Freitag, 19. April 2024

Archiv

Das soziale Gehirn
Warum wir mitfühlen und mitleiden

Warum fühlen Menschen mit anderen mit, erkennen intuitiv, ob der andere sich freut, ärgert oder nervös ist? Seit geraumer Zeit untersuchen Forscher, was bei sozialem Miteinander im Gehirn passiert und kommen zu dem Ergebnis: Der Mensch ist besser als sein Ruf.

Von Ingeborg Breuer | 02.10.2014
    Symbolfoto Paarbeziehung für Zuneigung, Liebe, Sex, Differenz, Sympathie
    Der gelungene Kontakt zu anderen Menschen aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn. (dpa / picture alliance / Klaus Rose)
    "Das sogenannte intuitive Verstehen kann man charakterisieren, dass wir zentrale Gefühle, Emotionen im Gesicht einer Person sehen können, dass wir aber auch intuitiv erfassen, wenn eine Anspannung in einer Diskussionsrunde vorherrscht."
    Prof. Albert Newen, Philosoph an der Ruhr-Universität in Bochum.
    "Bei anderen Situationen können wir an der Tonlage hören, ist die Tonlage aggressiv, gelangweilt, bedrohlich. Da haben wir auch angeborene Fähigkeiten, weil das evolutionär sehr wichtig ist. Bei anderen Feinheiten, ob jemand beleidigt ist oder aufgeregt, da sind Lernprozesse wichtiger."
    Wieso ist Gähnen ansteckend?
    Wieso können sich Menschen in andere hineinversetzen? Wieso tut es uns auch weh, wenn jemand sich in den Finger schneidet? Wieso ist Gähnen oder Lachen ansteckend? Warum nehmen wir überhaupt am Schicksal anderer teil? Dass der Mensch ein "zoon politokon", ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes Wesen ist, hatte schon Aristoteles vor 2000 Jahren beschrieben. Doch was die Philosophie seit Langem behauptet, will die "soziale Neurowissenschaft" mit Fakten untermauern, so Prof. Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm:
    "Sonst bewegt man sich ja doch im Bereich der Ideologie, der Mensch ist eigentlich ... Da kann man irgendwas sagen und das Gegenteil trifft auch zu. Aber so kann man Fakten ins Spiel bringen und nicht bloß Werte. Und ich denke, die Hirnforschung hat klare Fakten zutage gebracht."
    Wie unser Einfühlungsvermögen im Gehirn programmiert ist, war das große Thema des Symposiums "Das soziale Gehirn", das am vergangenen Wochenende in Fürth stattfand. Erste Hinweise auf die neurobiologische Verankerung sozialer Beziehungen gibt es schon lange. Dr. Rainer Rosenzweig, Veranstalter der Tagung, über ein Experiment im Jahr 1991:
    "Das war ja so, dass es einen Forscher gab, der in seinem Labor stand und einen Probanden vor sich hatte, bei dem er vom Gehirn einzelne Zellen abgeleitet hat."
    Spiegelneuronen als Basis des menschlichen Miteinanders
    Damals wollte der Neurophysiologe Giacomo Rizzollatti untersuchen, wie das Gehirn eines Affen – denn sein Proband war ein Makake – arbeitet, wenn das Tier nach Futter greift. Alles funktionierte wie erwartet. Die Neuronen des "Areal F5" im Gehirn, das für Bewegungsmuster der Hand zuständig ist, wurden aktiv. Erleichtert griff Rizzollatti selbst zu der Tüte mit Nüssen. Aber, so bemerkte der Forscher erstaunt:
    "Plötzlich feuert die Zelle, obwohl der Proband sich überhaupt nicht bewegt hat. Das war ärgerlich, weil der Wissenschaftler zunächst dachte, das ist ein Artefakt. Er hat sich geärgert, wollte Pause machen, greift zu seinem Mantel. Und plötzlich gibt's wieder eine Reaktion, und das, obwohl der Proband sich überhaupt nicht bewegt. Und der Wissenschaftler hat dann nach einigen Versuchen festgestellt, dass er tatsächlich was Neues entdeckt haben muss."
    Die Zellen im Affenhirn feuern also nicht nur, wenn das Tier selbst nach einer Nuss greift, sondern auch, wenn ein anderer die Hand danach ausstreckt. Die Zellen spiegeln also die Bewegung eines Gegenübers wider. Sollten diese Spiegelneuronen etwa die "biologische Basis" des menschlichen Miteinanders sein?
    "Diese Zellen haben einen großen Hype hervorgerufen. Man hat sich dann auch verstiegen in alle möglichen Behauptungen, dass damit jetzt das Mitgefühl völlig erklärt sei, dass dieses Spiegelneuronensystem uns überhaupt ermöglicht, Mitgefühl mit dem anderen zu erzeugen, indem ich dann nicht nur sehe, und mir das vorstellen kann, was dann passiert, sondern ich erfühle es auch, ich empfinde es auch, als würde ich es selbst tun."
    Das "soziale Gehirn"
    Mittlerweile weiß man, dass es komplizierter ist. Kai Vogeley etwa, Professor für Psychiatrie an der Uniklinik Köln, unterscheidet zwischen Spiegelneuronen und einem weiteren neuronalen Netzwerk, dem sogenannten "Mentalisierungssystem". Beides spielt in einer bislang nur teilweise erforschten Weise zusammen, wenn wir eine andere Person verstehen.
