Montag, 29. April 2024

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Das Wüten der ganzen Welt

Man stelle sich vor: Enge Gäßchen mit Kopfsteinpflaster, niedrige, gleichförmige Häuschen, ein Hafen. Wir befinden uns in einer südniederländischen Kleinstadt in den fünfziger Jahren. In dieser Umgebung wächst der spätere Komponist Alexander Goudveyl auf. Viele Jahre später blickt er auf seine Kindheit im Hoofd zurück, in jenes Hafenviertel von Maassluis.

Beatrice von Bormann | 01.01.1980
    Der Alltag im Hoofd wird durch die religiösen Auseinandersetzungen der verschiedenen protestantischen Gemeinden bestimmt. Bei den Beziehungen der Bewohner untereinander spielt auch die Vergangenheit eine Rolle. Alexanders Eltern, der Lumpenhändler Goudveyl und seine Frau, werden von den Menschen vom Hoofd nie wirklich akzeptiert. Ob es daran liegt, daß sie "Zugezogene" sind? Oder war da noch etwas anderes, über das keiner redet? Auf jeden Fall hat der Polizist Vroombout damit zu tun. Auf mysteriöse Weise steht er zwischen den Außenseitern und den alteingesessenen Bewohnern vom Hoofd. Vroombout nimmt Alexander unter seine Fittiche, macht ihm aber zugleich sexuelle Avancen. Zu den Außenseitern gehören auch der Apotheker Simon Minderhout und die Engländerin Alice mit ihren Kindern. In beiden findet Alexander Verbündete in seiner Liebe zur Musik.

    Religion und Musik: dies sind die beiden Pole, zwischen denen sich der Roman "Das Wüten der ganzen Welt" abspielt. Nicht zufällig stellt Maarten ‘t Hart ein Bibelvers und ein paar Takte einer Bach-Kantate an den Anfang seiner Geschichte. Die Religion steht für die beschaulich-beschränkte Welt vom Hoofd. Musik hingegen hat eine eher noch tröstliche Bedeutung, für die Hauptfigur wie für den Autor selbst. "Für mich ist die Musik äußerst wichtig, sie ersetzt mir den Glauben", erklärt ‘t Hart. "Ich bin sehr fromm aufgewachsen, habe mich aber ganz davon gelöst, und an die Stelle der Religion ist die Musik getreten. So wie der Glaube Menschen zu trösten, ermutigen und stützen vermag, tröstet, ermutigt und stützt mich die Musik. Sie ist so wichtig in meinem Leben, daß es mir, wenn ich schreibe, unmöglich ist, sie nicht in einem Buch zu verarbeiten."

    So kann es passieren, daß das zentrale Ereignis des Buches im Getose der Musik und der Religion fast untergeht. Während einer Evangelisierungskampagne wird der Polizist Vroombout erschossen. Alexander, der die selbsternannten Prediger auf einem alten Klavier musikalisch unterstützt, ist der einzige Zeuge. "Während jener Kampagne, bei der ich selbst auf der Straße auf dem Harmonium gespielt habe, wurde hinter meinem Rücken jemand erschossen", erläutert ‘t Hart. "Ich habe das damals gar nicht bemerkt, denn mein eifriges Spiel war schon laut genug. Das fand ich als Kind ganz furchtbar: Da wird hinter deinem Rücken jemand erschossen, und du merkst es nicht einmal. Das hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und daraus ist eigentlich das Buch entstanden."

    Fortan fürchtet Alexander um sein Leben und geht selbst auf Spurensuche. Bald muß er jedoch feststellen, daß die Ereignisse von jenem Samstag viel weiter zurückreichen, als er ahnte. Die Vorgeschichte wird im Prolog erzählt. Sieben Personen versuchen am 14. Mai 1940, einen Tag vor der niederländischen Kapitulation vor den Nazis, auf einem Heringskutter nach England zu fliehen. Die Flucht mißlingt, drei der Flüchtlinge überleben den Krieg nicht. Die anderen tauchen ausnahmslos in Alexanders Bericht wieder auf. Wie die beiden Geschichten zusammenhängen erfährt der Leser erst ganz zum Schluß. "Nichts geschieht aus Zufall” stellt Alexander fest, und läßt lieber andere über sich entscheiden. Er ist ein schwacher Held, dem eine eingebildete Drohung zur Rechtfertigung seiner Passivität gerät. Über Umwege führt ihn die Identitätssuche - eines der Hauptthemen des Romans - dann doch noch zur Musik. Auf raffinierte Weise verbindet der Autor die verschiedenen Handlungsstränge zu einem komplizierten Geflecht. Maarten ‘T Hart dazu: "Ich erwarte eigentlich vom Leser daß er, wenn er das Buch ausgelesen hat, es noch einmal liest, denn erst dann wird ihm klar wie die Geschichte zusammenhängt. Er wird dann sehen: aha, dieses Gespräch und jenes Ereignis, das führt schließlich alles zu der Lösung dort."

