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"Das Volk sollte auch verstehen, was seine Verfassung ist"

Artikel 146 des deutschen Grundgesetzes sieht vor, dass das deutsche Volk sich nach einer Wiedervereinigung in freier Entscheidung eine Verfassung gibt. Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer ist dafür - inhaltlich könne das Regelwerk so bleiben, wie es ist.

Winfried Hassemer im Gespräch mit Sandra Schulz | 14.05.2009
    Sandra Schulz: Nichts halte länger als ein Provisorium, heißt es. Nun sind 60 Jahre noch kein Beleg dafür, dass dieser Satz stimmt, aber ein Indiz sind sie. Vor nun ziemlich genau 60 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft, eigentlich als Übergangslösung in einem Deutschland, dessen Teilung Ende der 40er-Jahre längst Realität war. Am 23. Mai 1949 wurde mit in Kraft treten des Grundgesetzes die Bundesrepublik gegründet. Im Bundestag ist das Jubiläum heute schon gewürdigt worden.
    Kurz vor der Sendung hatte ich Gelegenheit, mit dem früheren Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen. Frage an Winfried Hassemer: Als Provisorium war das Grundgesetz ja gedacht im Jahr '49. Haben die nicht Recht, die eine neue Verfassung fordern?

    Winfried Hassemer: Ich glaube nicht, dass wir eine neue Verfassung brauchen, aber in Artikel 146 steht drin, dass eigentlich das Grundgesetz selber darauf wartet, dass das gesamte deutsche Volk nach der Wiedervereinigung sich eine neue Verfassung gibt. Das muss keine neue inhaltlich sein, aber es könnte sein, dass es gar nicht schlecht ist, wenn wir diese Hoffnung, sage ich mal, des Artikel 146 wahr machen würden.

    Schulz: Welches Signal ginge davon aus?

    Hassemer: Es ginge davon aus, dass wir ein wiedervereinigtes Volk sind. Es ginge, je nachdem welchen Inhalt die Verfassung hat, davon aus, dass wir mit dieser Verfassung bisher gut gefahren sind, und es ginge davon aus, dass wir nun nichts mehr als Verfassung haben, was nur vorläufig ist – obwohl ich sagen muss, dass unser Grundgesetz vorläufig war, war nicht das schlechteste.

    Schulz: SPD-Chef Franz Müntefering hat jetzt ja den Vorschlag gemacht, eine gesamtdeutsche Verfassung zu schaffen. Bei wem trifft er einen Nerv mit dieser Forderung?

    Hassemer: Ich glaube, viele Leute erinnern sich an die Abstimmungen über Europa (beispielsweise in Frankreich), wo man das Gefühl haben musste – ich jedenfalls hatte das -, dass alle möglichen Motive da hineinspielen und am Ende nicht Europa entscheidet, sondern die französische Innenpolitik. Das ist bei all diesen Abstimmungen so, vor allem bei einem Volk, das wie unseres nicht daran gewöhnt ist, jeden Tag eine Volksabstimmung zu machen. Das heißt, man könnte die Angst haben, dass man das große Werk gefährdet und dass die Gefährdung eigentlich sachlich ungerechtfertigt ist. Das könnte man entgegenhalten.

    Schulz: Und was spräche dafür?

    Hassemer: Dafür spricht die Hoffnung des Artikel 146. Dafür spricht, dass wir wie andere Völker am Ende dann auch eine Verfassung haben, über die das Volk abgestimmt hat. Das ist immerhin das wichtigste, was es in einer Demokratie gibt.

    Schulz: Genau. - Jetzt führen wir ja aktuell die Debatte. Zeigt das vielleicht auch, dass es ein Fehler war, dass nach der friedlichen Revolution sich Deutschland keine Zeit genommen hat, sich eine neue Verfassung zu geben?

