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'Das Wichtigste ist, dass wir die Erinnerung wach halten'

Meurer: Die Deutschen und der 11. September. In Berlin findet am Mittag ein zentraler Gedenkgottesdienst statt mit den Spitzenrepräsentanten der Republik, allen voran mit Bundespräsident Johannes Rau, und ihn begrüße ich nun herzlich in Berlin. Herr Bundespräsident, ein Jahr nach den Terroranschlägen in New York und in Washington, was ist Ihrer Meinung nach noch geblieben vom Mitgefühl der Deutschen?

    Rau: Ich hoffe, dass viel Mitgefühl geblieben ist, denn das war ein solcher Angriff auf die Zivilisation, nicht nur auf Amerika, dass er uns alle schockiert. Ich kann mich gut erinnern: Ich war mit meiner Frau auf Staatsbesuch in Finnland und bekam die Nachricht im Auto. Ich hatte am Abend zu einem Konzert eingeladen und musste nun Hunderten von Menschen sagen, dass wir und warum wir kein Konzert hören würden. Das hat einen tagelang begleitet. Die Bilder waren wie eingebrannt in den Köpfen und in den Herzen. Als ich am 11. November in Amerika war und mit den Hinterbliebenen der deutschen Opfer gesprochen habe, da ist mir nochmals ganz bewusst geworden, wie tief der Einschnitt für viele Menschen ist, und auch heute spürt man ja viele Fragen: Gibt es wieder einen Anschlag? Ist heute wieder Gefahr? Und ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir die Erinnerung an das Schreckliche wach halten, und dass wir im Kampf gegen den Terror nicht nachlassen, aber wissen: Das ist kein allein militärischer Kampf.

    Meurer: Lässt der Schrecken mit der Zeit dann eben doch nach, oder schwingt jetzt nicht auch mit, dass es doch schreckliche Ereignisse auch sonst in der Welt gibt?

    Rau: Natürlich. Wir haben die Flutkatastrophe gehabt, und auch diese Bilder haben sich eingebrannt. Der Mensch kann überhaupt nur leben, wenn er die schrecklichen und die schönen Bilder, die sein Leben bestimmen, ein Stück weit auch verdrängen kann, denn er kann nicht immer mit dem Bild vom World Trade Center leben. Aber das kann und darf uns nicht hindern, die Schwere dieses Attentats zu erkennen und daraus die Konsequenz zu ziehen, dass Leben verändert werden muss, damit Leben erhalten bleiben kann.

    Meurer: Nach dem 11. September wurden Muslime in Deutschland verdächtigt als potentielle Schläfer. Hat das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in Deutschland wirklich dauerhaft darunter gelitten?

    Rau: Es hat jedenfalls gelitten, und darum habe ich am 14. September in der Kundgebung vor dem Brandenburger Tor schon gesagt, dass wir darauf achten müssen, dass wir es nicht zu tun haben mit einem Kampf der Religionen oder der Kulturen, und dass wir eine Gesellschaft brauchen, in der keiner in die Gefahr gerät, zum Selbstmordattentäter zu werden, weil ihm ein falscher Sinn eingeprägt und eingepresst worden ist.

    Meurer: Sie haben immer wieder den Dialog der Kulturen gefordert. Ist die islamische Seite wirklich dialogbereit?

    Rau: Ich bin davon überzeugt, dass aus allen Seiten und in allen Religionen Fundamentalisten am Werk sind, die das Gespräch nicht wollen, und die den Dialog nicht aushalten. Aber die Mehrheit derer, die dem islamischen, christlichen oder jüdischen Glauben zugetan sind, sind gesprächsfähig und gesprächsbereit, weil sie aus ihrer Religion gelernt haben, dass ihr Leben nicht sich selber verdankt.

    Meurer: Sie haben eben die eine oder andere Ihrer Auslandsreisen erwähnt, damals am 11. September, dann am 11. November in den USA. Was haben Sie denn auf Ihren Reisen gesagt, wenn Sie gefragt wurden: Warum kamen die Attentäter ausgerechnet aus Deutschland und aus Hamburg?

