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Datenspuren im Netz
Überwachung in der "digitalen Diktatur"

Die Datenberge, die Unternehmen und Geheimdienste zusammentragen, sind immens. Diese Kontrolle führt in eine Diktatur, warnt der ehemalige Spiegel-Chef Stefan Aust. Zusammen mit dem stellvertretenden Stern-Chefredakteur Thomas Ammann hat er ein Buch geschrieben, das aufrüttelt.

Von Brigitte Baetz | 27.10.2014
    Überwachungskameras an einer Hauswand des Schleswig-Holsteinischen Landtags in Kiel.
    Im Internet ist die Überwachung nicht so präsent wie hier am Kieler Landtag, die gesammelten Daten sind dafür umso umfangreicher. (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    Alle Jahre wieder ist es soweit. Im kalifornischen Cupertino hält die Firma Apple unter großer öffentlicher Anteilnahme eine als Hochamt des Technologiefortschritts getarnte Produktpräsentation ab.
    Tim Cook: "...the top selling smartphone in the world."
    Die nie zu erlahmen scheinende Begeisterung der Apple-Fans für die neuesten iPhones wirkt verstörend, wenn man sich gleichzeitig vor Augen hält, welche Möglichkeiten die Smartphone-Technologie, sei sie von Apple oder von anderen Anbietern, für die Überwachung jedes Einzelnen bereithält. Die Autoren Thomas Ammann und Stefan Aust schreiben:
    "Mit dem Smartphone tragen wir selbst den eifrigsten Spion ständig mit uns in der Tasche herum. Er sendet unter anderem permanent den Standort, liefert Mails, Fotos, persönliche Notizen und Listen aller Kontakte inklusive der dazugehörigen Daten. Ungebetenen Lauschern kann er als jederzeit an- und abschaltbares Mikrofon dienen. Und die Ortung mobiler Geräte ist eines der wichtigsten Instrumente für die Fahndung nach Zielpersonen – auch beim 'Targeted Killing', dem gezielten Töten mit Drohnen, in Afghanistan oder im Irak. Diese digitalen Begleiter senden einen nie endenden Strom an Informationen, ohne dass wir davon etwas bemerken. Oder wie es ein NSA-Analytiker in einer geheimen Präsentation im Jahr 2011 vor Kollegen ausdrückte: 'Sie sind alle Zombies, und sie zahlen sogar noch dafür'."
    Bürger im Unklaren
    Während die staatliche Volkszählung in den 80er Jahren noch auf großen Widerstand in der deutschen Bevölkerung stieß, überlassen die meisten Bürger heute freiwillig ihre privatesten Daten kommerziellen Firmen wie Google oder Facebook. Sie machen sich nicht klar, dass sich durch die Verknüpfung einzelner Datenspuren - also beispielsweise ihrer Buchvorlieben bei Amazon mit ihrem Freundeskreis in sozialen Netzwerken - Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit ziehen lassen. Mehr noch: das ganze Leben eines Menschen lässt sich durchleuchten, wie Ammann und Aust darlegen. Gegen Big Data, also den Datenberg, den jeder von uns mit seinen Aktivitäten im Internet hinterlässt, sei George Orwells Big Brother nur ein Zwerg, meinen die Autoren. Die vollständige Überwachung der Bevölkerung ist, das wissen wir spätestens seit den Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden, nicht mehr nur eine mögliche Zukunftsvision. Wie der NSA-Skandal gezeigt hat, haben große Firmen – teils freiwillig, teils unfreiwillig – die Daten ihrer Nutzer an den Geheimdienst weitergegeben – eine Public Private Partnership der besonderen Art. Vielen Bürgern sei immer noch nicht klar, was das bedeutet, sagte Stefan Aust in der ARD.
    "Diese totale Kontrolle, der der Mensch sich teils freiwillig, teils unfreiwillig unterwirft, ist, wenn Sie so wollen, eine Art von Diktatur. Und ich glaube, es ist wahrscheinlich die strengste Diktatur, was die Überwachung anbetrifft, die es jemals auf dieser Erde gegeben hat."