    Hassemer: Schwer zu beurteilen. Ich urteile nicht. Ich kann mich aber daran erinnern, dass es wenig Zeit gab. Das waren auch schon außenpolitische Rücksichten. Die Juristen und die Politiker haben in dieser Zeit viel gearbeitet und sie haben im Wesentlichen gut gearbeitet. Wir hatten die Zeit nicht, aber vielleicht haben wir sie jetzt bald.

    Schulz: Das heißt, die Sorge, die Sie gerade auch schon angesprochen haben, dass die Verfassung bei der Mehrheit vielleicht durchfallen könnte, die spielte und spielt weiter eine große Rolle?

    Hassemer: Ich denke schon. Es wäre ja auch ein Verhängnis. Ich glaube, es gibt keinen Gesetzestext in der Geschichte der Bundesrepublik, der von der Bevölkerung so positiv aufgenommen worden ist und mit dem die Bevölkerung auch gelebt hat. Deshalb wäre es wirklich ein großes Verhängnis, wenn das an Äußerlichkeiten scheitern würde, aber ich glaube das eigentlich nicht, bin aber auch kein Volkspsychologe.

    Schulz: Woran machen Sie das fest, dass das Grundgesetz positiv aufgenommen worden ist und positiv aufgenommen wird?

    Hassemer: Es gibt immer wieder Umfragen nach dem Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen unserer Republik, und beispielsweise das Bundesverfassungsgericht steht dort immer ganz oben. Ich kann mir nicht denken, dass das Bundesverfassungsgericht ohne eine Bundesverfassung so weit da oben stünde. Ich rechne also diese positiven Ergebnisse auch dem Grundgesetz zu.

    Schulz: Das ist sehr bescheiden von Ihnen als früherem Bundesverfassungsrichter. Welche inhaltlichen Schwächen sehen Sie denn beim Grundgesetz, über die man bei der Gelegenheit mal sprechen könnte?

    Hassemer: Ich habe nie so ganz verstanden, jedenfalls inhaltlich nie so ganz verstanden, warum man ein Widerstandsrecht ins Grundgesetz hineinschreibt. Das war damals im Zuge der Notstandsgesetzgebung – und ich kann mich bis heute nicht von dem Gedanken freimachen, dass das so etwas war wie eine symbolische Gesetzgebung im schlechten Sinne. Das heißt, man wusste schon, wenn dieser Artikel 20 Absatz 4, das Widerstandsrecht, einmal Wirklichkeit wird, dann ist sowieso alles zu spät, und symbolische Gesetzgebung dieser Art ist nicht so besonders gut.
    Außerdem habe ich Probleme mit der Art und Weise, im Grundgesetz zu formulieren. Früher war unsere Verfassung, wie das so schön heißt, kurz und dunkel; so soll eine Verfassung auch sein. Sie ist eine Richtschnur und keine Dienstanweisung für irgendeinen Gerichtsvollzieher. Mittlerweile nähert sich die Verfassung in ihren Formulierungen den Anweisungen an den Gerichtsvollzieher. Vieles, was in der Verfassung steht, ist überflüssig.

    Schulz: Wo zum Beispiel ist das so?

    Hassemer: Das ist zum Beispiel in Artikel 13 so, Unverletzlichkeit der Wohnung. Da sind zwei fundamentale Absätze in diesem Artikel, Absatz 1 und Absatz 2. Dann kommen Absätze 3 bis 7; da denkt man, das müsste eigentlich in der Strafprozessordnung drinstehen. Das heißt, der Gesetzgeber hat sehr oft, finde ich, den Kurzschluss gemacht zu sagen, jetzt haben wir eine Zwei-Drittel-Mehrheit, da können wir eine Verfassungsänderung machen, dann machen wir sie. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum man eine Verfassungsänderung machen darf. Es muss auch fundamental genug sein, was man da reinschreibt.

    Schulz: Jetzt hat Karlsruhe ja die Chance, eine Volksabstimmung zu erzwingen, jedenfalls wenn man das im weitesten Sinne sieht, nämlich in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon. Womit rechnen Sie da?

