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"Das Sozialstaatsprinzip wird zurzeit verletzt"

Der Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, Wolfgang Neskovic, begründet seine Kandidatur für die Linkspartei bei der Bundestagswahl mit dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzip, das "zurzeit verletzt" wird. Das Wahlprogramm der PDS biete eine seriöse Alternative, erklärte Neskovic.

Moderation: Hans-Joachim Wiese | 26.07.2005
    Wiese: Außer Oskar Lafontaine und Gregor Gysi hat die neue Linkspartei eigentlich kaum bundesweit bekannte Galionsfiguren zu bieten. Es ist vielleicht auch nicht nötig, wenn man stattdessen mit überzeugenden inhaltlichen Argumenten im Bundestagswahlkampf mitmachen würde. Immerhin hat die Brandenburger PDS jetzt einen Kandidaten für ihre Landesliste präsentiert, der zumindest mal bekannt war und der immer dafür gut ist, für Furore zu sorgen. Den sicheren vierten Listenplatz bekommt Wolfgang Neskovic. Er ist parteilos, Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, und wirbelte 1992 viel Staub auf, als er das Recht auf Rausch forderte und die Gleichbehandlung von Cannabis und Alkohol. Ihn begrüße ich jetzt am Telefon. Herr Neskovic, ein Bundesrichter als Kandidat der neuen Linkspartei. Das ist ja eigentlich schon Provokation genug, oder?

    Neskovic: Das hängt vom Horizont derjenigen ab, die jetzt darüber urteilen wollen. Für mich persönlich ist es nicht ungewöhnlich. Der Richter darf sich politisch betätigen. Er kann demnach auf für das Parlament kandidieren, und ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass berufliche Kompetenz, die man erworben hat, auch zur Verfügung gestellt wird. Ich würde sogar sagen, es ist naheliegend, dass ein Richter, der die Gesetze anwendet, jetzt auf der anderen Seite auch mal tätig wird. Hin und wieder hat er ja auch Gelegenheit, sich über schlecht gemachte Gesetze zu beklagen, nicht nur wegen ihres Inhaltes, sondern auch in der handwerklichen Ausführung. Jetzt kann ich dazu beitragen, Gesetze gegebenenfalls auch handwerklich besser zu gestalten, wobei allerdings die Inhalte bei mir im Vordergrund stehen.

    Wiese: Sie müssen aber, falls Sie denn gewählt werden, Ihr Amt ruhen lassen.

    Neskovic: Das ist etwas, was ich bedaure, denn ich habe meine richterliche Tätigkeit immer mit Herzblut betrieben. Ich bin mit Leib und Seele Richter und habe auch deswegen schon früher Optionen und Angebote, die ich hatte, im Parlament oder Regierungsämtern tätig zu sein, abgewählt. Jetzt bin ich 57 Jahre, habe als Richter vom Amtsgericht bis zum Bundesgerichtshof alle Tätigkeitsfelder kennengelernt, und jetzt reizt es mich, zum Abschluss gewissermaßen auf der anderen Seite tätig zu werden, und das vor dem Hintergrund meiner gesammelten beruflichen und persönlichen Erfahrung.

    Wiese: Dass Sie 2002 Richter am Bundesgerichtshof wurden, war ja schon mehr als umstritten. Schließlich hatten Sie den Bundesgerichtshof als "Bastion der Ignoranz" bezeichnet und die Arroganz der Richter beklagt. Nun kandidieren Sie für eine explizit linke Partei. Glauben Sie, dass Sie jemals wieder auf Ihren Richterstuhl zurückkehren werden?

    Neskovic: Davon bin ich überzeugt. Erstens ist es so, dass ich beurlaubt werde, demnach also einen Rechtsanspruch darauf habe, zurückzukehren. In der Zeit meiner Tätigkeit beim Bundesgerichtshof habe ich auch meine Kollegen überzeugen können. Ich habe, bevor ich diese Kandidatur bekannt gegeben habe, mit den Kollegen und Kolleginnen meines Senates gesprochen, sie von dieser meiner Absicht in Kenntnis gesetzt.

    Wiese: Waren sie nicht entsetzt?

    Neskovic: Sie waren nicht entsetzt. Das kann ich so mit Fug und Recht sagen. Sie waren einerseits, ja, betrübt aus persönlichen und fachlichen Gründen unter dem Gesichtspunkt, dass ich sie möglicherweise verlasse. Es war kein einziger dabei, der das missbilligt hat, wobei ich nicht sagen will, dass man unter dem politischen Gesichtspunkt mir gesagt hat, sie würden das auch für diese Partei machen. Es hat Kollegen gegeben, die hätten eine solche Entscheidung auch getroffen, allerdings für eine andere Partei.

    Wiese: Immerhin werden zumindest einige PDS-Mitglieder von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Stört Sie das nicht als Bundesrichter?

