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Das Reformspektakel und seine demokratischen Subjekte

Rainer B. Schossig: "Die Kommissionen gehen, die Aufgaben bleiben", so seufzte CSU-Chef Edmund Stoiber gestern nach dem Scheitern der Föderalismusreform. Natürlich wurde sogleich auch ein neuer Anlauf zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung angekündigt. Die Chefs der bisherigen Kommission, Franz Müntefering und eben Edmund Stoiber, sagten gestern in Berlin pflichtschuldig, das Thema bleibe auch nach Auflösung des Gremiums auf der Tagesordnung. Da kann man sich auf was einstellen. Die Reformtagesordnung wird nämlich immer länger: Agenda 2010, Hartz IV, Arbeitslosengeld II, Zuwanderungsrechts-, Gesundheitsreform, ganz zu schweigen von Hochschul-, Rechtschreib- und Bildungsreform. Am Telefon begrüße ich den Sozialethiker Friedhelm Hengsbach in St. Georgen in Frankfurt. Herr Hengsbach, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem wunderschönen Titel "Das Reformspektakel". Worin besteht eigentlich dieses Spektakel? Im Feitstanz der Politiker, im Simulation- beziehungsweise Dauererregungszustand der Medien, die das spiegeln?

Moderation: Rainer B. Schossig |
    Friedhelm Hengsbach: Zum Teil sicher auch darin, im dem Widerspruch zwischen dieser virtuellen Welt, die auf der Bühne stattfindet und den Lebenslagen der Bevölkerung, die im Parlament gar nicht mehr abgebildet werden. Aber ich meine vor allen Dingen den Widerspruch zwischen den Ankündigungen von Jahrhundertwerken - auch Hartz IV ist ja vom Bundeskanzler als das schwerstwiegende, fundamentalste und komplexeste Stück der Sozialreform seit Bestehen der Bundesrepublik bezeichnet worden - und dann dem, was am Ende an Reparaturwerkstatt übrig bleibt. Man hat ja fast den Eindruck, das große Wort der Reformen wird gleichsam für den Schrotthandel benutzt.

    Schossig: Da werden so riesige Brocken einem hingeschmissen und Ergebnis sind dann natürlich Resignation, Ohnmacht, vielleicht sogar Gleichgültigkeit bei den Bürgern. Das summiert sich dann zum Phänomen der so genannten Politikverdrossenheit, vielleicht auch wieder ein Reformarbeitsfeld. Also Lust auf Wandel hat zur Zeit niemand mehr so recht. Dennoch stehen die ökonomischen Zeichen ja nicht so richtig auf Sturm. Warum also das Ganze?

    Hengsbach: Das belegt eigentlich diese These vom Spektakel. Auf der einen Seite haben wir natürlich auch eine sehr widersprüchliche Situation: Die jetzt bekannt gewordenen Gewinnentwicklungen der 30 DAX-Unternehmen auf der einen Seite, und gleichzeitig sind einige dieser Unternehmen, dieser Konzernleitungen, ja ganz verbissen daran, einfach die Lohnkosten zu senken. Das ist wohl aus der Sicht des Unternehmens sehr wahrscheinlich vernünftig, aus der Sicht des Einzelunternehmen, aber für die Inlandsnachfrage oder für die Volkswirtschaft hier in Deutschland ist das natürlich verheerend, weil gerade dieser Widerspruch auch noch mal deutlich wird: Exportüberschüsse auf der einen Seite, florierende Geschäfte und auf der anderen Seite eine stagnierende Inlandsnachfrage, die ja bestimmte Unternehmen in den Konkurs hineintreibt.

    Schossig: Das sind ja Dinge, die Sie als Sozialethiker eigentlich gar nicht unbedingt in Betracht ziehen müssen. Sie tun das, die Ökonomie ist wichtig. Sie sagen, die Beschlüsse der Agenda 2010 seien bedrohlich für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Das heißt ja, sie haben eine Wirkung auf die Menschen. Inwiefern? Wie sehen sie die?

    Hengsbach: Wenn man jetzt mal diese so genannten Sozialreformen nimmt, also Hartz IV, dann mag das aus der Sicht des einzelnen Langzeitarbeitslosen auch etwas Erfreuliches sein, für einzelne, aber insgesamt ist es natürlich eine bedrohliche Situation, als die Polarisierung, die Spaltung in der Gesellschaft durch diese so genannten Arbeitsmarktreformen natürlich verschärft wird. Es ist nicht nur eine Abwärtsspirale im Hinblick auf das Einkommen für einen Großteil der Betroffenen, sondern auch eine Abwärtsspirale der Qualifikation, für langzeitarbeitslose Ingenieure beispielsweise oder sonst qualifizierte Facharbeiter, und schließlich eine Abwärtsspirale, ich würde sagen, der Würde, Selbstbestimmung und auch der Selbsteinschätzung, weil sie ja jetzt in massiven Druck geraten, dass sie angeblich auf gleicher Augenhöhe mit der Arbeitsagentur verhandeln sollen. Aber das ist ja de facto gar nicht möglich, weil dahinter immer die Drohung steht, wenn du nicht ja sagst, dann musst du mit Leistungskürzungen rechnen. Das sehe ich als das Gravierende an. Insgesamt bin ich aber auch der Meinung, dass die Einschätzung der Lage schief ist. Die Regierung meint, dass die Arbeitslosen, die Langzeitarbeitslosen, keine Motivation haben, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Und das, denke ich, ist eigentlich die entwürdigende Unterstellung, dass diejenigen eben halt faule Säcke sind, dass sie nicht qualifiziert sind, nicht arbeitswillig sind und deshalb müsse man ihnen Druck machen. Das, denke ich, ist einfach die Schieflage der Interpretation, der Deutung der Situation.