    Irgendwann meint eine der Figuren des Romans: Das Leben ist wie ein Schachspiel mit falschen Figuren und viel zu vielen Feldern. Alexander begegnet nach und nach den wichtigsten Schachfiguren und kommt des Rätsels Lösung immer ein Stück näher. Dazu gehört auch die Begegnung mit dem Dirigenten Aaron Oberstein, einem der ehemaligen Bootsflüchtlinge. Seine Frau kam im Krieg durch Verrat zu Tode. Oberstein aber wütet nicht, er trauert. So löst sich der biblische Rachegedanke, der im Buch immer wieder auftaucht, am Ende in Nichts auf. Es ist in dieser Geschichte ohnehin unmöglich, einen Schuldigen zu bestimmen. Letztlich geht es aber auch gar nicht nur um die Aufklärung eines Mordes, sondern auch darum, wie Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. An die Stelle der Schwarz-Weiß-Wahrnehmung der Nachkriegszeit tritt eine Philosophie der Zwischentöne. "Früher war man der Meinung, daß die Menschen im Krieg entweder ‘gut’ oder ‘falsch’ waren, da gab’s eigentlich keinen Mittelweg", so Maarten ‘t Hart. "Und jeder betrachtete die Menschen die ‘falsch’ waren als entsetzlich schlechte Menschen, als Verbrecher, und die ‘guten’ Menschen wurden als Helden des Widerstands gesehen. Das Bild hat sich jetzt geändert, man sieht inzwischen, daß es da viele Schattierungen gab, daß es im Krieg Menschen gab, die zwar keine Verräter waren, die aber doch Dinge getan haben, die nicht wirklich schön waren. Die Eltern von Alexander zum Beispiel standen im Krieg nicht auf der falschen Seite, haben sich aber doch nicht ganz richtig verhalten."

    Was Alexanders Eltern im Krieg getan haben, wird nie ausdrücklich gesagt, und gerade das macht den Roman so spannend. Der Leser bekommt ein Puzzlestück nach dem anderen angereicht, muß aber am Ende feststellen, daß es mehr als ein Bild und anscheinend mehr als einen Mörder gibt. Immer wieder wird er vor Überraschungen gestellt in diesem Buch, das zugleich Krimi, Entwicklungsroman und eine Studie der niederländischen Gesellschaft - damals wie heute - ist. Dabei gehören eine klare Handlungsstruktur und die Beherrschung der Kunst des Dialogs zum Handwerkszeug eines Erzählers im alten Stil. Was die Lektüre von ’t Harts Roman zu einem wirklichen Genuß macht, sind sein subtiler Humor und seine reiche Sprache. Leider geht vieles davon in der allzu nüchternen deutschen Übersetzung von Marianne Holberg verloren.

    Am Ende ist alles offen: verstört bleibt der Leser mit den Enthüllungen des Autors zurück. Dieser aber spinnt die Geschichte weiter. "Das Wüten der ganzen Welt” ist nämlich Teil eines Romanzyklus. Ein Roman über den Apotheker Simon Minderhout liegt in den Niederlanden schon vor, Romane über zwei weitere Hauptpersonen sind in Arbeit. Diese Romanreihung à la Balzac zeugt von der Vorliebe ‘t Harts für die Erzähler des 19. Jahrhunderts: "Ich habe die Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts immer sehr geliebt, Dickens und Fontane und Wilhelm Raabe zum Beispiel, und damit stehe ich in der niederländischen Literatur wohl alleine da. Das gilt auch für die Erzählkunst des neunzehnten Jahrhunderts, die meistens mit viel Dialogen einhergeht und mit einer Geschichte, die langsam aufgebaut wird. Im Grunde schreiben die heutigen Autoren ganz anders als jene des neunzehnten Jahrhunderts, während ich unmittelbar daran anschließe. Darum bin ich, glaube ich, ein bißchen ein Außenseiter in der zeitgenössischen niederländischen Literatur."