Silvia Engels: Über 4000 Menschen kampieren im kühlen, regnerischen Herbst im Garten eines Barockgebäudes in Prag, Hunderte DDR-Bürger übernachten wochenlang auf Stockbetten in Büros, in Fluren, in Kellern. Die Männer, Frauen und Kinder sind in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland geflohen und sie haben nur ein Ziel: Sie wollen ausreisen, ausreisen nach Westdeutschland ohne Umwege, sie lassen alles dafür zurück. Die hygienischen Verhältnisse sind entsetzlich, die Angst vor Krankheiten wächst, die Unruhe ebenfalls. Derweil ringt hinter den Kulissen die christlich-liberale Bundesregierung Kohl/Genscher mit den Entscheidern in Moskau, Prag und Ost-Berlin um eine Lösung. Ende September ist sie erreicht. Genau heute vor 20 Jahren kann der Bundesaußenminister den Menschen vom Balkon der Prager Botschaft ihre bevorstehende Ausreise verkünden. Es wird einer der berühmtesten Sätze der jüngeren deutschen Geschichte. – Guten Morgen, Hans-Dietrich Genscher.
Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen.
Engels: Sie haben diesen Moment als einen der bewegendsten, als den bewegendsten Ihrer Amtszeit beschrieben. Welches eine Bild steht Ihnen heute noch vor Augen?
Genscher: Die Menschen vor mir. Ich konnte sie nur in Umrissen sehen, aber ich hörte die Gespräche unten. Es waren ja nicht Hunderte, sondern Tausende. Und als ich rein kam in die Botschaft, habe ich in einigen Gesichtern viel Hoffnungslosigkeit gesehen. Viele hatten offensichtlich schon die Hoffnung aufgegeben, oder waren auf jeden Fall verzweifelt – nicht nur wegen der Umstände, sondern eben wegen der Frage, wann wird es gelingen. Und das war ja auch eine Frage, die ganz ernsthaft gestellt werden musste. Ich wäre in meiner damaligen gesundheitlichen Situation nicht nach New York zur UNO gereist, wenn ich nicht dort die Chance gehabt hätte, mit Schewardnadse und dem DDR-Außenminister Fischer zu sprechen und auch die Unterstützung dort unserer Partner zu bekommen. Das hat sich am Ende gelohnt im direkten Gespräch, wobei ich den Eindruck hatte, dass der DDR-Außenminister Fischer sehr wohl die Lage erkannt hatte und dass er sich auch bemüht hat, eine solche Regelung herbeizuführen. Aber das war nicht einfach in Ost-Berlin und es war deshalb auch wichtig, dass nicht etwa aus Moskau ein kategorisches Nein kam, sondern im Gegenteil wohl eine Ermutigung, sich dieser Realität zu stellen, nämlich der Realität, dass die Menschen dem Land davonlaufen und dass man die Mauer nicht in Prag errichten kann.
Ich hatte mich geweigert, die Botschaften zu schließen, was immer wieder verlangt wurde. Die blieben offen für jeden Deutschen und "jeder Deutsche" waren auch die Deutschen aus der DDR. Und nun ging es darum, dass die Tore der Botschaft sich nach Westen öffnen konnten. Prag sagte, wendet Euch an Ost-Berlin. Das tat ich in New York und dann kam kurz bevor ich zurück abreiste die erlösende Erklärung, man werde mir morgen die Einzelheiten im Auswärtigen Amt mitteilen. Die Einzelheiten waren dann, dass die Züge durch die DDR fahren. Das war eine der beiden Alternativen, die ich Ost-Berlin angeboten hatte: entweder Pässe stempeln in unserer Botschaft, oder Ausreise, weil man unbedingt seine Souveränität bewahren könne, Ausreise über die DDR. Man entschied sich für die zweite.
Engels: Welches war denn dabei Ihre größte Sorge, als nun die Ausreise über das Territorium der DDR umgesetzt werden sollte? Hatten Sie die Sorge, dass da jemand vielleicht noch auf mittlerer Entscheidungsebene die Nerven verlieren würde oder die DDR-Führung?