    Neskovic: Das halte ich für einen Skandal. Es besteht keine Veranlassung, die PDS verfassungsrechtlich zu beobachten. Diejenigen, die so etwas tun, haben aus meiner Sicht keine sachliche Grundlage. Wenn so etwas geschieht, dann halte ich das für rechtswidrig.

    Wiese: Also steht die PDS Ihrer Meinung nach voll und ganz auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung, und Sie brauchen, wenn Sie auf Ihrer Landesliste kandidieren, keine Angst vor einem Berufsverbot zu haben?

    Neskovic: Das sehe ich so. Ich bin sogar der Meinung - und das ist ein wesentlicher Punkt für meine Kandidatur -, dass das Sozialstaatsprinzip, das zu den zentralen Grundwerten unserer Verfassung gehört, zur Zeit verletzt wird. Ich meine, viele Menschen sorgen sich zurecht um die soziale Gerechtigkeit in unserem Land. Den Spitzensteuersatz zu senken und gleichzeitig mit Hartz IV gesetzlich Armut zu verordnen, ist zwar neoliberale Politik, hat aber mit dem Grundgesetz nichts zu tun. Wer meint, wir könnten uns den Sozialstaat nicht leisten, bewegt sich nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, denn wir müssen uns den Sozialstaat leisten, weil das Grundgesetz ihn fordert.

    Wiese: Was ist denn eigentlich die neue Linkspartei, ein Zusammenschluss wirklich unabhängiger Parteien oder nicht vielmehr nur eine erweiterte PDS?

    Neskovic: Ich glaube, dieser Zusammenschluss wird - und das sehe ich perspektivisch - die Grundlage liefern für eine wirklich linke Politik. Ich habe mich mit dem Parteiprogramm der PDS intensiv befasst, insbesondere mit den steuerrechtlichen Vorschlägen. Was sich dort wiederfindet, ist bemerkenswert, stellt eindeutig eine seriöse Alternative dar. Joschka Fischer hat sich jetzt schon daraus bedient, indem er für Luxusgüter einen höheren Mehrwertsteuersatz für möglich hält. Also diejenigen, die etwas anderes behaupten, argumentieren vor dem Hintergrund ihrer Vorurteile. Als Richter bin ich gewohnt, erst den Tatbestand festzustellen, bevor ich bewerte. Ich kann nur jeden auffordern, die Programme zu lesen und dann das Werturteil zu treffen.

    Wiese: Sie waren 15 Jahre lang SPD-Mitglied und zehn Jahre lang Mitglied der Grünen. Jetzt sind Sie parteilos. Was können Sie in der neuen Linkspartei erreichen, was Sie nicht auch bei der SPD oder bei den Grünen hätten erreichen können?

    Neskovic: Also ich glaube, dass ganz zentrale Werte, die so mein politisches Leben, meine politischen Einschätzungen bestimmt haben, in diesen beiden Parteien nicht mehr durchzusetzen sind. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass Krieg kein Mittel der Politik ist. Ich bin auch der Meinung, dass die Bürgerrechte in Gefahr geraten. Das sieht man besonders an Herrn Schily. Zwischen Herrn Schily und Herrn Kanther kann ich keinen Unterschied ausmachen, das heißt, die bürgerlichen Freiheitsrechte sind nicht mehr gewährleistet. Diese Bereiche finde ich bei der PDS vor dem Hintergrund meiner politischen Werteinschätzung genau zutreffend bewertet, und deswegen kann ich nur sagen, ich habe meine politischen Grundüberzeugungen über die Jahre mir bewahrt und stehe dafür ein. Ich muss allerdings feststellen, dass die Parteien SPD und Grüne mittlerweile diese Position verlassen haben.

    Wiese: Sind Sie ein Idealist?

    Neskovic: Als Richter ein Idealist zu sein, mag träumerisch erscheinen, aber ich glaube daran, dass es möglich ist, Gerechtigkeit herzustellen, wobei es mir nicht anmaße, Gerechtigkeit zu definieren, aber ich weiß konkret, was Ungerechtigkeit ist, und gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, stellt den Weg zur Gerechtigkeit dar.

    Wiese: Aber Ihnen ist schon klar, dass, wenn die neue Linkspartei ein bestimmtes Maß an Stimmen erhält, Sie eine große Koalition damit befördern?

    Neskovic: Also darüber mache ich mir keine Gedanken. Mir geht es einfach darum, die politischen Inhalte, die mein Leben bisher geprägt haben, parteipolitisch wiederzufinden und das zu unterstützen. Ich meine, in der PDS gibt es diese seriöse inhaltliche Alternative, auch wenn gerade im Westen diese Wahrnehmung auf Grund einer bestimmten Mediensituation nicht gegeben ist. Ich traue es mir zu, dazu beizutragen, an dieser Sichtweise etwas zu ändern.

    Wiese: Vielen Dank für das Gespräch.