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DDR-Flüchtlinge in Prag
"Sie kamen in Massen über den Zaun gehüpft"

Im Herbst 1989, nur Wochen vor dem Fall der Mauer, drängten Flüchtlingsströme aus der DDR Richtung Westdeutschland. Heute vor genau 25 Jahren verkündete Außenminister Genscher in der westdeutschen Botschaft in Prag die Ausreisegenehmigung für Tausende DDR-Flüchtlinge.

Von Kirsten Heckmann-Janz | 30.09.2014
    Ausreisewillige DDR-Bürger steigen am 29.9.1989 mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag.
    Ausreisewillige DDR-Bürger steigen mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag. (dpa/picture alliance/Kemmether)
    (Aufschrei, Jubel) "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..."
    "Wir haben unten gestanden, und dieser Schrei, den man heute noch im Fernsehen hört, da läuft es einem kalt den Rücken runter und automatisch kommt die Situation zurück."
    30. September 1989 auf dem Gelände des Palais Lobkowicz, der deutschen Botschaft in Prag: Der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte vom Balkon aus den rund 4.000 wartenden Menschen das erlösende Wort zugerufen: "Ausreise".
    Seit Wochen schon beherbergte die bundesdeutsche Botschaft in Prag anfangs Hunderte, dann Tausende DDR-Bürger, die nicht mehr im Arbeiter- und Bauernstaat leben wollten. Die Tschechoslowakei war das einzige Land, in das sie ohne Visum - als Touristen getarnt -reisen konnten. Die Lage auf dem Gelände wurde immer schwieriger. Auch der Ost-Berliner Unterhändler, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, vermochte bei seinem Besuch in der Botschaft nur sehr wenige davon zu überzeugen, dass ihnen bei einer vorläufigen Rückkehr in die DDR die Ausreise genehmigt werden würde.
    "Es sind circa 50 Personen heute gegangen und 145 gestern haben die Botschaft verlassen. Und wir haben jetzt einen Personenstand von 1.300 Menschen hier im Lager und diese Leute waren einfach mit dem Angebot, das Professor Dr. Vogel uns zu machen hatte, nicht einverstanden und nicht zufrieden. Die Frist für die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland war einfach zu lang und zu ungewiss."
    "In Massen über den Zaun gehüpft"
    Die Mission Vogel war gescheitert. Immer mehr Flüchtlinge kletterten über die Botschaftsmauer. Die Schlafplätze der im Botschaftspark aufgestellten Zelte reichten längst nicht mehr aus. Seit Tagen regnete es, das Gelände glich einer Schlammbrühe. In einer Feldküche bemühten sich Helfer, die Flüchtlinge zu versorgen, vor den 22 aufgestellten Toilettenhäuschen bildeten sich lange Schlangen. Das Botschaftsgebäude selbst war schon seit Langem überfüllt, selbst auf den Treppenstufen schliefen Menschen. Immer dramatischer berichtete die Weltpresse über die unhaltbaren Zustände.
    Am Rande der UN-Vollversammlung Ende September 1989 verhandelte Außenminister Hans-Dietrich Genscher in New York mit seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse und dem DDR-Außenminister Oskar Fischer über eine Lösung des Flüchtlingsproblems.
    Am 30. September, kurz vor 19 Uhr, sprach Hans-Dietrich Genscher dann das entscheidende Wort: "Ausreise". Noch am selben Abend fuhren die Züge über Dresden nach Hof, wo zahlreiche Journalisten warteten.
    "Jetzt fängt der Zug an zu bremsen, der Jubel ist hier ziemlich groß. Die Türen öffnen sich. Ja, sie stehen noch in den Zügen, sie gehen gar nicht raus. Jetzt kommen die Ersten, steigen aus, sie können es noch gar nicht glauben."
    "Wir saßen vorm Fernseher und haben gesehen, die Ausreise in der Prager Botschaft ist bewilligt. Dann haben wir uns angeguckt und haben nur gesagt: Ja, ab geht's."
    Erinnern sich die Geschwister Beate und Heike:
    "Das war genau nach dem Abend, nach Genscher, und wir waren am nächsten Tag, so mittags um elf oder so, in der Botschaft, und die war fast leer. Ja, vielleicht waren da 100 Mann. Aber innerhalb von wenigen Stunden, lagen, also das waren so Dreifach-Betten, in jedem Bett lagen wirklich vier Mann nachher. Wir haben wirklich Szenen da beobachtet, wo wirklich Leute mit dem Trenchcoat und der Aktentasche, die müssen von der Arbeit einfach losgelaufen sein. (lacht) Die kamen da wirklich in Massen über diesen Zaun gehüpft."
    Flüchtlingsstrom riss nicht ab
    Nur wenige Tage später war die Botschaft wieder überfüllt. 5.000 Menschen waren auf das Gelände gelangt, 2.000 warteten auf dem Vorplatz. Eine zweite Ausreise-Aktion begann, wieder in Zügen über Dresden. An der Strecke versuchten weitere Ausreisewillige auf die Züge aufzuspringen. Am Dresdener Hauptbahnhof kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Staatsmacht.
    Die DDR führte nun die Visumspflicht für Reisen in die Tschechoslowakei ein. Der Flüchtlingsstrom wurde dadurch zwar zunächst gestoppt, aber als die Visumspflicht nach einigen Wochen aufgehoben wurde, stürmten kurz darauf erneut mehrere Tausend Menschen das Botschaftsgelände in Prag. Und wieder fanden Verhandlungen statt. Am 3. November abends wurde bekannt gegeben: Die Flüchtlinge könnten von Prag aus direkt und ohne Umwege in die Bundesrepublik ausreisen. Sechs Tage später fiel die Berliner Mauer.