    "Die Aufgaben der beiden Systeme kann man nicht sicher beschreiben, sondern nur spekulieren. Aber es könnte so sein, dass dieses Spiegelneuronensystem eher was mit sozialer Kognition zu tun hat, die in Beziehung steht zu Bewegung im Raum, während das Mentalisieren, vergleichsweise unabhängig von Raumbewegungen, sich auf die innere Verfassung einer Person richtet."
    Kai Vogeley wies aber auch nach, wie grundlegend das Gehirn auf soziale Beziehungen gerichtet ist. Er konfrontierte dafür Versuchspersonen im Hirnscan mit virtuellen Gesichtern, die manchmal Blickkontakt zu den Versuchspersonen herstellten. Gelang der Kontakt, begannen die Versuchspersonen, ebenfalls zu reagieren, etwa durch ein Lächeln. Und bei dieser Interaktion sprang sogar das Belohnungssystem in ihrem Gehirn an.
    "Das Belohnungssystem wird immer dann aktiv, wenn wir uns in Interaktion mit anderen Personen begeben und diese Interaktionen aus unserer Sicht erfolgreich verlaufen. Also wenn ich die andere Person dazu bewegen kann, meinem eigenen Blick zu folgen, dann findet man Belohnungssystemaktivierung. Aber es gibt keine Aktivierung des Belohnungssystems, wenn ich mit Computern interagiere."
    Dass der gelingende Kontakt zu anderen Menschen "angenehme Gefühle" verursacht, so Kai Vogeley, war für den evolutionären Erfolg des Menschen eminent wichtig:
    "Wir werden belohnt dafür, dass wir mit anderen interagieren und das ist der Grund dafür, dass wir das immer wieder tun. Und dass ist der Grund, warum wir dann erst zu solchen Leistungen wie Kultur und Wissenschaft gekommen sind. Weil das schwer vorstellbar ist, dass eine Person das für sich allein entwickeln kann, sondern das braucht die kognitiven Ressourcen von ganz vielen Menschen über ganz viele Generationen hinweg."
    Einsamkeit tut weh
    Gelingende soziale Interaktionen verursachen demnach positive Gefühle. Soziale Zurückweisung dagegen bereitet Schmerzen, ebenso übrigens das Gefühl, unfair behandelt zu werden. Wenn man bei einem Ballspiel, so das Experiment eines amerikanischen Forscherteams, einen Spieler vom Spiel ausschloss, indem man ihm plötzlich keine Bälle mehr zuwarf, wurde dessen Schmerzzentrum aktiv.
    "Das gehört zu den interessantesten Entdeckungen der sozialen Neurowissenschaft, der Volksmund hat das schon immer gewusst, Einsamkeit tut weh. Und das hat die Gehirnforschung gefunden, dass die gleichen Zentren, die für Schmerzempfindung zuständig sind, deren Aktivierung geht auch mit dem Erleben von Einsamkeit einher."
    Das körpereigene Alarmsystem schlägt erstaunlicherweise ebenso bei gefährdeten sozialen Beziehungen wie bei einer körperlichen Verletzung an. Beides dient evolutionär dem Überleben der Art, so der Hirnforscher Manfred Spitzer:
    "Das versteht man evolutionär, denn Schmerzen sind wichtig für unsere körperliche Integrität, da geht was kaputt. Und wenn die Gruppenintegrität kaputt geht, dann ist das genauso schlimm, wie wenn meine Hand oder mein Fuß kaputt geht, weil ohne Hand und Fuß kann ich nicht leben und ohne meine Gruppe auch nicht."
    Vertrauen und Kooperation begründen evolutionären Erfolg
    Der Mensch hat also, so das Ergebnis in Fürth, ein "soziales Gehirn". Nicht Konkurrenz und rücksichtslosen Durchsetzen eigener Interessen waren der Grund für den evolutionären Erfolg der Menschen, sondern – Vertrauen und Kooperation.
    "Wer ist am fittesten? Nicht der Egoist der alles umhaut, sondern die Gruppe, die sich untereinander unterstützt, also kooperiert und dadurch effektiver ist als eine Gruppe von nicht kooperierenden Wesen. Deswegen folgt aus der Tatsache der Evolution eben nicht, dass wir immer nur Konkurrenzwesen sind, sondern man kann genauso argumentieren, dass Kooperation unser eigentliches Ding ist."
    Der Mensch ist besser als sein Ruf, so das Fazit von Manfred Spitzer. In manchen Regionen der Welt möchte man das allerdings angesichts von Kriegen und Massakern im Augenblick kaum glauben. "Gehirne zwischen Liebe und Krieg" wird deshalb auch das Thema des nächsten Fürther Symposiums sein. Aber Manfred Spitzer beschrieb schon jetzt Grenzen des "sozialen Gehirns". Männer nämlich können – unter bestimmten Umständen – höchst unsozial sein:
    "Eine Frau, die sieht, wie ihr Feind Schmerzen hat, leidet auch mit und ein Mann freut sich. Man legt Leute in den Scanner, vornweg machen die so eine Art Spiel, wo der eine den anderen übers Ohr haut oder fair behandelt. Und nachdem der eine als netter Kerl und der andere als 'der haut mich übers Ohr' identifiziert ist, wird dem Schmerz zugefügt. Und ich sehe, wenn mir Schmerz zugefügt wird, geht mein Schmerzzentrum an. Wenn ich sehe, wie meinem Freund Schmerz zugefügt wird, geht mein Schmerzzentrum auch an. Und beim Mann geht es nicht an, wenn der sieht, wie seinem Feind Schmerz zugefügt wird. Da geht sogar sein Freudeareal ein bisschen an. Und bei der Frau geht das Freudeareal nicht an, sondern das Schmerzareal. Also Frauen sind auch gegenüber ihren Feinden zu Empathie fähig, Männer nicht."