Genscher: Nein, eigentlich nicht. Ich war überzeugt, wenn die Entscheidung gefallen war, würde die DDR-Führung dazu stehen. Aber die Menschen hatten die Sorge, dass sich dahinter ein Trick verbindet, dass etwa die Züge angehalten werden, dass man alle oder bestimmte Leute aus den Zügen herausholt, und als der Widerspruch sehr groß dagegen wurde, dass die Züge durch die DDR fahren, habe ich schließlich gesagt, Sie wissen alle, ich bin denselben Weg gegangen wie Sie, nicht in dieser Form und unter anderen Umständen, aber ich habe mich entschieden, die DDR zu verlassen aus Motiven, die ähnlich den Ihren sind, und ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts geschehen wird. Das war wirklich ein großes Wort. Ich hätte es nicht leichtfertig gegeben, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, man wird das Wort einhalten, und es war ja auch so. Es wurde eingehalten. Trotzdem, das will ich hier nicht verschweigen, war ich dann doch erleichtert, als nachts der Anruf kam, der erste Zug ist in Hof eingetroffen.
Engels: Sie haben auch gerade wieder speziell die Leistung der damaligen sowjetischen Führung unter Gorbatschow und Schewardnadse hervorgehoben. Sie haben ja de facto die Ausreise gegen die DDR-Regierung durchgesetzt. Es gab ja auch große Widerstände in der Sowjetunion gegen die Reformer. Sie kennen mittlerweile viele Hintergründe über das Ringen in Moskau. Wie knapp war das damals?
Genscher: Die ganze Zeit war es knapp. Von Anfang an gab es Skepsis gegenüber dem Kurs von Gorbatschow und als dann sich die Lage immer weiter entwickelte, da wurden auch die Gegenkräfte stärker. Während der Verhandlungen, die dann kamen, vor allem der 2-plus-4-Verhandlungen, war es eine gemeinsame westliche Sorge, wie lange werden Gorbatschow und Schewardnadse ihren Kurs überhaupt durchhalten können. Auf der anderen Seite war die Sorge, was geschieht in der DDR selbst. Ich war überzeugt, dass sich nicht wiederholen würde, was 53 passiert war, am 17. Juni, aber hätte nicht ein untergeordneter Mann die Nerven verlieren können, ein Schuss fallen, dann würden wir vielleicht nicht mehr von der friedlichen Freiheitsrevolution reden können. Da ist sehr viel Verantwortung auf allen Seiten gezeigt worden und das sage ich auch für diejenigen, die damals auf der anderen Seite gestanden haben, oder diejenigen, die auf der anderen Seite zögerten.
Engels: Kurz nachdem die vier Flüchtlingszüge abgefahren waren, füllte sich erneut die Botschaft. Die hygienischen Bedingungen verschlechterten sich noch einmal. Es war ja nicht überraschend, dass noch einmal Flüchtlinge nachkamen, die nun auch ausreisen wollten. Haben Sie das ganz bewusst in Kauf genommen, um auch den Druck in der DDR zu erhöhen?
Genscher: Wer kam, wurde aufgenommen. Das war für mich ein Prinzip. Wir haben gegen manchen Widerstand auch hier in der Bundesrepublik festgehalten an der einheitlichen Staatsangehörigkeit und deutsche Staatsangehörige haben das Recht, von Deutschland nach Deutschland zu gehen. Da waren keine weitergehenden Spekulationen dahinter, aber wenn Menschen diesen Weg gehen wollten und wir haben die Möglichkeit, ihnen dafür den Weg zu ebnen, dann hatte ich eine Verantwortung, das zu tun. Das galt in dieser Situation, es galt auch in anderen Bereichen, nämlich wenn es darum ging, Deutschstämmigen aus Rumänien, aus der Sowjetunion, aus Polen die Übersiedlung zu ermöglichen. Das waren andere Dinge, aber da ging es auch darum, dass sie ihr Recht verwirklichen konnten, über ihr Leben selbst zu entscheiden. Das ist doch die Verantwortung, die eine Regierung trägt.
Engels: Die Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge gilt als ein wichtiger Wendepunkt, der den Mauerfall einige Wochen später mit möglich machte. Würdigen die Deutschen diesen Tag heute hoch genug?
Genscher: Ich denke schon. Dieses Ereignis hat sich tief eingebrannt in das Gedächtnis der Menschen. Vielleicht hat man ja nicht voll übersehen, was es eigentlich politisch bedeutete, denn 20 Tage vorher, als Ungarn in einer mutigen Entscheidung die Grenze nach Österreich öffnete, da gab es wütende Proteste aus Ost-Berlin und 20 Tage später entschied Ost-Berlin, die Tore der Botschaft können geöffnet werden. Das heißt, die DDR-Führung machte innerhalb von 20 Tagen eine Kehrtwendung. Das war ein politisches Signal. Es hieß im Grunde, die Mauer ist auf Dauer nicht zu halten. Wann das geschehen würde, wann man öffnet, das konnte an jenem Abend niemand sagen, aber dass die Mauer einen schweren Schlag versetzt bekommen hat und von Menschen, die nichts anderes wollten, als ihr Schicksal selbst zu gestalten und die in Wahrheit Geschichte geschrieben haben.
