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Das Schicksal junger Afghanen
Flucht in den Tod

In den ersten drei Monaten des Jahres sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration mehr als 172.000 Flüchtlinge und Migranten an Europas Küsten angekommen. Mehr als 700 Menschen bezahlten ihren Fluchtversuch mit dem Leben. Wie gehen die Überlebenden und trauernde Angehörige mit dem Tod um? Eindrücke aus Kabul.

Von Sandra Petersmann | 13.04.2016
    Flüchtlinge aus Afghanistan kommen in einem Schlauchboot am Strand der griechischen Insel Lesbos an.
    Bei der häufig gefährlichen Überfahrt sterben immer wieder Flüchtlinge. (afp / Soeren Bidstrup / Scanpix Denmark)
    Waris Aslami kann sein Smartphone nicht aus der Hand legen, auf dem er die letzten Bilder seines toten Sohnes gespeichert hat. Das letzte Foto zeigt den zweijährigen Jungen nach der Obduktion. Auf einem Metalltisch in einem Krankenhaus in der türkischen Hafenstadt Izmir. Der kleine Mohammed Yusuf starb in den Armen seines Vaters. Im Mittelmeer.
    " Ich habe alles versucht, um meinen kleinen Sohn am Leben zu halten. Ich habe es sechs Stunden lange versucht", sagt Waris. Aber das Wasser war so kalt. Ich konnte ihn nicht retten. Er erfror in meinen Armen". Waris schildert die Grausamkeit des Überlebenskampfes mit monotoner Stimme. Sein Blick bleibt auf den Boden gerichtet. Der 25-Jährige hat nicht nur den kleinen Mohammed Yusuf verloren, sondern auch seine Frau Mastura, die im siebten Monat schwanger war.
    "Ich werde das alles niemals vergessen können, ich habe alles verloren, was mir in meinem Leben wichtig war." Waris hasst sich selber für die fatale Entscheidung, die er am 20. Januar 2016 traf. Er war damals mit seiner Familie am frühen Abend auf der Darul-Aman-Straße in Kabul unterwegs, als sich dort ein Selbstmordattentäter der Taliban mit einem Auto in die Luft sprengte und sieben Angestellte des Fernsehsenders Tolo mit in den Tod riss. Sein kleiner Sohn versteifte sich und schrie panisch, seine Frau war wie gelähmt und erlitt einen Schock. Die Nähe zum Anschlag war eine Kehrtwende im Leben der Familie, erklärt Waris.
    Nur 15 der 40 Bootsinsassen überlebten
    "Das war eine bewusste Entscheidung. Ich hatte einen guten Job im Bildungsministerium. Ich wusste, dass ich in Europa, in Deutschland, nicht mehr Respekt und nichts Besseres finden würde als hier zu Hause. Aber ich war bereit, Teller zu waschen für mehr Sicherheit". Waris organisierte Pässe und Visa und flog mit seiner kleinen Familie in den Iran. Von dort schleusten Menschenschmuggler die Familie in die Türkei. Am 6. März bestiegen die drei Afghanen mit etwa 40 anderen Menschen ein altes, marodes Boot, das in hohen Wellen schnell in Seenot geriet und Griechenland nie erreichte.
    "Nur 15 von uns haben überlebt", erinnert sich Waris. Sie wurden von der türkischen Küstenwache gerettet.
    "Ich bin so wütend auf die Schmuggler, denen sind unsere Leben völlig egal", klagt der junge Mann an. Nach seinen Angaben konnte der Steuermann des überfüllten Bootes nicht steuern. Mitte März flog Waris aus Istanbul mit zwei Särgen zurück nach Kabul. Er lebt jetzt wieder im Haus seiner Eltern. Die Familie ist nicht arm. Waris arbeitet wieder im Bildungsministerium.
       Ein Flüchtlingsmädchen aus Afghanistan sitzt mit Kopftuch in einem Klassenraum der Maxim-Gorki-Oberschule in Bad Saarow (Brandenburg) und lernt Deutsch
    Tiefe Trauer gehört nach 40 Jahren Krieg und Gewalt zum Alltag in Kabul. (dpa / picture alliance / Oliver Berg)
    "Ich fühle mich hier immer noch unsicher in Kabul. Aber ich habe alles verloren. Ich muss mein Leben jetzt hier alleine weiterleben. Ich werde nicht mehr fliehen", versichert Waris. Er schaut auf seine beiden jüngeren Brüder, die gerade selber in Istanbul angekommen waren, als er mit seiner Familie das Todesboot bestieg. Auch die beiden Brüder wollten nach Europa fliehen. Dem Vater der drei jungen Männer schießen die Tränen in die Augen.
    "Am Anfang habe ich noch versucht, meinen Kindern die Flucht auszureden. Aber dann bekam ich Angst, dass sie mich verantwortlich machen, wenn ihnen hier in Kabul etwas zustößt", sagt der weißbärtige Haji Mohammed Hussain. Doch nach der Tragödie im Mittelmeer entzog er seinen Kindern die Erlaubnis zur Flucht. Die Söhne kehrten zurück. Die Familie hat nach eigenen Angaben rund 30.000 Dollar bezahlt. Für die Schmuggler, die Tickets und für die Überführung der Särge. Für eine Flucht in den Tod.
    Alltagsangst und Terroranschläge
    Tiefe Trauer gehört nach 40 Jahren Krieg und Gewalt zum Alltag in Kabul. Bibi Aisha blättert unter Tränen durch das Hochzeitsalbum ihres Sohnes Hashmatullah und ihrer Schwiegertochter Arzoo. Die beiden waren erst acht Monate verheiratet. Ein fröhliches junges Paar, das sich auf die Geburt seines ersten Kindes freute. Ein totes junges Paar.
    "Vor vier Jahren hat der Krieg auch Kabul wieder erreicht", betont Bibi Aisha und berichtet von der Arbeitslosigkeit ihres Sohnes. Von seiner Wut und Verzweiflung, als junger verheirateter Mann mit Universitätsabschluss keine Arbeit zu finden. Von der Alltagsangst und den Terroranschlägen. Bibi Aisha macht den Krieg für das Schicksal ihres Sohnes Hashmatullah verantwortlich. Doch an dieser Stellte wird sie von ihrem ältesten Sohn Ahmad Shah unterbrochen.
    "Die europäischen Grenzen waren doch offen für Flüchtlinge, und plötzlich waren sie zu. Warum? Europa ist auch verantwortlich für den Tod meines Bruders", klagt er an.
    Hashmatullah, 28, und seine Frau Arzoo, 25, wollten nach Deutschland. Sie ertranken am 14. März im Grenzfluss Suva Reka, als Hunderte verzweifelte Menschen aus dem Lager Idomeni in Griechenland versuchten, nach Mazedonien durchzubrechen. Auch Arzoos 18-jährige Schwester überlebte den Fluchtversuch nicht. Die Balkan-Route war geschlossen. Der EU-Türkei-Deal wurde sechs Tage später unterzeichnet.
    "Unsere Hoffnungen wurden zerstört. Hashmatullah war unsere große Hoffnung, und wir haben ihn verloren", sagt Bibi Aisha leise. In den ersten drei Monaten 2016 erreichten mehr als 38.0000 Afghanen Griechenland. Im April ist die Zahl der Ankommenden deutlich gesunken. Doch die Schmuggler haben schon damit begonnen, für andere Routen zu werben.