Taxis wieder neue, noch unbefriedete Käufer einluden und vor die Fußgängerzone fuhren. [...]

    Und dort mischten sich die Zufriedenen mit den Unzufriedenen, und sie mischten sich umgekehrt; die Betrogenen vereinten sich mit den Unbetrogenen, und sie umarmten ihre Betrüger vor Glück, wenn sie in die Boutiquen eintraten, in die Shops und Drugstores und Galerien, und sie kauften und zahlten, und zahlten erneut und zeichneten ihre Schecks mit geflügelter Hand. Und wenn sie wieder auf der Breiten Gasse waren, strahlten sie im Glanz ihrer Liquidität, und jeder von ihnen war ausgezeichnet und bedeutsam genug, das Wohlwollen Gottes im Herzen zu tragen. So wandelten sie, überragt vom Getürm der nahen Kathedralen..."

    Hilbig beschreibt hier mit sakral getöntem Sarkasmus eine gewaltige Maschinerie der Glückssimulation. In der Nürnberger Fußgängerzone wird eine Ersatzreligion zelebriert. Der Blick seines östlichen Protagonisten ist einseitig, dessen Kritik am Konsumverhalten oft reflexhaft und für das sonstige Reflexionsniveau des Buches irritierend plakativ. Der Westen meint er, sei etwas für die Idiotenherde der DDR-Bürger, denen es nur um Langnese-Eis und Kondome mit Bananengeschmack gehe. Diese stereotype, mit Lust vergröbernde Sichtweise hat vermutlich mit der Projektion eigener Mängel des Erzählers C. zu tun. Dennoch erstaunt der antikapitalistische Furor bei Wolfgang Hilbig immer wieder, etwa seine fast schon alttestamentarisch strenge Verdammung der sogenannten Autogesellschaft in den Frankfurter Poetikvorlesungen "Abriß der Kritik". Auch im neuen Buch geht es seitenweise um Autofahrer und Autobahnen als besonders zu geißelnde Phänomene des Fortschrittsglaubens. "Genozid" wirft der Erzähler all jenen vor, die auf Schicklgrubers alias Hitlers Autobahnen rücksichtslos dahinrasen.

    Das - Zitat - "völlig sinnentleerte Begriffssystem", das Hilbig in seinen Vorlesungen der DDR attestierte, scheint sich auf trostlose Weise im wiedervereinigten Deutschland fortzusetzen. In Ost und West werden die Menschen um ihre Hoffnungen betrogen, hier wie dort gibt es keine lebbare Utopie. Sozialismus und Kapitalismus zeigen in diesem Roman ihre Fratzen. "Das Provisorium" sucht die Wohlstandsgesellschaft an ihren wundesten Punkten auf, in Tabuzonen wie dem Suchtentwöhnungstrakt einer Münchner Nervenklinik. An diesem Ort wird der Lamentierende C. ganz zum Beobachter, und das ist eine wohltuende Metamorphose. Hilbig zeigt in diesem beeindruckenden Abschnitt, wie Menschen mitten in Frieden und Wohlstand aufs Elementarste zurückgeworfen werden, wie sie binnen Stunden durch ihre Sucht zur Kreatur herabsinken. Der Text gibt diese Stimmung in aller Drastik wieder. Beinahe ist hier die Sozialkritik eines Upton Sinclair wiederauferstanden.

    Hilbigs Geschichtspessimismus hat sich in diesem, seinem wahrscheinlich adikalsten und durch die unbedingte Subjektivität angreifbarsten Roman zu einer einzigen gewaltigen Suada gesteigert, zu einem Strudel, der den Leser ins Bodenlose mitreißt. Dabei ist das erste, das Nürnberger Kapitel noch as heiterste, deskriptivste. Der geballte Negativismus des Buches ist nicht leicht auszuhalten. Der Selbsthass des Protagonisten hat sich in Hilbigs jüngstem und persönlichsten Roman verstärkt. Die Kraft der Negation bricht alle Dämme der Selbstachtung. Er richtet seine Aggression vor allem gegen sich selbst, gegen seinen wehrlosen und doch zähen Proletarier-Körper. Er bekämpft sich mit Alkohol. "Schonungslose Offenheit", dieser von Politikern so gern verwendete Ausdruck, hier trifft er zu und nötigt Respekt ab. Eingangs zitiert Hilbig August Strindberg:

