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Das Sanatorium der Dichter und Denker und Mystiker

In seinem Essay "Zauberberg Riva" spürt Will Jasper einem Ort mit besonderer Bedeutung für das Geistesleben im frühen 20. Jahrhundert nach. In Riva am Gardasee begründete der Homöopath Christoph von Hartungen 1888 ein Sanatorium, das sie alle besucht haben: die Manns, Sigmund Freud, Franz Kafka oder Rudolf Steiner und sein Verehrer, Christian Morgenstern.

Von Helmut Mörchen | 01.09.2011
    Willi Jasper fokussiert um einen Ort Personen und Ereignisse zu einem großen und bunten kulturhistorischen Kaleidoskop des frühen 20. Jahrhunderts. Als "Zauberberg Riva" beschreibt er das Städtchen am Nordufer des Gardasees und lenkt zu Beginn den Blick auf ein traditionsreiches Sanatorium dort und einen besonderen Gast. Dass das von Thomas Mann aufgesuchte, von dem berühmten Arzt und Homöopathen Christoph von Hartungen 1888 begründete Sanatorium in Riva dem Autor beim Schreiben des "Zauberbergs" ganz offensichtlich vor Augen stand, wählt Jasper zum Einstieg in seinen überraschungsreichen, bei Matthes & Seitz erschienenen Essay.

    Nicht nur für Heinrich Mann und seinen Bruder Thomas war der Gardasee eine Schnittstelle zwischen Nord und Süd, zwischen deutscher Mystik und mediterraner Helligkeit. Im Norden ist der See eingebettet in eine an norwegische Fjorde erinnernde Felsenge, im Süden verläuft sich das Wasser der Alpen in adriatisch anmutenden flachen Stränden. Schon für Goethe bildete auf seiner "Italienischen Reise" der Gardasee den Grenzübergang zwischen dem dunklen Norden Europas und der Leuchtkraft des Südens.

    Bis 1914 suchten neben den Brüdern Mann, Sigmund Freud, Franz Kafka, Max Brod, Clara und Hermann Sudermann, Christian Morgenstern, Rudolf Steiner, Eugen d'Albert, Magnus Hirschfeld Erholung und Heilung am Gardasee.

    Christoph von Hartungen war der erfolgreichste Arzt in der Reihe einer berühmten österreichischen Medizinerdynastie. Sein Großvater, Schüler des Begründers der Homöopathie Samuel Hahnemann, hatte auf wundersame Weise den schwer erkrankten Feldmarschall Radetzky geheilt, der Enkel nun fand den richtigen Ton und die geeigneten Behandlungen für die Modekrankheit des europäischen Großbürgertums des Fin de Siècle und der Jahrhundertwende: die "Neurasthenie". Unter diesem Sammelbegriff wurden viele echte, aber auch eingebildete nervöse Beschwerden subsumiert, die nicht zufällig mit der explosiven Beschleunigung des Lebens durch die stürmische Entwicklung der Verkehrs- und Nachrichtentechnik um 1900 herum verstärkt auftraten. Wunderschön auf den Punkt gebracht hat das damals Otto Erich Hartleben mit seinem Therapievorschlag: "Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie!"

    Ein aufmerksamer Begleiter und Beobachter der in Riva rastenden Prominenten war ein junger Medizinstudent, Christl von Hartungen, der zweite Sohn des Sanatoriumsbegründers. Seine unveröffentlichte Autobiografie "In Krieg und Frieden durch Europa - Erlebtes eines österreichischen Arztes" ist eine wichtige Quelle für Jaspers Buch. Der junge angehende Mediziner war, von den Patienten seines Vaters "angesteckt", von dem Ehrgeiz beseelt, selbst später nicht nur deren Arzt, sondern intellektueller Gesprächspartner auf Augenhöhe mit ihnen zu sein.

    Nun ja, bei Heinrich und Thomas Mann musste er sich im Jahr 1902 erst einmal damit begnügen, die beiden auf dem See rudern zu dürfen. So wurde er im Boot Zeuge der erregten Streitgespräche der beiden Brüder, dem Beginn des in Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" und Heinrich Manns "Zola"-Essay gipfelnden Bruderstreits. Und er war Zeuge der zahlreichen erotischen Affären Heinrich Manns, die so üppigen Niederschlag in dessen frühen Romanen fanden.