    Schossig: Sie haben eben von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Diese Spaltung hatten wir ja früher, da war aber alles relativ klar, da hieß es: Eigentum verpflichtet und sozusagen auch zu sozialer Hilfe. Verantwortung der Manager heute bezieht sich eigentlich eher aufs eigene Portemonnaie, allenfalls noch auf einen Shareholder Value, wie man das nennt. Das wäre ja bei denen eine langfristige Erziehungs-, aber keine aktuelle Reformaufgabe. Wie geht man mit dieser neuen Spaltung um?

    Hengsbach: Ich denke, man muss die Hintergründe sehen. Es ist ja auch die Frage: Wer ist eigentlich der Treiber dieser ganzen Reformen? Ist das die Regierung? Also das Parlament ist es schon mal nicht. Das Parlament ist ja auch überfahren worden durch die Exekutive, durch die Regierung, durch das Kanzleramt, durch den Kanzler. Ist der Kanzler der Treibende? Oder sind es die so genannten wirtschaftlichen Eliten, diejenigen gleichsam, die sich in bürgerlichen Konventen zusammen geschlossen haben, die Druck ausüben? Oder sind es die Manager? Oder sind es dahinter noch mal, wenn man Berichte aus den Zeitungen ließt, sind die Manager nicht auch die Getriebenen, die gleichsam von dem Investmentfondsvertretern auf die Orientierung am Shareholder Value, das heißt, an den Interessen der Aktionäre hingetrieben werden? Dass das so unklar ist, wer eigentlich treibt, das macht die volle Verdrossenheit. Es sind nicht mehr die Akteure da, die auch für das, was sie beschlossen haben, gerade stehen müssen.

    Schossig: Sie sagen, um einer Lösung näher zu kommen, diesen Widersprüchen, vor denen wir so stehen, vor diesen großen Brocken, von denen Sie vorhin sprachen, dass der menschliche Faktor mehr Respekt verdient. Das klingt ganz gut, aber wie wäre das durchzusetzen, wo doch alles auf die Verbetriebswirtschaftlichung, wie Sie sagen, aller Lebensbereiche, hinausläuft?

    Hengsbach: Das wäre eigentlich die Umkehrung des Ausgangspunktes der Argumentation. Der Bundeskanzler spricht immer von Trends, Globalisierung, demographischem Wandel, Technik und viele andere tun das auch. Demgegenüber würde ich sagen, sollten wir nicht erst mal fragen: Was ist in den letzten 20 Jahren in den Köpfen und den Herzen der Menschen verändert worden? Der Wunsch nach eigenem Leben, der Wunsch nach gelingenden Partnerschaften, mit Kindern auch, der Wunsch, zeitautonom die Souveränität über die Zeit wieder zu gewinnen, den Teil für die Erwerbsarbeit und für die Privatsphäre selbst bestimmen zu können. Oder Leben im Einklang mit der Natur. Das sind eigentlich Wünsche, die bei den Menschen vorhanden sind, und Politiker müssten doch eigentlich fragen, in einer demokratischen Gesellschaft: Wie können wir diese Wünsche so vieler Menschen verwirklichen und wie können wir die wirtschaftliche Kraft und die Dynamik einsetzen, dass die Menschen glücklich leben, zufrieden leben, dass die Lebensqualität sich bessert.

    Schossig: Glück und Zufriedenheit kommen ja immer auch von dem, was man Gerechtigkeit nennt. Das wird ja auf den Montagsdemonstrationen auch immer wieder eingefordert. Nun heißt doch aber die neoliberale Regel, und man widerspricht ihr ja kaum noch: Risiken werden sozialisiert, Gewinne privatisiert. Das ist ganz normal, so funktioniert der Kapitalismus, zu dem gibt es keine Alternative mehr. Welche Ethik wäre denn dem entgegen zu stellen, Herr Hengsbach? Die Bergpredigt?