    Um meine Werke schreiben zu können, habe ich meine Biographie, meine Person geopfert. Ich habe nämlich schon früh den Eindruck gehabt, mein Leben sei für mich in Szene gesetzt, damit ich es von allen Seiten sehen solle. Das versöhnte mich mit dem Unglück, und es lehrte mich, mich selbst als Objekt aufzufassen.

    "Das Provisorium" stellt also keinen Schlüsselroman dar, sondern die schmerzhafte, vielleicht aber auch heilsame Sublimierung der eigenen Existenz in Literatur. Was das für die im Roman vorkommenden anderen Personen bedeuten mag, die unschwer zu erkennen sind, bleibt dahingestellt. "Das Provisorium" bekennt sich nun mal zu konsequenter Egozentrik. Die Lebensdaten Wolfgang Hilbigs und seines Helden C. stimmen überein: Beide wurden 1941 in der Kleinstadt M. bei Leipzig geboren, gemeint ist Meuselwitz. Der Vater fiel in Stalingrad, Mutter und Sohn kamen in der engen Wohnung der Großeltern unter. Der Sohn machte eine Lehre als Bohrwerkdreher und blieb bis weit über dreißig zu Hause wohnen. Er arbeitete als Monteur, Erdarbeiter, Heizer, Kesselwart. Seit seiner Schulzeit geriet ihm das Schreiben zur heimlichen, sorgsam verborgenen Leidenschaft. Mitte der sechziger Jahre, als der Bitterfelder Weg Konjunktur hatte, wurde er zu einem Zirkel schreibender Arbeiter delegiert, blieb aber stets Autodidakt. Alle diese Erfahrungen teilen Figur und Autor.

    Die Literatur als Metier, das von der Familie und der materialistischen DDR-Gesellschaft verachtet wird, zieht sich als konstantes Motiv durch Hilbigs Werk. Der unauflösliche Widerspruch von Arbeiterdasein und Künstlerexistenz dramatisiert sich zum persönlichen Lebenskonflikt, zur zwangsweisen Einsamkeit. Zeugnis davon gibt unter anderem Wolfgang Hilbigs Essay "Die Arbeiter" von 1975. Es geht bei ihm und seinen schwierigen, sich selbst in Frage stellenden Helden um nichts weniger als die Selbstschöpfung eines Schriftstellers in proletarischer, kunstfeindlicher Umgebung. Dieser Akt hat etwas Exhibitionistisches, Egomanisches an sich. Ein weibliches Autoren-Ich hätte wahrscheinlich aus Gründen der Tradition Hemmungen, sich so dezidiert ins Zentrum zu rücken. Ohnehin ist "Das Provisorium" ein Buch der - wenn auch verzweifelten - Männerphantasien.

    Er hatte sich mit dieser Krankheit von Staat da drüben angelegt, hatte Zuchthaus und Arbeitserziehung riskiert, er hatte die Leute beleidigt, all seine Freundschaften und Bekanntschaften in den Wind geschlagen. Keine Lüge war ihm zu dreckig gewesen, damit er Zeit gewinnen konnte für seine Schreibversuche. Er hatte seinen Schwanz hypnotisiert oder mit Kochlöffeln auf ihn eingeschlagen, damit er wieder in sich zusammenfiel, damit seine Erektionen ihm beim Sitzen am Schreibtisch nicht im Weg waren. Er hatte all seine Liebschaften wieder sausen lassen, so dürftig ihre Anzahl auch gewesen war, so halbherzig sie auch gewesen waren, er hatte sie im Stich gelassen, alle zusammen, und zwei Frauen - bis jetzt - hatte er todunglücklich gemacht [...]; er hatte sie verlassen, aus Angst, seine Zeit zum Schreiben für sie opfern zu müssen; und er hatte seine Tochter im Stich gelassen, noch als Kleinkind, obgleich er sie sehr liebte, und nun war er kaum noch mit ihr bekannt. Er hatte sein ganzes Leben im Stich gelassen und auf sein Glück gepfiffen.