Engels: Genau vor 10 Jahren sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am Gedenktag in Prag, die Deutschen würden die erhaltene Solidarität für die Tschechen zurückgeben. Sind die Deutschen 20 Jahre danach diesem Versprechen gerecht geworden?
Genscher: Ich denke ja. Deutschland gehörte zu den Ländern, das zu allererst wahrscheinlich am stärksten dafür eingetreten ist, dass unsere östlichen Nachbarn Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden können. Das war die Verwirklichung dieser Solidaritätszusage und zu einer der ganz großen Leistungen der Europäischen Gemeinschaft und dann der Europäischen Union gehört es, dass man trotz eigener, nicht unerheblicher Probleme die Kraft gefunden hat, die Osterweiterung der Europäischen Union vorzunehmen, sodass Deutschland heute – das wollen wir auch nicht vergessen – nicht mehr an der Trennlinie und der Widerspruchslinie zweier politischer Systeme und hochgerüsteter Militärpakte liegt, sondern in der Mitte Europas und wir sind im wahrsten Sinne des Wortes dort angekommen, wo wir immer hingehörten: nicht nur geografisch in die Mitte Europas, sondern auch politisch und auch wertpolitisch als ein demokratisches Land im Kreise demokratischer Nachbarn.
Engels: Herr Genscher, 20 Jahre ist nun dieser ereignisreiche Tag her. Haben Sie heute noch Kontakt zu ehemaligen Flüchtlingen aus der Botschaft?
Genscher: Ich treffe sie immer wieder, auf der Straße kann das passieren. Entweder sind es Leute, die selbst in der Botschaft waren, oder es sagt mir jemand, meine Tochter war in der Botschaft, mein Bruder, mein Vater. Das ist etwas, was ja auch für die Betreffenden selbst natürlich eine stete Erinnerung ist, und dann ist ein solches Treffen etwas, was einem Politiker ja nicht immer passiert, nämlich dass man große Dankbarkeit dafür empfindet, dass man Menschen in der Not helfen konnte. Ich empfinde es dankbar, dass ich als jemand, der selbst als junger Mann mit 25 Jahren die DDR verlassen hatte, dazu beitragen konnte, das Schicksal dort zunächst zu erleichtern und dann das Tor zur Deutschen Einheit mit zu öffnen. Eingeschlagen vom Osten her haben die Mauer die Menschen im Osten. Sie haben mit großer Friedfertigkeit und tiefer und fester Überzeugung und einem klaren Willen die Mauer vom Osten her zum Einsturz gebracht, auch von Prag aus.
Engels: Genau heute vor 20 Jahren konnte der Bundesaußenminister den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft ihre bevorstehende Ausreise verkünden. Vielen Dank für das Gespräch an Hans-Dietrich Genscher.
Genscher: Danke!
Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen.
Engels: Sie haben diesen Moment als einen der bewegendsten, als den bewegendsten Ihrer Amtszeit beschrieben. Welches eine Bild steht Ihnen heute noch vor Augen?
Genscher: Die Menschen vor mir. Ich konnte sie nur in Umrissen sehen, aber ich hörte die Gespräche unten. Es waren ja nicht Hunderte, sondern Tausende. Und als ich rein kam in die Botschaft, habe ich in einigen Gesichtern viel Hoffnungslosigkeit gesehen. Viele hatten offensichtlich schon die Hoffnung aufgegeben, oder waren auf jeden Fall verzweifelt – nicht nur wegen der Umstände, sondern eben wegen der Frage, wann wird es gelingen. Und das war ja auch eine Frage, die ganz ernsthaft gestellt werden musste. Ich wäre in meiner damaligen gesundheitlichen Situation nicht nach New York zur UNO gereist, wenn ich nicht dort die Chance gehabt hätte, mit Schewardnadse und dem DDR-Außenminister Fischer zu sprechen und auch die Unterstützung dort unserer Partner zu bekommen. Das hat sich am Ende gelohnt im direkten Gespräch, wobei ich den Eindruck hatte, dass der DDR-Außenminister Fischer sehr wohl die Lage erkannt hatte und dass er sich auch bemüht hat, eine solche Regelung herbeizuführen. Aber das war nicht einfach in Ost-Berlin und es war deshalb auch wichtig, dass nicht etwa aus Moskau ein kategorisches Nein kam, sondern im Gegenteil wohl eine Ermutigung, sich dieser Realität zu stellen, nämlich der Realität, dass die Menschen dem Land davonlaufen und dass man die Mauer nicht in Prag errichten kann.