    Hengsbach: Nein, ich würde schon auch auf der Grundlage dessen, was in der Tradition der Philosophie oder auch der Politik an Gerechtigkeit formuliert worden ist, in Erinnerung rufen. Gerechtigkeit hat im Kern etwas mit Gleichheit zu tun, vor allen Dingen in demokratischen Gesellschaften. Das soll nicht eine Gleichheit in allen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen sein, aber zunächst einmal geht es darum, dass wir uns gegenseitig als Gleiche anerkennen. Und danach kann man dann über Differenzierungen sprechen, im wirtschaftlichen, politischen Bereich, aufgrund unterschiedlicher Talente und auch aufgrund unterschiedlicher Engagements. Aber das Grundlegende ist erstmal die Gleichheit, eine Vermutung für Gleichheit, und dann müssten die Unterschiede im wirtschaftlichen und sozialen Bereich gerechtfertigt werden durch persönliche Leistung und nicht Beziehung und Herkunft der Eltern oder durch reiche Eltern oder durch gebildete Eltern. Das denke ich, wäre der Ansatzpunkt. Gegenwärtig wird ja sehr viel über Gerechtigkeit diskutiert. Man spricht von Marktgerechtigkeit, von Leistungsgerechtigkeit. Verteilungsgerechtigkeit sei out, Chancengleichheit sei der neue Name für Gerechtigkeit. Aber man drückt sich im Grunde davor, diese Schieflagen der Verteilung im Einkommen und Vermögen zu korrigieren. Stattdessen meint man, so wie die Dinge sind, sind sie gerecht.

    Schossig: Gleichheit, das hieße ja, dass man, sie haben es vorhin erwähnt, eine Souveränität über die Zeit gewinnt. Da kommt mir ja gleich wieder so etwas wie die Ladenschlusszeiten. Wir werden ja dauernd von relativ weit entfernten Instanzen zu Zeitentscheidungen getrieben, die unsere Gleichheit eigentlich vollständig obsolet machen. Wir sind ja nicht gleich. Das wird oben bestimmt, die Dinge werden sehr weit oben festgelegt, unten kommt nichts mehr an.

    Hengsbach: Ja, das denke ich auch, dass zum Beispiel die Frage, das was im Parlament vorhanden ist - also die Parteien sind ja ununterscheidbar geworden - deshalb auch die Distanz in der Bevölkerung zu nimmt. Und wo sind eigentlich die Entscheidungsträger? Nicht im Parlament wohl, sondern sie werden im Kanzleramt, dann in Kommissionen, dann bei irgendwelchen Experten, bei Unternehmensberatungen, bei Bürgerkonventen vorentwickelt. Und das, denke ich, ist die entscheidende Frage, dass nicht mehr das Volk, das nicht mehr die Wählenden, also die Wähler und Wählerinnen mitentscheiden können, dass also nicht gleichsam die sozialen Konflikte und auch die Lebenslagen und die Interessen des unteren Teils der Bevölkerung in das parlamentarische System hinein kommen, und deshalb wird es wahrscheinlich notwendig sein, dass außerhalb des Parlamentes einen neue Bewegung entsteht, die diese echten Reformen, die wirksam sind auf der einen Seite, dass sie mehr Beschäftigung und auch mehr Wachstum bringen, und auf der anderen Seite auch gerecht sind, in die Öffentlichkeit hineinbringen.

    Schossig: Sie bringen jetzt etwas ins Spiel, Sie haben es zweimal genannt, diese Bürgerkonvente, das ist interessant. Es gab gestern den Vorschlag, jetzt einen Konvent mit Personen des öffentlichen Lebens mit den Problemen der Reform, eben zum Beispiel der Föderalismusreform zu beschäftigen. Nur mit Beteiligung von Persönlichkeiten aus der Gesellschaft, heißt es da, könne der Reformschlitten wieder in Gang kommen. Vielleicht fragt man ja auch Sie? Was würden Sie dazu sagen?

    Hengsbach: Gar nichts, auf keinen Fall. Ich würde genau das unterstützen, was Müntefering und Stoiber gesagt haben, das ist Aufgabe der Politik. Die müssen entscheiden und die müssen auch dafür gerade stehen. Dieses Abschieben von Verantwortung auf Kommissionen und auf irgendwelche nicht demokratisch legitimierten Einrichtungen, auch in der Öffentlichkeit, auch in den Medien, das, denke ich, ist ein völlig feudales Denken und wirklich antidemokratisch. Ich würde da sagen: Nein, innerhalb des demokratischen Systems und auch in sozialen Bewegungen außerhalb des parlamentarischen Systems muss die Gesellschaft sich darüber verständigen, wie die Lage ist. Die starke Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft, und darauf reagieren und sie muss auch die Ziele angeben, dass wirklich diese Spaltung der Gesellschaft überwunden wird, durch, ich meine schon, Wachstum auf der einen Seite und Erschließung neuer Märkte im Inland.

    Schossig: Das Reformspektakel und seine demokratischen Subjekte. Das war der Frankfurter Sozialethiker Friedhelm Hengsbach über die Frage, warum der menschliche Faktor in diesem Reformgedöns sehr viel mehr Respekt verdient.