    Im Osten wird der Schriftsteller C. von der Zensur drangsaliert, die er als vorgeschaltete anonyme Literaturkritik empfindet, im Westen stößt er auf die Kälte des kommerziellen Literaturbetriebs. Diese Passagen über den angeblichen Stellenwert der Literatur in Westdeutschland, über Lesungen, zu denen der sächsische Exot herumgereicht wird und die anschließenden geselligen Pflichtveranstaltungen, beziehen ihre beißende Häme aus dem eigenen Erleben. Von einer Gönnerin aus Nürnberg erhält C. eine gelbliche Lederjacke geschickt. Sie wird ihm zur zweiten Haut seines wechselvollen Lebens, zu einer Art Uniform des Provisorischen.

    Denn dem Schriftsteller C., der während der ganzen Zeit keine einzige Zeile zu Papier bringt, ist am westlichen Small Talk, am vorgeblichen Interesse für ihn, den Künstler, nichts gelegen. Das Gerede verstört ihn höchstens. So kommt es, dass er auf Lesereisen, ob nach Paris oder Wien, nichts von den Städten sieht. Er bleibt im Hotel, trinkt und schaut Pornos an.

    Wenn er sich endlich, die Nacht war schon fast vorüber, dazu durchrang, den Fernseher auszuschalten, stieg ihm gewöhnlich die Galle hoch, und er fiel in Depression. Er begann noch einmal die Minibar zu plündern und erging sich in Selbstanklagen. Seine Vorwürfe waren dergestalt, wie er sie unter normalen Zuständen als ungerecht empfunden hätte: im Grunde genommen, sagte er sich, sei er nur von der Pornoindustrie in den Westen gelockt worden, jedenfalls habe die einen Hauptanteil an dem gehabt, was einige wohlwollende Journalisten in den Feuilletons als Emigration bezeichneten, wenn sie sich über den Schriftsteller C. ausließen. Die künstlerische Freiheit, die er gemeint habe, sagte er sich, sei eigentlich die, in einem westdeutschen Hotelzimmer vorm Pay-TV zu sitzen. [....] Das war es also, sein Leben in der Bundesrepublik; er schaltete den Fernseher ein, während seines vorübergehenden Aufenthalts in der BRD und in West-Berlin, und er schaute durch die Luke des Bildschirms ins Leben. Und er stellte den Ton leise, so daß er das schweinische Quieken der aufgegeilten Frauen gerade noch hören konnte.

    Oder er bleibt gleich am Bahnhof - und trinkt. Dieses freiheitliche, gleichgültige Land, das spürt er, dämpft seine Kreativität. Hier geht ihm seine so mühsam gewonnene Identität als Schriftsteller verloren. C. läßt sein Visum verstreichen, er begibt sich in eine bezugslose Zwischenexistenz. "Das Provisorium" ist auch eine quälend ehrliche Liebesgeschichte: Seine Leipziger Beziehung zu Mona läßt C. feige einschlafen. Die neue Freundin Hedda in Nürnberg enttäuscht er fortwährend durch sein Verhalten, bis sie Konsequenzen zieht und sich von ihm trennt. "Irgendwann muß ich begonnen haben zu glauben, die Liebe sei das Abwesende" heißt es in Hilbigs Roman "Die Übertragung". C. werden die Bahnhöfe, die Landesteile, die Leseorte gleichgültig. Vielmehr erfüllt der Alkohol die Funktion des großen Gleichmachers.