    Es ist äußerst reizvoll, den Essayisten Jasper zu beobachten, wie er mit einem Zirkel Kreise um den magischen Mittelpunkt Riva zieht. Die Wellen um das Ruderboot mit den Brüdern Mann bilden die kleinsten Kreise. Die Behandlung einer Herzschwäche Sigmund Freuds im Jahr 1913 passiert dann schon nicht mehr am Gardasee, sondern in einem Kurort in den Dolomiten, in dem Christl von Hartungen als Kurarzt praktizierte. Die Empfehlung, auf Tabak und Alkohol vorübergehend zu verzichten und sich vor allem in frischer Bergluft viel zu bewegen, reichten zur Heilung und Stärkung Freuds, für den, wie zudem Willi Jasper vermutet, "die Tatsache, dass der junge Arzt aus Riva ihn in seiner Auseinandersetzung mit Jung ausdrücklich unterstützte, genesungsfördernder als die asketischen Verordnungen" war.

    Aber gravierender als solche räumlichen Ausweitungen sind die weiten und kühnen geistesgeschichtlichen Bögen, die Jasper schlägt. Riva ist für Jasper eben mehr als ein geografischer Ort. Riva wird, ähnlich wie der Monte Verita in Ascona, zur Metapher für das damalige Reformfieber einer erlösungssüchtigen Welt. Und Riva ist auch im Wechsel von Österreich zu Italien ein politischer Topos des krisen- und kriegserschütterten Europas. Auch in diesem Zusammenhang steht der nun schon so oft genannte Christl von Hartungen im Zentrum des kriegerischen Hurrikans.

    Die Hartungens haben aber nicht nur Krankheiten behandelt. Im Jahr 1896 gewährte Christoph von Hartungen senior dem in einem gesellschaftlichen Skandal, einem Eifersuchtsdrama verwickelten Wiener Schauspieler Alexander Girardi Asyl. Und im Jahr 1905 fand sich das Schriftstellerpaar Hermann und Clara Sudermann am Gardasee ein, um "mit dem Sanatoriumsleiter beim Genuss von Gerstensuppe, Haferkleie, Polenta, Rüben, gekochtem Obst, Käse und Milch über Gott und die Welt" zu sprechen. Die beiden, in einer künstlerischen und menschlichen Beziehungskrise, brauchten über Jahre von Hartungen als Paarberater. Offensichtlich nicht ohne Erfolg, denn die Ehe hielt über 30 Jahre bis zum Tod Clara Sudermanns im Jahr 1924.

    Zuletzt nun noch der Blick auf einen Patienten, dem nicht geholfen werden konnte. Christian Morgenstern, schon als 30-Jähriger an der eigentlichen "Zauberberg"-Krankheit, einer klassischen Tuberkulose, erkrankt, erlag ihr, nur 43 Jahre alt, am 31. März 1914 in Meran. Der kranke Morgenstern lebte als Dauerpatient in Sanatorien; in Davos, Arosa, Meran und eben auch am Gardasee bei den von Hartungens. Jaspers Schreibstrategie, von den Rivaer Aufenthalten das ganze Leben der von Hartungschen Patienten aufzurollen und mit kühnen, kräftigen und zuweilen mutig vereinfachenden Strichen auch ihr Werk vorzustellen, ist in dem Morgenstern-Kapitel besonders ausgeprägt. Nach der Skizzierung der Einflüsse von Ibsen und Nietzsche auf den kranken Dichter beißt sich Jasper an Morgensterns Verehrung für Rudolf Steiner fest. Minutiös listet er die zwischen und in die Sanatoriumsaufenthalte eingefügten Reisen zu Steiner-Vorträgen da und dort auf. Offensichtlich kann und will Jasper diese Steiner-Verehrung nicht akzeptieren. So wie in seiner Darstellung Morgenstern zu einem Stalker Steiners stilisiert wird, verrät er sich als erstaunlich wenig gelassener Steiner-Hasser. Dabei zieht Jasper einen Joker, mit dem er sich biografisch von Morgenstern und räumlich am weitesten von Riva entfernt. Denn bei dem Steiner-Vortrag in Paris in den 20er-Jahren, über den Kurt Tucholsky berichtete, konnte Morgenstern ja gar nicht mehr dabei sein, und Tucholsky war wohl nie am Gardasee. Und doch möchte man Jasper danken, dass der dreiseitige Auszug aus Tucholskys Artikel das längste geschlossene Zitat seines Buches ist. Denn allein schon die Entdeckung dieser genial formulierten Kritik der Steiner-Rede mit der klugen Entlarvung eines der erfolgreichsten "Reformer" des frühen 20. Jahrhunderts lohnt die Lektüre von Jaspers Buch.

    Willi Jasper: Zauberberg Riva
    Matthes & Seitz, Berlin 2001. 271 Seiten, 19,90 Euro