    Vor dieser Diktatur wollen der Publizist und ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust und sein Co-Autor, der stellvertretende Stern-Chefredakteur Thomas Ammann, warnen. Beide haben so gut wie alles zusammengetragen, was sich zu den Themen Internet und Überwachung finden lässt: von den Ursprüngen des Netzes aus einer Forschungsbehörde des US-Verteidigungsministeriums bis hin zur Subkultur der Hackerszene, die schon früh die Janusköpfigkeit des Internets erkannt hat – das Versprechen grenzenloser Informationsfreiheit gepaart mit der Angst um die Datensicherheit. Auch die Snowden-Enthüllungen werden noch einmal ausführlich referiert. Vieles ist natürlich schon bekannt, doch die Zusammenstellung ist wichtig, weil dadurch das ganze Ausmaß dessen, an was wir uns schon gewöhnt haben, deutlich wird. Es ist dabei das große Verdienst der Autoren, auch die beiden ersten Cyber-Dissidenten aus den Reihen der NSA, nämlich den ehemaligen Technischen Direktor William Binney und den Softwarespezialisten Thomas Drake, ausführlich zu würdigen. Sie hatten schon vor Snowden vor flächendeckender Überwachung ohne ausreichende Legitimierung gewarnt. Doch ohne Wirkung – wie der weitere Ausbau der NSA-Infrastruktur zeigt. Aust und Ammann schreiben.
    Das mächtigste Computerzentrum der Welt
    "Amerikas ehrgeizigstes Projekt liegt mitten im Niemandsland. Ein halbes Dutzend gigantischer Betonquader erhebt sich in der Wüste des Bundesstaats Utah, am Fuße der Rocky Mountains. Sie sind bogenförmig angeordnet auf einem Gelände, das so groß ist wie fünfzig Fußballfelder, abgeschirmt hinter Stacheldraht und hohen Mauern, rund um die Uhr bewacht von bewaffnetem Personal. Fremde sind hier unerwünscht. Die Anlage ist fünfmal so groß wie das Wahrzeichen der amerikanischen Demokratie, das Capitol in Washington. (...) Wie es innerhalb der Betonmauern aussieht, zählt zu den größten Staatsgeheimnissen der USA."
    Das mächtigste Computerzentrum der Welt kann, so Aust und Ammann, die elektronische Kommunikation des gesamten Planeten, die Telefonate, E-Mails, Kurznachrichten, Blogs, Chats und die dazugehörigen Metadaten speichern. Nicht ohne Grund nennen die Anwohner den Komplex "Spy-Center". Doch es wäre zu kurz gegriffen, nur vor den Amerikanern zu warnen, meint Thomas Ammann:
    "Das nächste große Technikversprechen unseres Jahrhunderts ist das 'Internet der Dinge'. Der Kühlschrank sendet Daten, die Zahnbürste sendet Daten, Ihre Kleidung. Armbänder gibt es schon, die den Puls messen. Wenn Sie das miteinander verknüpfen und überlegen, wo die Daten überall erscheinen können, könnte Ihre Krankenkasse beispielsweise Interesse daran haben, zu sagen: Was hat der eigentlich in seinem Kühlschrank?"
    Es wäre Zeit, so das Fazit dieses so gut geschriebenen wie aufrüttelnden Buches, den Datenschutz verstärkt auf die politische Agenda zu setzen. Das digitale Ich, so schreiben Ammann und Aust, müsse die gleichen Rechte bekommen wie das "reale Ich". Ergänzen sollte man noch, dass diese Rechte dann auch durchgesetzt werden müssen. Doch davon sind wir, so ist die politische Realität, leider noch weit entfernt.
    Stefan Aust und Thomas Ammann: "Digitale Diktatur. Totalüberwachung, Datenmissbrauch, Cyberkrieg"
    Econ Verlag, 352 Seiten 19,99 Euro
    ISBN: 978-3430201827