Dienstag, 19. März 2024

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David Chariandy: „Liebste Tochter – Was ich dir erzählen wollte“
Das Erbe des Rassismus

David Chariandy wuchs als Sohn von Einwanderern aus der Karibik in Kanada auf. Aufgrund seiner Hautfarbe wurde er früh rassistisch beleidigt und diskriminiert. Wie er die Traumata überwand und lernte, sich seiner Herkunft nicht mehr zu schämen, das erzählt er sehr persönlich seiner 13-jährigen Tochter.

Von Carsten Hueck | 19.10.2021
David Chariandy: "Liebste Tochter, was ich dir erzählen wollte"
Hat einen langen Kampf um Respekt und Anerkennung hinter sich: Der kanadische Autor David Chariandy (David Chariandy/ Ullstein)
Als David Chariandy vor mehr als zehn Jahren mit seiner dreijährigen Tochter ein Café besuchte, erlebte er eine verstörende Szene. Er lässt am Wasserspender einer gutgekleideteten Frau den Vortritt, doch bedankt sich diese nicht etwa, sondern beansprucht lautstark ihr Recht, als erste das Glas zu füllen mit den Worten: "Ich bin hier geboren. Ich gehöre hierher." Für Chariandy, 1969 in Toronto geboren und in Kanada aufgewachsen, triggert diese kleine Begegnung ein Gefühl, das er seit seiner Kindheit kennt: ausgegrenzt zu werden. Diese Begebenheit ist nun Anlass für ihn, seiner Tochter etwas über Herkunft zu erzählen. Chariandy richtet seine Worte an ein junges Mädchen, das bald auf die Highschool wechselt, das Dojo Kampfkunst trainiert und selbstverständlich seine Rechte beansprucht. Voller Bewunderung stellt der Vater fest, dass seine Tochter ganz anders im Leben steht, als er - dessen Hautfarbe immer ein Problem war.
"Dich so zu erleben, meine Tochter, so voller Vertrauen in deinen Körper, ist beeindruckend und wirft sogleich die Frage auf, wie sehr sich deine Kindheit von meiner unterscheidet. Mit Sicherheit hast du eine Weltläufigkeit, die für mich in deinem Alter undenkbar war. Du besuchst eine Schule, in deren Fluren Plakate hängen, die abstrakt vor Diskriminierung und Mobbing warnen und gleichzeitig Inklusion und Diversität feiern."

Die Tochter soll wissen, woher sie kommt

David Chariandy legt Wert darauf, dass seine Tochter weiß, woher sie kommt und begreift, dass die Fähigkeit selbst über ihre Identität zu bestimmen keineswegs selbstverständlich ist. So erstellt er erzählerisch eine Art Genealogie. Geht zurück in die eigene Kindheit und Jugend, zurück auch in die Geschichte seiner Eltern und Großeltern. Erklärt anhand vieler kleiner Episoden, welch entscheidende Rolle Hautfarbe und sozialer Status spielen. Und macht seine Tochter vertraut mit den Traumata der Familie, die geprägt ist von Erfahrungen der Migration, Mühsal und Demütigung. Aber auch von der Kraft an sich zu glauben, um Grenzen zu überschreiten.
David Chariandys Eltern kamen zu Beginn der 1960er-Jahre von Trinidad aus nach Kanada. Sie hatten afrikanische und asiatische Wurzeln, arbeiteten hart und wollten einfach als Kanadier angesehen werden. "Sie wurden in der Öffentlichkeit angestarrt und gedemütigt, man weigerte sich, sie in Restaurants zu bedienen, sagte ihnen ins Gesicht, dass sie auf keinen Fall den selben Lohn wie Weiße erwarten könnten, und ihr Haus, als sie sich schließlich die Miete für ein eigenes leisten konnten, wurde gezielt beschädigt."

Von Mitschülern bespuckt und verspottet

Mit Hilfe der sich abrackernden, aufstiegsorientieren Eltern, aber auch mit Unterstützung verständiger Lehrer, gelingt es dem Autor später eine Universität zu besuchen und schließlich – nach der Augen öffnenden Lektüre von James Baldwin - sogar Schriftsteller zu werden. Deutlich wird dabei: die Verhältnisse sprachen dagegen. Chariandy wurde in der Schule bespuckt und gemobbt, mit dem N-Wort bezeichnet oder Mohrenkopf genannt. Er lernte aus Angst, seine Verletzlichkeit zu verstecken, und war in Gefahr, die Persönlichkeit zu werden, die ihm von anderen zugeschrieben wurde.
"Es war leicht für mich zu glauben, dass ich wirklich ein Unruhestifter war, oder ein Witzbold, dass mir grundsätzlich nicht zu trauen war, dass ich ein Täter war und ein Perverser, trotz meiner Schüchternheit, dass ich wirklich nicht für die Schule gemacht war oder für überhaupt irgendeine Art ernsthaften Nachdenkens. Ich hatte keine Pläne für die Zukunft und bildete mir ein, dass es etwas grundlegend Unangenehmes an mir gab."
Chariandys Buch ist ein Zeugnis der Komplexität der Menschen, ein Dokument der Stärke des Intellekts und der Fähigkeit, sich zu behaupten: die eigene Geschichte zu schreiben, Unterschiede auszuhalten, seinen Gefühlen zu vertrauen.

Sanft im Ton, aber klar in der Sache

Es ist anschaulich, mitunter bedrückend. Aber sanft im Ton, maßvoll, bestimmt in der Sache. Sein Buch sensibilisiert, es macht Hoffnung. David Chariandy beschwört stolz das Gute, ohne das Böse zu verleugnen. Der Autor benötigt keine Ideologie, er ist kein Aktivist. Chariandy will nach innen wirken. Und das gelingt ihm, auch bei denjenigen, die in ihrem Alltag keine verletzenden Erfahrungen aufgrund ihrer Hautfarbe machen.
David Chariandy: "Liebste Tochter – Was ich dir erzählen wollte"
Aus dem Englischen übersetzt von Kristine Kress
Ullstein Verlag, Berlin. 112 Seiten, 10 Euro