Ich hatte mich geweigert, die Botschaften zu schließen, was immer wieder verlangt wurde. Die blieben offen für jeden Deutschen und "jeder Deutsche" waren auch die Deutschen aus der DDR. Und nun ging es darum, dass die Tore der Botschaft sich nach Westen öffnen konnten. Prag sagte, wendet Euch an Ost-Berlin. Das tat ich in New York und dann kam kurz bevor ich zurück abreiste die erlösende Erklärung, man werde mir morgen die Einzelheiten im Auswärtigen Amt mitteilen. Die Einzelheiten waren dann, dass die Züge durch die DDR fahren. Das war eine der beiden Alternativen, die ich Ost-Berlin angeboten hatte: entweder Pässe stempeln in unserer Botschaft, oder Ausreise, weil man unbedingt seine Souveränität bewahren könne, Ausreise über die DDR. Man entschied sich für die zweite.
Engels: Welches war denn dabei Ihre größte Sorge, als nun die Ausreise über das Territorium der DDR umgesetzt werden sollte? Hatten Sie die Sorge, dass da jemand vielleicht noch auf mittlerer Entscheidungsebene die Nerven verlieren würde oder die DDR-Führung?
Genscher: Nein, eigentlich nicht. Ich war überzeugt, wenn die Entscheidung gefallen war, würde die DDR-Führung dazu stehen. Aber die Menschen hatten die Sorge, dass sich dahinter ein Trick verbindet, dass etwa die Züge angehalten werden, dass man alle oder bestimmte Leute aus den Zügen herausholt, und als der Widerspruch sehr groß dagegen wurde, dass die Züge durch die DDR fahren, habe ich schließlich gesagt, Sie wissen alle, ich bin denselben Weg gegangen wie Sie, nicht in dieser Form und unter anderen Umständen, aber ich habe mich entschieden, die DDR zu verlassen aus Motiven, die ähnlich den Ihren sind, und ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts geschehen wird. Das war wirklich ein großes Wort. Ich hätte es nicht leichtfertig gegeben, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, man wird das Wort einhalten, und es war ja auch so. Es wurde eingehalten. Trotzdem, das will ich hier nicht verschweigen, war ich dann doch erleichtert, als nachts der Anruf kam, der erste Zug ist in Hof eingetroffen.
Engels: Sie haben auch gerade wieder speziell die Leistung der damaligen sowjetischen Führung unter Gorbatschow und Schewardnadse hervorgehoben. Sie haben ja de facto die Ausreise gegen die DDR-Regierung durchgesetzt. Es gab ja auch große Widerstände in der Sowjetunion gegen die Reformer. Sie kennen mittlerweile viele Hintergründe über das Ringen in Moskau. Wie knapp war das damals?
Genscher: Die ganze Zeit war es knapp. Von Anfang an gab es Skepsis gegenüber dem Kurs von Gorbatschow und als dann sich die Lage immer weiter entwickelte, da wurden auch die Gegenkräfte stärker. Während der Verhandlungen, die dann kamen, vor allem der 2-plus-4-Verhandlungen, war es eine gemeinsame westliche Sorge, wie lange werden Gorbatschow und Schewardnadse ihren Kurs überhaupt durchhalten können. Auf der anderen Seite war die Sorge, was geschieht in der DDR selbst. Ich war überzeugt, dass sich nicht wiederholen würde, was 53 passiert war, am 17. Juni, aber hätte nicht ein untergeordneter Mann die Nerven verlieren können, ein Schuss fallen, dann würden wir vielleicht nicht mehr von der friedlichen Freiheitsrevolution reden können. Da ist sehr viel Verantwortung auf allen Seiten gezeigt worden und das sage ich auch für diejenigen, die damals auf der anderen Seite gestanden haben, oder diejenigen, die auf der anderen Seite zögerten.
Engels: Kurz nachdem die vier Flüchtlingszüge abgefahren waren, füllte sich erneut die Botschaft. Die hygienischen Bedingungen verschlechterten sich noch einmal. Es war ja nicht überraschend, dass noch einmal Flüchtlinge nachkamen, die nun auch ausreisen wollten. Haben Sie das ganz bewusst in Kauf genommen, um auch den Druck in der DDR zu erhöhen?
