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"Daumenschrauben der Zumutungen an die deutsch-polnische Geschichte"

Für einen Eklat sorgte die Vertriebenenvorsitzende Erika Steinbach mit ihren Äußerungen zur polnischen Mobilmachung, "ich kann das leider nicht ändern", sagte sie in einer CDU-Fraktionssitzung. Auch Dietmar Nietan (SPD), stellvertretender Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe im Bundestag, sieht darin eine Strategie, möchte aber den Fall Sarrazin seiner eigenen Partei nicht auf eine Stufe stellen.

Dietmar Nietan im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Jasper Barenberg: "Ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobilgemacht hat." Mit diesem einen Satz hat Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach gestern zweierlei ausgelöst: einen Eklat zunächst in der Fraktionssitzung von CDU und CSU in Berlin und eine weitere Runde in der schier endlosen Diskussion um die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Cornelia Pieper, die Polenbeauftragte der Bundesregierung, sie nannte Steinbachs Äußerungen gefährlich. Mein Kollege Jürgen Zurheide hatte Gelegenheit, mit dem SPD-Politiker Dietmar Nietan zu sprechen, dem stellvertretenden Vorsitzenden der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe im Bundestag, auch über die Ankündigung von Frau Steinbach, sich aus der CDU-Führung zurückzuziehen. Und er hat den SPD-Politiker zunächst gefragt, wie er denn den Satz versteht, der für so viel Wirbel gesorgt hat.

    Dietmar Nietan: Ich verstehe ihn so, dass sie wieder eine – ja, ich möchte es schon nennen – Strategie fährt, die Daumenschrauben der Zumutungen an die deutsch-polnische Geschichte wieder ein wenig anzuziehen. Und ich lasse nicht gelten, dass sie wie immer, wenn dann entsprechende Reaktionen kommen, erzählt, dass sie falsch verstanden worden sei, dass es so nicht gemeint war. Wer jetzt auch anfängt, in einer CDU-Fraktionssitzung darüber zu philosophieren, wer wann mobilgemacht hat, und damit auch nur andeutungsweise infrage stellt, oder das in den Raum stellt, dass man über die deutsche Kriegsschuld und die eigentlichen Absichten von Nazi-Deutschland neu nachdenken müsse, der verlässt aus meiner Sicht einen Weg, der nichts mehr mit einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung zu tun hat, sondern der für mich der Beweis ist, dass diese Frau die Geschichte neu schreiben will. Und das, glaube ich, dürfen wir ihr nicht durchgehen lassen.

    Jürgen Zurheide: Sie beruft sich ja auf die Tatsache, das sei alles historisch, was sie da sagt. Und den Rest lässt sie im Raum stehen. Sie erkennen eine Strategie?

    Nietan: Ich erkenne eine Strategie. Es kann doch nicht darum gehen festzustellen, ob wann wer welche Truppenteile in Polen mobilgemacht hat. Ich glaube, das ist eine Diskussion, die völlig verkennt, dass jedem, der ein wenig Ahnung hatte in der Zeit des Jahres 1939, klar war, auch schon durch das, was vorher geschehen war, was Hitler-Deutschland wollte. Und ich sage mal, einer Nation, die zurecht sich zutiefst bedroht fühlt von einem übermächtigen, sich hochrüstenden, kriegsrasselnden Deutschland vorzuwerfen, dass sie möglicherweise irgendwelche Mobilmachungen gemacht hat. Das halte ich wirklich für absurd und das ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die ab dem 1. September unter schlimmsten Bedingungen unter Nazi-Deutschland in Polen leiden oder gar sterben mussten.

    Zurheide: Welche Reaktionen aus Polen bekommen Sie mit und landen bei Ihnen?

    Nietan: Die Reaktionen, die bei mir landen, sind die, dass ja fast schon verbittert polnische Freunde sagen, dass doch jetzt eigentlich klar sein müsste, dass nicht sie, viele Polen, die Frau Steinbach immer wieder kritisiert haben, hysterisch seien, oder Frau Steinbach nur als Feindbild missbrauchen wollten, sondern dass doch jetzt eigentlich deutlich werden müsste, jedem in Deutschland, dass es dieser Frau eben um vieles geht, aber nicht um Versöhnung mit Polen.