    Hassemer: Das ist mein Senat von früher, der darüber verhandelt. Deshalb kein Wort!

    Schulz: Bliebe das Grundgesetz, auch das Bundesverfassungsgericht überhaupt wichtig mit dem Vertrag von Lissabon?

    Hassemer: Ich glaube, alles was eine Europäisierung oder vielleicht sogar Globalisierung einer normativen Ordnung ist, einer Rechtsordnung, das relativiert natürlich die nationalen Rechtsordnungen. Das ist, glaube ich, so etwas wie ein Naturgesetz. Aber unser Grundgesetz hebt sich doch von anderen Verfassungen auf eine Weise ab, von der man annehmen kann, dass sich das nicht einfach abschleift. Sie kennen sicher so etwas wie unsere Ewigkeitsgarantie in Artikel 79 Absatz 3, worin steht, dass bestimmte Grundsätze, Rechtsstaat, Sozialstaat, Föderalismus, niemals bei keiner einzigen Mehrheit abgeschafft werden dürfen, und das sind schon Widerhaken, von denen ich denke, die bleiben.

    Schulz: Aber dass das Bundesverfassungsgericht so wichtig bleibt wie es jetzt ist, das jedenfalls sagen die Beschwerdeführer in Karlsruhe, das hängt davon ab, dass künftig der Europäische Gerichtshof zurückhaltender wird. Kann man damit denn rechnen?

    Hassemer: Schwer zu sagen. Ich würde jedenfalls meinen, wenn der Europäische Gerichtshof und vor allem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Grundrechtsschutz und den Institutionenschutz so betreibt, wie das Grundgesetz selber ihn für uns vorgesehen hat – und das ist ein Teil unserer Rechtsprechung, diese Hoffnung, diese Erwartung -, dann ist es eigentlich nicht so wichtig, ob das aus Luxemburg, ob das aus Straßburg oder aus Karlsruhe kommt.

    Schulz: Jetzt gibt es unter der Ordnung, die wir jetzt ja noch haben, ohne den Vertrag von Lissabon, ja immer wieder Streit darüber, über das Verhältnis zwischen Berlin und Karlsruhe. Wie wird sich das entwickeln?

    Hassemer: Das wird sich vermutlich so entwickeln, wie es immer war. Dieser Streit ist, wenn Sie so wollen, strukturell. Das liegt nicht an Personen, sondern es liegt daran, dass unser Grundgesetz nicht eine Mehrheitsdemokratie voraussetzt, sondern eine sogenannte konstitutionelle Demokratie. Auf Deutsch: Ein Senat in Karlsruhe ist im Stande, mit der Mehrheit von fünf zu drei Stimmen ein Gesetz zu kassieren, welches der Bundestag einstimmig beschlossen hat, und dass das Schwierigkeiten macht und immer machen wird, das ist klar. Damit muss man rechnen, die muss man vernünftig austragen. Aber das ist die Konsequenz daraus, dass wir eine Verfassung haben wollten, in der nicht jedes Gesetz, jedes formell zu Stande gekommene Gesetz auch akzeptiert wird als der Verfassung im Inhalt entsprechend.

    Schulz: Und an dem Punkt könnte eine Volksabstimmung, wenn ich Sie richtig verstanden habe, auch für größere Akzeptanz sorgen?

    Hassemer: Ich denke ja. Man muss natürlich wie bei all diesen Unternehmungen gut vorarbeiten. Man muss aufklären, man muss informieren. Natürlich: das Volk sollte auch verstehen, was seine Verfassung ist.

    Schulz: Sollte es zu der Volksabstimmung kommen, mit welchem Slogan sollte man fürs Grundgesetz werben?

    Hassemer: Da bin ich überfragt. Das kann ich nicht sagen, das weiß ich nicht.

    Schulz: Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, heute in den "Informationen am Mittag" hier im Deutschlandfunk. Danke schön!

    Hassemer: Danke Ihnen auch.