    Rau: Darauf habe ich auch keine Antwort, denn wir haben längst noch nicht den Überblick, und wir haben auch längst die Täter noch nicht. Wir haben damals am 11. September geglaubt, und so hat es der amerikanische Präsident auch formuliert: Wir werden sie finden, und wir werden sie fordern! Ich selber habe damals auch gesagt, dass diese Täter vor Gericht gestellt werden müssen. Aber wir haben die Täter nicht. Wir haben die Hintermänner nicht gefunden. Und die Situation in Afghanistan macht uns deutlich, dass der Kampf gegen den Terror längst nicht zu Ende ist, und dass der Terror nicht besiegt ist.

    Meurer: Wie sollte man auf den 11. September antworten? Mit welchen Maßnahmen?

    Rau: Entschlossen und besonnen. Das scheint mir das Wichtigste zu sein. Im Augenblick sehe ich die Gefahr, dass wir den Kampf gegen den Terror mit anderen außenpolitischen Problemen vermischen, die wahrlich schwerwiegend genug sind. Das sollten wir nicht tun, sondern wir sollten unsere Rechtsstaatlichkeit, unsere Suche nach Gerechtigkeit, nach Menschenrechten, nach Menschenwürde nicht aufgeben, damit wir den falschen Propheten den Boden entziehen für das, was sie an Früchten ernten wollen.

    Meurer: Vor einem Jahr hat sich ja die Bundeswehr am Krieg in Afghanistan beteiligt aus Solidarität und aus der NATO-Bündnisverpflichtung heraus. Jetzt sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder kategorisch "Nein", wenn es um einen Militäreinsatz gegen den Irak geht. Lehnen auch Sie einen Militärschlag gegen den Irak ab?

    Rau: Ich sehe jedenfalls gegenwärtig keinen Anlass, einen solchen Militärschlag zu planen, sondern ich sehe allen Anlass, dafür zu sorgen, dass Saddam Hussein seine Militanz mit A- und B-Waffen aufgibt, und dass wir versuchen mit allen Mitteln des Völkerrechts zu erreichen, dass die Bedrohung vom Irak wegkommt, und dass diese Bedrohung nicht den Nahen Osten und uns alle in Gefahr bringt. Aber mit welchen Mitteln das geschieht, darüber wird gestritten, und wenn ich es richtig verstehe, sind die großen Volksparteien in Deutschland der Meinung, dass dazu ein Krieg kein geeignetes Mittel ist.

    Meurer: Andere wollen aber erst einmal abwarten, ob es ein UNO-Mandat gibt. Schadet die ganze Diskussion, die wir jetzt erleben, dem deutsch-amerikanischen Verhältnis?

    Rau: Ich bin überzeugt davon, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis so gut ist, und dass wir alle so viel dafür zu tun haben, dass es gut bleibt, dass sachliche Unterschiede und Differenzen die freundschaftliche Beziehung, die über Jahrzehnte gewachsen ist, nicht beeinträchtigen können.

    Meurer: Woher kommt Ihrer Meinung nach dieser Hass auf die USA? Steht die USA sozusagen als Zielscheibe des Terrors stellvertretend für den gesamten Westen, oder wie erklären Sie sich diese Aversion gegen die Vereinigten Staaten?

    Rau: Es gibt ja ein sehr unterschiedliches Amerika-Bild. Es gibt das Amerika-Bild der großen Konzerne, die mit ihren Produkten von American Fruit bis Coca Cola die Welt überschwemmen und in den Griff nehmen. Es gibt auch das Bild von einem Amerika, in dem Glaubens- und Gewissensfreiheit zum ersten Mal praktiziert werden konnten, und in dem viele Menschen in guter Nachbarschaft leben, und in dem sie dem Staat manche Aufgabe abnehmen in der Caritas oder in der Diakonie. Es gibt eine Substanz in Amerika, die demokratisch ist, und die immer wieder zum Ausdruck kommt. Ich glaube, wir brauchen ein Amerika-Bild, dass nicht nur die Büro-Zentralen von New York und die Regierungszentrale von Washington sieht, sondern diese 240 Millionen Menschen, die uns eng verbunden sind, von denen aber viele sich selber so genügen, dass sie den Blick auf die andere Seite der Welt nicht werfen.

    Meurer: Herzlichen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio