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"Das stimmt vorne und hinten nicht"

Der Historiker Heinrich Schwendemann hat die Darstellung des preußischen Adels im ARD-Fernsehfilm "Die Flucht" scharf kritisiert. Es werde ausgeblendet, dass Ostpreußen eine Bastion des Nationalsozialismus gewesen sei und der Adel Adolf Hitler zur Macht verholfen habe, sagte der Wissenschaftler von der Universität Freiburg. Das Adelsmilieu werde "völlig überzeichnet und in ein falsches Licht gestellt".

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 05.03.2007
    Dirk-Oliver Heckmann: Herr Schwendemann, als Historiker müsste es Sie ja freuen, dass historische Stoffe im Fernsehen Konjunktur haben, vor allem wenn es um ein Thema geht, über das jahrzehntelang nicht gesprochen worden ist, oder?

    Heinrich Schwendemann: Ja, wissen Sie, wir sind mit ganz altmodischen Fernsehdokumentationen, die einordnend und erklärend sind, wir Historiker, sehr zufrieden, wenn sie gut recherchiert sind und nicht auf Effekthascherei aus sind. Aber mit einer solchen Darstellung haben wir natürlich Probleme, denn hier wird ein sehr brisantes Thema mit, ja, melodramatischen Elementen, einiges kam mir so vor, so die gängige Fernsehkost aus den Vorabendserien, die Elemente, die hier verwoben wurden, und das ist natürlich problematisch. Der Produzent dieses Spielfilms spricht ja selbst von Eventfernsehen, das provozieren soll. Und ich hatte schon in manchen Teilen dieses Filmes den Eindruck, dass hier die Quote wichtig ist.

    Heckmann: Also der Film sollte unterhalten, aber wie realistisch ist das Bild, das da in diesem Film gezeichnet worden ist, oder ist diese Frage absurd, weil es eben nur um Unterhaltung geht?

    Schwendemann: Nein, das nicht. Die historischen Eckdaten stimmen, also zum Beispiel die Ankunft der Flüchtlinge aus Memel im Sommer 1944, dann die Kinderlandverschickung und so weiter. Diese Daten, das stimmt alles. Nur: Das Ganze spielt im ostpreußischen Adelsmilieu, und hier fing es eigentlich schon an. Dieses Adelsmilieu wird völlig überzeichnet und in ein falsches Licht gestellt.

    Heckmann: Inwiefern?

    Schwendemann: Interessant ist, die Autoren ist die Großnichte von Marion Gräfin Dönhoff, und wir wissen ja, Marion Gräfin Dönhoff war eine Ausnahmefigur, eine selbstbewusste Frau, die sehr selbstbewusst gehandelt hat und 1981 auch diejenige gewesen ist, die als eine der ersten über diese ganzen Vorgänge geschrieben hat, das in den historischen Zusammenhang gestellt hat und auch gesagt hat, es ist vorbei, die Ostgebiete sind für immer verloren.

    Heckmann: Aber ist es nicht auch legitim, pardon, dass ich da unterbreche, eine solche positive Figur darzustellen, denn die hat es ja auch gegeben?

    Schwendemann: Ja, die hat es gegeben, aber es war eine Ausnahmefigur. Der ostpreußische Adel war allerdings ganz anders, als er hier dargestellt wird. Es gibt ja in dieser Sendung unter den Adeligen im Grunde gar keinen einzigen Nationalsozialisten. Tatsächlich waren ostpreußische Adelige diejenigen gewesen, die Hitler an die Macht verholfen haben. Das war diese Clique um Hindenburg herum, also seine Gutsnachbarn, die ihn so lange beredet haben, bis er eben Hitler als Reichskanzler eingesetzt hat.

    Dann war Ostpreußen eine der Bastionen des Nationalsozialismus. Schon 1932 hatten die Nazis in manchen Gebieten, in manchen Kreisen bis zu 70 Prozent der Stimmen, also noch zur Zeit der Weimarer Republik, und viele ostpreußische Adelige haben mit dem Nationalsozialismus paktiert beziehungsweise vor allem die jüngere Generation unter dem ostpreußischen Adel waren selbst in der Partei, also das stimmt vorne und hinten nicht, wie das hier dargestellt wird.

    Heckmann: Das heißt, die historische Wahrheit wird in diesem Film auf den Kopf gestellt aus Ihrer Sicht?

