Freitag, 19. April 2024

Archiv

DDR
Ist mein Kind am Leben?

Totgeburten in der DDR - fast 30 Jahre nach der Wende werden bei manchen Eltern und Geschwistern quälende Zweifel laut: Wurden in DDR-Krankenhäusern Kinder nach der Geburt für tot erklärt, in Wahrheit jedoch an regime-treue Familien weitergeben?

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 01.11.2018
    Bleiverglasung im Treppenhaus des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR im Wohngebiet 2Bleiglasfenster, Bleiglas, Fenster in Eisenhüttenstadt (Landkreis Oder-Spree) in Brandenburg. Gebaut wurde die einstige Kinderkrippe im Jahr 1954 bis 1955. Künstler war Walter Womacka. Foto: Volker Hohlfeld
    Für seine neue Studie hat der Medizinhistoriker Florian Steger mit vielen Betroffenen gesprochen, darunter auch Väter und Geschwister der verstorbenen Kinder. (imago/Voker Hohlfeld)
    Immer mehr Frauen haben Birgit Neumann-Becker in den letzten Jahren vom Zweifel am Tod ihres in der DDR geborenen Kindes erzählt.
    "Dieses Kind wurde geboren, und die jungen Frauen haben gesagt: Wir haben es auch gesehen. Oder wir haben es schreien gehört. Es war lebendig. Und kurz danach wurde uns mitgeteilt, dass mein Kind verstorben ist. Zum Teil haben sie diese Aussage relativ schnell angezweifelt und wollten dann Belege haben und wollten das Kind sehen. Und zum Teil haben sie auch erst vor zwei Jahren oder vor fünf Jahren angefangen, an dieser Mitteilung zu zweifeln."
    Befeuert wurden die Zweifel wohl unter anderem durch die Fernsehserie "Weißensee", die auch die Suche nach einem für tot erklärten Kind schildert, vermutet Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
    Zur Adoption freigegeben?
    Bis zum Sommer meldeten sich rund 30 Frauen bei ihr. Sie äußerten ganz unterschiedliche Vermutungen, was mit ihrem Kind passiert sein könnte.
    "Es gibt einige die sagen, ja, wir können uns vorstellen, dass mein Kind einer parteitreuen Familie zur Adoption freigegeben worden ist. Andere befürchten, dass ihr Kind irgendwie in ein Heim gekommen ist. Und für andere ist es einfach schwierig nicht zu wissen, was wirklich passiert ist. Häufig wussten die Frauen gar nicht, auf welchem Friedhof das Kind bestattet wurde, weil der Kontakt zwischen dem Krankenhaus und der Pathologie dort und der Familie überhaupt nicht hergestellt worden ist."
    Neue Studie
    Um die offenen Fragen zu klären, hat Birgit Neumann-Becker eine Studie in Auftrag gegeben. Professor Florian Steger, Direktor des "Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin" der Universität Ulm, kennt sich mit Unrecht im DDR-Gesundheitssystem aus: Er hat als erster Wissenschaftler über die Zwangseinweisung unliebsamer Frauen und Mädchen in die geschlossenen Venerologischen Abteilungen, Fachabteilungen also für sexuell übertragbare Krankheiten von DDR-Krankenhäusern, geforscht.
    Für seine neue Studie haben bislang rund 120 Menschen ihr Interesse als mögliche Teilnehmer bekundet. Mit einer "hohen zweistelligen Zahl" von Betroffenen hat der Medizinhistoriker bereits ausführlich gesprochen, darunter auch einige Väter und Geschwister der verstorbenen Kinder. In Dokumenten wie der Geburts- und Sterbeurkunde, Krankenakten oder auch Obduktionsberichten sucht Steger außerdem nach Auffälligkeiten.
    Zweifel und unverarbeitete Erinnerungen
    "Was sich so herauskristallisiert ist, dass die Mehrzahl der Frauen, dadurch dass sie mit den Kindern, die sie geboren haben, nicht mehr in Kontakt kommen konnten, also sie konnten sie in der überwiegenden Mehrzahl nicht berühren. Viele konnten sie gar nicht mehr sehen. Viele konnten sie nicht bestatten! Das heißt, sie konnten sich nicht verabschieden. Der Zweifel wird geschürt bei der überwiegenden Mehrzahl der Frauen durch Erinnerungen, die jetzt wieder hochkommen, weil sehr viel in den Medien darüber berichtet wird, dass in der DDR sogar Kinder gestohlen oder weggenommen wurden: Könnte ich nicht auch davon betroffen sein?"
    Genährt wird der Zweifel durch Fehler in den Unterlagen. Ein Datum ist falsch, das Geburtsgewicht stimmt nicht mit dem nach Eintritt des Todes überein. An einer Stelle ist das weibliche, an anderer das männliche Geschlecht angekreuzt.
    Bislang kein einziger bestätigter Verdacht
    Er nehme die Zweifel der Mütter und Väter sehr ernst, betont Florian Steger. Die Unregelmäßigkeiten hätten aber bislang in keinem einzigen Fall ausreichende Hinweise dafür geliefert, dass die DDR, wie Steger sagt, systematisch Kinder hat sterben lassen, um sie unter neuer Identität in eine andere Familie zu geben:
    "Dann kann ich als unabhängiger Wissenschaftler diesen Vorwurf nicht erhärtend annehmen. Sondern dann muss ich ihn so stehen lassen. Dann bleibt es zum Schluss eine ungeklärte Frage."
    Auch in Archiven und Stasi-Unterlagen konnte der Wissenschaftler bislang keinen Hinweis für ein planmäßiges Vorgehen des sozialistischen Staates finden. So etwas könne auch nicht vollständig geheim gehalten worden sein, gibt er zu bedenken:
    "Denn auch wenn es sich um eine Diktatur handelt in der DDR, muss man sich ja mal klar machen: Da sind ja sehr viele Menschen beteiligt. Da muss ein Arzt, eine Ärztin, Gynäkologie, Geburtshilfe, die Pflege, der Transportdienst, die Schwestern, andere viele Augen und Ohren, die sich in so einem Kreissaal befinden, auf einer Kinderstation sich befinden, im Krankenhaus selbst und die müssten ja alle zusammengehalten haben, um dieses Thema zu decken."
    Anders als in der Öffentlichkeit oft dargestellt, gehe es hier nicht um so genannte Zwangsadoptionen, bei denen Eltern - häufig aus politischen Gründen - das Kind weggenommen wurde, betont Steger.
    Manches wird unbeantwortet bleiben
    Vielmehr gehe es um die Auswirkungen einer in Ost wie West in den 70er- und 80er-Jahren verbreiteten Praxis, den Eltern das verstorbene Kind gleich wegzunehmen, um sie möglichst wenig zu belasten. Bis heute litten viele an der unbewältigten Erinnerung an ein schreckliches Ereignis.
    Manche Frauen würden allerdings aus dem Forschungsprojekt aussteigen, sobald sie merken, dass es um eine kritische Aufarbeitung geht, erzählt der Medizinhistoriker. Die meisten aber nähmen das produktiv auf - und stellten Fragen:
    "Können Sie sich vorstellen, dass das damals so gewesen ist? Passt das zu den Geschichten, die die anderen Ihnen erzählen - und vielleicht ist das auch eine Chance in diesem Projekt, manch einem zu helfen, mit dieser Erinnerung umzugehen, sie so ein Stück weit stehen lassen zu können wie sie ist. Und vielleicht gehört es auch dazu, dass man einen gewissen Teil nicht beantworten kann."