    Zurheide: Reicht ihr freiwilliger Rückzug demnächst aus dem CDU-Bundesvorstand?

    Nietan: Er ist – ja, wie soll ich das sagen? – auch ein Symbol und sicherlich auch ein positives Symbol. Aber diese Frau sitzt im Bundestag, sie sitzt in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Sie hat diese Äußerung in der Regierungsfraktion, in der größten Regierungsfraktion getan. Und natürlich entscheiden das am Ende immer die Wählerinnen und Wähler, aber ich finde, diese Frau hat auch eigentlich keinen Platz mehr in einer CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

    Zurheide: Jetzt kann man natürlich die Frage stellen: Sind wir, oder Sie, sind Sie in den großen Volksparteien gelegentlich zu schnell mit der Empörung, denn Frau Steinbach trifft ja eine bestimmte Stimmung. Genauso übrigens wie das Herr Sarrazin tut, was man nicht zuletzt heute Abend auch wieder sieht.

    Nietan: Ich möchte das eigentlich nicht miteinander vergleichen, weil beide provozieren, das steht außer Frage. Während Herr Sarrazin sich sozusagen ins Licht setzt mit teilweise nicht nachvollziehbaren und polarisierenden Thesen rund um das Thema Einwanderung, demografische Entwicklung in Deutschland, sehe ich bei Frau Steinbach den Versuch, Geschichte umzuinterpretieren. Und nicht etwa, weil sie als Historikerin neue Quellen erschließt, sondern um aus politischen Gründen das Feld zu bereiten für einen Politikansatz gegenüber Polen, gegenüber unserer gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte, der Dinge verleugnet und der damit letztlich auch die Axt daran legt, das fortzuführen, was eigentlich die deutsch-polnischen Beziehungen auszeichnet, nämlich dass man trotz der Geschichte oder wegen dieser Geschichte Schritt für Schritt zusammenwächst. Mit Vor- und Rückschritten natürlich auf beiden Seiten, aber das wird jetzt fundamental infrage gestellt und ich finde, das ist noch mal eine andere Qualität.

    Zurheide: Aber ich hatte Sie gefragt, wo ist die Grenze der Akzeptanz in einer Volkspartei. Ob Sie es für die CDU beantworten wollen, weiß ich nicht, aber für die SPD müssten Sie es können, Sie sind auch Bezirksvorsitzender Mittelrhein.

    Nietan: Grundsätzlich muss es in einer Volkspartei möglich sein, ein breites Meinungsspektrum abzudecken. Und selbstverständlich sollte man nicht den Stab brechen, wenn ein Parteimitglied auch mal Thesen äußert, wo man sagt, da ist der politische Konsens von Demokraten verlassen worden. Wenn aber Menschen wie Herr Sarrazin, oder eben auch Frau Steinbach ihre Popularität, bestimmte Ämter, die sie entweder direkt, oder indirekt auch der Volkspartei, der sie angehören, zu verdanken haben, nutzen, um mit dieser Popularität wirklich Dinge umschreiben zu wollen, die nicht mehr an einen argumentativen Diskurs erinnern, sondern wirklich aus meiner Sicht polarisieren. Nicht eine Gesellschaft zu Lösungen bringen, sondern eher noch auseinandertreiben, dann, finde ich, muss sich eine Volkspartei fragen, ob sie, wenn sie nicht reagiert, sich dann auch den Vorwurf gefallen lassen muss, dass sie prominenten Stimmen einen Platz gibt, die wirklich diametral zu den Grundsätzen ihrer eigenen Geschichte als Volkspartei, oder auch zu ihren zentralen Werten und Inhalten stehen.

    Barenberg: Der SPD-Politiker Dietmar Nietan gestern Abend im Gespräch mit meinem Kollegen Jürgen Zurheide.