    Ab München gibt es noch einen späten Zug nach Leipzig, sagte er sich. Der erst am Morgen dort eintrifft... oder irre ich mich und es gibt diesen Zug nur ab Nürnberg? Nürnberg durfte er gar nicht streifen, wenn er plötzlich mitten in der Nacht aus der Deutschen Bundesrepublik verschwand. Wenn er verschwand, als ob er plötzlich gestorben sei. Wieso war er nicht fähig, sich einmal von diesem Kiosk wegzurühren und nach den Abfahrtszeiten zu schauen? Vielleicht würden sie ihn an der Grenze ohne Komplikationen durchlassen, immerhin hatte er einen Reisepaß der DDR, vielleicht würden sie gar nicht bemerken, wie lange das Visum schon abgelaufen war. Aber wahrscheinlich konnte er sogar mit seinem BRD-Paß einreisen, den er natürlich ebenfalls besaß....wenn er einmal drin war im DDR-Käfig, dann war er drin. Und für die Bundesrepublik unauffindbar und gestorben....

    "Das Provisorium" ist kreisförmig angelegt: Vom Anfang in der Nürnberger Fußgängerzone ausgehend wird im Rückblick erzählt. Die Geschehnisse umfassen die Jahre 1985 bis '89. Es handelt sich quasi um einen historischen Roman aus der letzten Lebensphase der DDR, als es noch den Visumszwang und die Grenzkontrolle am sogenannten Tränenpalast, dem Bahnhof in Berlin-Friedrichstraße gab. All das streift der Autor, doch zeitgeschichtliche Ereignisse wie der Atomunfall von Tschernobyl oder die Maueröffnung dringen höchstens als Hintergrundgeräusche in den inneren Monolog des Helden. Der ehemalige DDR-Schriftsteller Wolfgang Hilbig neigt mehr zur artistischen, vom Symbolismus beeinflussten Verkapselung als zur Aufklärung. Die Grenze, die als literarische Kategorie etwa für das Werk Uwe Johnsons große poetologische Bedeutung hat, stellt für Hilbig nur ein Übel von vielen dar. Der Nachsatz von Johnsons Roman "Das dritte Buch über Achim"

    Die Personen sind erfunden. Die Ereignisse beziehen sich nicht auf ähnliche sondern auf die Grenze: den Unterschied: die Entfernung / und den Versuch sie zu beschreiben, ein solcher rationalisierender Nachsatz wäre dem Geist von Wolfgang Hilbigs Ost-West-Odyssee fremd. Dazu ist dieser Romancier zu sehr Lyriker, wandelt er zu sehr auf den Spuren eines Charles Baudelaire oder Nikolaus Lenau, ist er zu sehr der schwarzen Romantik verpflichtet. Sein entscheidender Mentor Franz Fühmann brachte Hilbigs untergründiges Drängen nach einer subjektiven Utopie auf folgende poetische Formel:

    "Er ist, dieser Durst, die Begierde zu wirken, Begehren nach erfülltem Dasein, nach Sättigung des Leibes wie des Geistes, nach Befriedigung aller Bedürfnisse, derart, daß immer neue aufkeimen können; ein Durst nach Schönheit, nach Wissen, nach Rausch wie Bewußtheit, nach Sinn wie Sinnenhaftigkeit. Es ist der Durst nach der Anwesenheit des Fasans auf dem Brikettberg in Meuselwitz /.../."

    Utopische Anflüge finden sich bei aller irdischen Verzweiflung im Denken und Fühlen des C., selbst wenn er mit Sicherheit Hilbigs unpoetischster Held ist. Das Banale seiner Lebensumstände färbt gelegentlich auf die Figur ab und dämpft das Interesse an ihrem Schicksal. Oder ist das nur eine westdeutsche Sicht, weil der Schauplatz DDR exotischer wirkte? In C.s Träumen vom Leipziger Hauptbahnhof, wo es nach so vielen Dingen rieche, um die zu trauern sei, wie er sagt, verheißt eine aus dem Dunkel strebende Sonne Geborgenheit, Aufbruch, Freiheit, die Fahrt ins Licht. Fast kündet dieser erhellende Moment, der sich am Schluss des Buches wiederholt, von einem leuchtenden, heimatlichen Kindheitsparadies, wie es Ernst Bloch in "Das Prinzip Hoffnung" beschwor. Doch die Lichtmetaphorik täuscht: Die Helligkeit erweist sich als Kunstlicht, somit als eine böse kapitalistische Täuschung.