Genscher: Wer kam, wurde aufgenommen. Das war für mich ein Prinzip. Wir haben gegen manchen Widerstand auch hier in der Bundesrepublik festgehalten an der einheitlichen Staatsangehörigkeit und deutsche Staatsangehörige haben das Recht, von Deutschland nach Deutschland zu gehen. Da waren keine weitergehenden Spekulationen dahinter, aber wenn Menschen diesen Weg gehen wollten und wir haben die Möglichkeit, ihnen dafür den Weg zu ebnen, dann hatte ich eine Verantwortung, das zu tun. Das galt in dieser Situation, es galt auch in anderen Bereichen, nämlich wenn es darum ging, Deutschstämmigen aus Rumänien, aus der Sowjetunion, aus Polen die Übersiedlung zu ermöglichen. Das waren andere Dinge, aber da ging es auch darum, dass sie ihr Recht verwirklichen konnten, über ihr Leben selbst zu entscheiden. Das ist doch die Verantwortung, die eine Regierung trägt.
Engels: Die Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge gilt als ein wichtiger Wendepunkt, der den Mauerfall einige Wochen später mit möglich machte. Würdigen die Deutschen diesen Tag heute hoch genug?
Genscher: Ich denke schon. Dieses Ereignis hat sich tief eingebrannt in das Gedächtnis der Menschen. Vielleicht hat man ja nicht voll übersehen, was es eigentlich politisch bedeutete, denn 20 Tage vorher, als Ungarn in einer mutigen Entscheidung die Grenze nach Österreich öffnete, da gab es wütende Proteste aus Ost-Berlin und 20 Tage später entschied Ost-Berlin, die Tore der Botschaft können geöffnet werden. Das heißt, die DDR-Führung machte innerhalb von 20 Tagen eine Kehrtwendung. Das war ein politisches Signal. Es hieß im Grunde, die Mauer ist auf Dauer nicht zu halten. Wann das geschehen würde, wann man öffnet, das konnte an jenem Abend niemand sagen, aber dass die Mauer einen schweren Schlag versetzt bekommen hat und von Menschen, die nichts anderes wollten, als ihr Schicksal selbst zu gestalten und die in Wahrheit Geschichte geschrieben haben.
Engels: Genau vor 10 Jahren sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am Gedenktag in Prag, die Deutschen würden die erhaltene Solidarität für die Tschechen zurückgeben. Sind die Deutschen 20 Jahre danach diesem Versprechen gerecht geworden?
Genscher: Ich denke ja. Deutschland gehörte zu den Ländern, das zu allererst wahrscheinlich am stärksten dafür eingetreten ist, dass unsere östlichen Nachbarn Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden können. Das war die Verwirklichung dieser Solidaritätszusage und zu einer der ganz großen Leistungen der Europäischen Gemeinschaft und dann der Europäischen Union gehört es, dass man trotz eigener, nicht unerheblicher Probleme die Kraft gefunden hat, die Osterweiterung der Europäischen Union vorzunehmen, sodass Deutschland heute – das wollen wir auch nicht vergessen – nicht mehr an der Trennlinie und der Widerspruchslinie zweier politischer Systeme und hochgerüsteter Militärpakte liegt, sondern in der Mitte Europas und wir sind im wahrsten Sinne des Wortes dort angekommen, wo wir immer hingehörten: nicht nur geografisch in die Mitte Europas, sondern auch politisch und auch wertpolitisch als ein demokratisches Land im Kreise demokratischer Nachbarn.
Engels: Herr Genscher, 20 Jahre ist nun dieser ereignisreiche Tag her. Haben Sie heute noch Kontakt zu ehemaligen Flüchtlingen aus der Botschaft?
Genscher: Ich treffe sie immer wieder, auf der Straße kann das passieren. Entweder sind es Leute, die selbst in der Botschaft waren, oder es sagt mir jemand, meine Tochter war in der Botschaft, mein Bruder, mein Vater. Das ist etwas, was ja auch für die Betreffenden selbst natürlich eine stete Erinnerung ist, und dann ist ein solches Treffen etwas, was einem Politiker ja nicht immer passiert, nämlich dass man große Dankbarkeit dafür empfindet, dass man Menschen in der Not helfen konnte. Ich empfinde es dankbar, dass ich als jemand, der selbst als junger Mann mit 25 Jahren die DDR verlassen hatte, dazu beitragen konnte, das Schicksal dort zunächst zu erleichtern und dann das Tor zur Deutschen Einheit mit zu öffnen. Eingeschlagen vom Osten her haben die Mauer die Menschen im Osten. Sie haben mit großer Friedfertigkeit und tiefer und fester Überzeugung und einem klaren Willen die Mauer vom Osten her zum Einsturz gebracht, auch von Prag aus.
Engels: Genau heute vor 20 Jahren konnte der Bundesaußenminister den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft ihre bevorstehende Ausreise verkünden. Vielen Dank für das Gespräch an Hans-Dietrich Genscher.
Genscher: Danke!