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Das Schweigen am andern Ende des Rüssels

Er verabscheute Reisen. Von den tausend Beschwerlichkeiten und Entbehrungen spricht er in einem Atemzug mit der tödlichen Langeweile des Reisens. Unbegreiflich ist ihm die Beliebtheit von Reisebüchern, die Allerweltswissen verbreiten. Scham hält ihn jahrelang davon ab, das Buch zu schreiben, das zu einem der berühmtesten Reisebücher aller Zeiten wurde: Die Traurigen Tropen. Sein erstes Kapitel handelt vom "Ende des Reisens". Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss trauert einer "Zeit der wahren Reisen" nach, als das große Schauspiel Welt noch nicht "verpfuscht, verseucht, verflucht" war und man "vier Monate im voraus buchen mußte" - kurzum: als die Pracht noch exklusiv genossen und noch nicht mit anderen geteilt wurde. Doch bediente er sich längst der Kursbücher, Polster, Linien und Kabel des modernen Verkehrs, der den Massentourismus hervorbrachte.

Sibylle Cramer |
    Dem Wehgeschrei der Nostalgiker setzt Matthias Politycki ein Buch entgegen, das die großen Tragödien und Komödien des Massentourismus entdeckt und die Würde, den Glanz seiner Helden. Der Hamburger Schriftsteller hat sich mit Büchern wie Taifun über Kyoto, Weiberroman und Ein Mann von vierzig Jahren als gesellschaftszugewandter Erzähler einen Namen gemacht. Nun greift er Jean Pauls Vorschlag einer dichterischen "Reiseapotheke für die Seele" auf. Er spannt die Sprache zwischen Orten und Menschen aus wie ein Gespinst und läßt seine Reisenden als lebendige Weberschiffchen zwischen den Sehenswürdigkeiten in aller Welt hin- und herfahren. Dabei verwebt er seinen Ariadnefaden zu einem Gespinst, das die Rolexvölker in Wohnwagen, Bussen, Chartermaschinen und Feriensilos in Gesichter verwandelt.

    Die Naturschauspiele, die sie in Sharm el-Sheik, Jesolo, Kandy und Madurai bestaunen, werden in seinen Streiflichtern und Schnappschüssen zu Schauspielen der menschlichen Natur. Die schönsten seiner Texte sind Metamorphosen. Sie erzählen noch einmal die große alte Geschichte von der Verwandlungsmacht der Existenz im Stoff der Leidenschaften. Doch nicht liebeskranke Götter und Heroen jagen flüchtige Geliebte, sondern wirklichkeitsmüde Fußballfans aus Bayern, Oberstudienräte aus Bremen, Hamburger Geschäftsleute, Arztfrauen, pensionierte Zauberkünstler und Reformhausideologen verwandeln sich in Schwärmer und Besessene. Sie folgen den Lockungen ihrer Träume, dem Ruf in ein Jenseits selbstverlorenen Daseins und zeitlosen Glücks. Diesen Jetzt-Punkt legt Politycki frei. In ihm gelangt die Reise als ein Angriff auf die Zeit an ihr Ziel. Die Zeit wird ausgelöscht, die Vergangenheit und die vergangene Zukunft zwischen 1971 und 2009, aus denen Politycki erzählt. Die Welt steht still, der Augenblick weitet sich und füllt sich - aber womit?

    Die Erzählungen "Tod eines Thunfischs" und "Soon come" beziehen zwei gleiche, aber nicht gleichzeitige solcher Sekunden aufeinander. Es handelt sich um den langen Augenblick des Sterbens, den der Erzähler einmal als Zuschauer erlebt und einmal als knapp dem Tode entrinnender Taucher. Ihre Botschaft verkünden die Texte gebetsmühlenartig im Refrain, der sie strukturiert. Das stereotyp wiederkehrende "Und ansonsten?" treibt die Inventarisierung einer Mittelmeerreise voran und steuert die Sätze geradewegs auf die negative Pointe zu: das langsame Sterben eines gefangenen Thunfischs, die Routine der Fischer und den Schmerz des Beobachters, dann die leere Sekunde im Moment seines Abklingens, die sich mit Erinnerungen an ausgelöste Ochsenaugen auf dem Markt von Salvador da Bahia füllen. Der ekstatische Zeitsprung, den die moderne Literatur immer wieder zum Gegenstand utopischer Spekulation machte und als Augenblick gesteigerten Daseins beschrieb, in dem eine transzendente Heimat aufleuchtet - hier, im Licht der vernunftkontrollierten Erfahrung, die Politycki beschreibt, ist er ein Augenblick leeren Schreckens in einem irdischen Jenseits. Für das Glück, die Wunder und Märchen des Reisen sorgt bei Politycki das Leben, das Lebendige, die Menschen.

    Der Autor macht die unentwegt knipsenden Horden in Turnschuhen nicht zum Gegenstand seiner abgerückten Betrachtungen, er macht mit. Die Völkerwanderungen zwischen der inneren Mongolei, dem Erntedankfest auf Mauritius, der Tempelanlage von Kamakura und der heimischen Reihenhaus- und Kaufhauswelt haben Helden wie Paul und Pjotr. Pjotr ist ein Engel des Reisens, ein Reiseführer der höheren Art, der alle Türen und Tore öffnet und Rußland in eine freundliche Familie von Gastgebern verwandelt. Pjotr beseitigt alle Strapazen, Hindernisse und Schikanen mit Engelszungen, mit dem Glücksgeist seiner immerwährenden Heiterkeit, verschwenderischen Verheißungen und der Wunderkraft seiner Überredungskünste.

    Paul nimmt an einer Safari rund um den Viktoriasee teil. Innerhalb kürzester Zeit sind alle, auch der Erzähler, gegen ihn verbündet, denn Paul wäscht sich nicht, stinkt, rülpst, ist fett und pickelig, schlägt das Wasser ab, wo er geht und steht, und wenn er den Mund aufmacht, verbreitet er sich über faule Neger, die Affen von den Bäumen pflücken und auf alles scharf sind, was glitzert. Und dann, leise, leise, sachte dreht sich der Erzähler um seine Achse. Am Ende sitzt er an Pauls Krankenbett und bewacht den fieberkranken Katzenboutiquebesitzer aus Garbsen, der nach Afrika kam, weil er die Katzen liebt, und vermutlich sterben wird, ohne einen einzigen Löwen in freier Wildbahn gesehen zu haben.

    Der Autor verklammert die weit auseinanderliegenden Orte, Ereignisse und Figuren, indem er Nähe und Ferne ineinander blendet. Z.B. die Abendandacht in der Moschee einer Sahara-Oase und das Protokoll vom Sterben des Vaters. Die erzählerische Synopse fördert das Gebet zutage, das sich im Sachlichkeitsüberschuß des Protokolls versteckt. Die (arg platten) Spottgestalten und Helden des Reisens rücken nebeneinander: Schnarchchöre im afrikanischen Busch, Stöckelschuhdamen in den Sümpfen Fernosts und die amerikanische Beatgeneration der fünfziger und sechziger Jahre mit ihren rhapsodischen Erzählungen, blues, rags und travel-songs, die in den beiden Balladen am Anfang und Ende des Buchs aufsteht. Die eine eigentliche Heldin der Erzählungen bleibt naturgemäß ungenannt: die Sprache Matthias Polityckis.