    Schwendemann: Ja, also in Bezug auf den ostpreußischen Adel sicher. Dann auch vielleicht so ein anderer Punkt: Die Partei wird sehr negativ dargestellt, zu Recht, also das sind diese Figuren, der stellvertretende Gauleiter und der Kreisleiter. Also das sind so die Bösewichte in dem Film, und dann eine Gutsbedienstete und deren Sohn, die sympathisieren mit dem Nationalsozialismus, die werden als die Verführten dargestellt. Aber das ist es eigentlich schon. Also die Partei, das ist die NSDAP, mehr oder weniger was Bedrohliches von außen, aber wie breit die NSDAP in der Bevölkerung verankert war, also in Ostpreußen war man hitlergläubig bis Ende 1944. Also noch mal: Das war eine der Bastionen des Nationalsozialismus, und erst dann durch die Vorgänge bei der Flucht, durch Versagen der Partei und dann aber auch das Versagen der Wehrmacht, das wird auch nicht thematisiert, hat sich die Stimmung dann innerhalb weniger Wochen, zu Recht natürlich, radikal geändert.

    Heckmann: Wie wahrscheinlich, Herr Schwendemann, ist es denn, dass sich Deutsche für Zwangsarbeiter eingesetzt haben? Wie oft ist das vorgekommen ,und welche Motive haben da eine Rolle gespielt?

    Schwendemann: Das kam vor. Das kann auf einem Gutshof vorgekommen sein. Das kann auf einem Hof im Schwarzwald gewesen sein, dass man die Zwangsarbeiter, wie es hieß, anständig behandelt hat. Also da gibt es ein ganz breites Spektrum von Verhaltensweisen. Aber natürlich, so wie es dargestellt wird bei der Gräfin, die geht zur Partei, die setzt sich ein für ihre Zwangsarbeiter, die holt die Zwangsarbeiter wieder, sie wurden verhaftet, sie holt sie wieder zurück, also das ist alles, das kann in Einzelfällen passiert sein, aber hier entsteht eben der Eindruck, dass das, na ja, mehr oder weniger, ja gut, es kann möglich gewesen sein, aber es waren Einzelfälle. Die Gräfin wird ja dargestellt als Ausbund an preußischen Tugenden, das, was man unter preußischen Tugenden landläufig versteht, Pflicht, Verantwortung, patriarchalische Fürsorge für die Untergebenen, Tradition, Aufopferung, Zivilcourage, also alles so dieses Bündel an preußischen Tugenden, und so wie die Gräfin ist oder dargestellt wird, hätte man gern gehabt, dass die Deutschen so sich verhalten. Aber es waren eben nur Ausnahmefälle.

    Heckmann: Würden Sie denn so weit gehen zu sagen, dass historische Verantwortung nivelliert wird durch diesen Film?

    Schwendemann: Das ist natürlich das Problem bei solchen Filmen, wie will man das einordnen? Das Ganze, Flucht und Vertreibung, ist natürlich eine Folge von dem, was vorher passiert, Folge der nationalsozialistischen Herrschaft, der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Folge von Völkermord und Vernichtungskrieg im Osten. Also das, was dann ab Ende 1944 passiert ist, die ganzen Vorgänge von vorher, der Krieg hat jetzt die Deutschen mit voller Wucht getroffen, und die Deutschen im Osten mussten die Rechnung dafür bezahlen, und zwar ausnahmslos alle. Und diejenigen, die es getroffen hat bei diesen Vorgängen, das waren größtenteils dann eben die Unschuldigen, es waren die Kinder, es waren Frauen, und es waren alte Menschen. Ja, aber das einzuordnen in so einem Spielfilm, der mit melodramatischen Elementen auch noch arbeitet, das ist natürlich schwierig.

    Heckmann: Was sind die Gründe dafür, dass so ein Ansatz gewählt wird? Ist das der Versuch, Quote zu machen, oder spricht daraus das Bedürfnis der Deutschen, sich mit sich selbst auszusöhnen?

    Schwendemann: Also ich denke, es ist ein Bedürfnis da, ein legitimes Bedürfnis. Aber es ist auch eine Generationenfrage. Heute wird in der Gesellschaft weit offener darüber geredet als früher. Also auch gerade die ältere Generation, die das erlebt hat, die noch unter diesem Trauma stand, hat auch nicht darüber geredet. Also jetzt ist die ältere Generation der Überlebenden, das sind diejenigen, die damals jung waren, die über diese traumatischen Erfahrungen erleben und die natürlich, viele von ihnen schauen sich diese Sendungen an. Aber noch mal: Ich selbst als Historiker bin für gut gemachte Dokumentationen zu haben, aber bei solchen Spielfilmen, das ist ganz schwierig, solche kontroversen, zeitgenössischen Themen. Es gibt Beispiele, wo das adäquat verfilmt worden ist, also denken wir zum Beispiel an Roman Polanski, "Der Pianist". Hier wurden die Erinnerungen des Pianisten Wladyslaw Spielmann mehr oder weniger Eins zu Eins verfilmt und das Lebensschicksal von ihm, und der Getto-Überlebende Roman Polanski hat das hier eindrucksvoll gemacht.

    Heckmann: .Wir müssen an der Stelle leider einen Punkt machen, Herr Schwendemann, die Zeit läuft uns leider davon. Eine Empfehlung war das noch zum Schluss.