    Auffallend an C. ist sein starker Körperbezug. Das verbindet ihn mit dem Ich-Erzähler von "Die Weiber", einem vereinzelten Mann am Rande, dessen Wahrnehmung ganz in Düften, Gerüchen, Körpersäften aufgeht. Für C. ist sein Körper sowohl Schlachtfeld als auch Instrument der Selbstvergewisserung. Er dient ihm als Messinstrument für seinen Wirklichkeitsbezug. Das erklärt das hemmungslose Trinken und die obsessive Sexualität C.s. Hedda, seine Nürnberger Freundin, liebt er bis zur Erschöpfung, und sie ahnt, dass er einen sexuellen Krieg gegen seine Vergangenheit führt.

    C.s Selbsthass geht bis zur Auflösung des Materiellen, bis zur surreal angehauchten vorweggenommenen Verwesung - das ist ebenfalls ein Anklang an die düster phantastische Erzählung "Die Weiber". Doch C.s Körper, sozusagen sein einziger und dazu noch unverwüstlicher Begleiter im Westen, ist gleichzeitig das Gehäuse zur Aufbewahrung von Kindheitsträumen und Utopie-Resten, mithin der dichterischen Substanz, die jenseits der Schreibhemmung in ihm wohnt und abwartet. Manche dieser Körper-Passagen erinnern in ihrer Intensität an Knut Hamsuns Roman "Hunger" oder an "Das Schwarze Buch" von Peter Kurzeck. In diesem Text ergeht sich der Erinnerungswahn eines Trunksüchtigen kunstvoll in der hyperrealistischen Reproduktion von Frankfurter Details. Doch bei Hilbig reicht die Selbstverachtung weiter, sie führt beinahe zur Selbstauflösung:

    "Er wartete, seine Kleider waren nicht mehr zu trocknen, sie rochen nach Moder und verschimmeltem Tabak; er selber roch längst wie seine sich zersetzenden Jeansklamotten, die man hier in Frankreich nicht trug; ihr Stoff, kalt wie Holz, das lange im Wasser gelegen hatte, schien sich mit seiner gewellten Haut legiert zu haben, mit seiner zu einer dauernden Gänsehaut aufgerauhten Epidermis, die sumpfig roch und dampfte; und selbst das Bett in dem kleinen Hotel auf dem Montparnasse roch schon nach Moor und Kohle, als wäre er ausgekocht worden während seiner kurzen Schlafstunden, in denen er krumm und entgleist auf der ungewohnt eingerichteten französischen Bettstatt lag und wüst von seinen sächsischen Wäldern träumte und glaubte, gesotten zu werden, vom elektrischen Licht, das draußen die Regensträhnen in Brand setzte; und während er schwitzte, kohlefarbene Tränen, die ihm aus allen Poren drangen, fühlte er, wie all seine innere Substanz ihn verließ und unter ihm in der Matratze versickerte."

    Hier leuchtet er wieder auf, der alte Hilbig-Ton, die Utopie der sächsischen Wälder, unberührt von der gesamtdeutschen neuen Sachlichkeit. "Das Provisorium" ist ein gewaltiger Kraftakt, eine Selbstentblößung, deren Mut ihresgleichen sucht. Ein Ende oder Ziel hat dieser Text nicht, das würde seinem Gestus der dumpfen Kreisbewegung widersprechen. Um aus einem derart gewaltigen autobiographischen Steinbruch Literatur zu schlagen, bedarf es eines Schriftstellers vom Range eines Wolfgang Hilbig, eines Orpheus der schwarzen Bahnhöfe. Dennoch nötigt das eher Respekt als Begeisterung ab. Der "Durst nach der Anwesenheit des Fasans auf dem Brikettberg in Meuselwitz", wie sich Fühmann ausdrückte, ist geblieben.