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Debüt über Armut in Indien
Der Smog, die Stadt und der Müll

In einem indischen Elendsviertel verschwinden Schüler. Kurzerhand werden einige Kinder zu Detektiven. Ihren Ermittlungen folgt die selbst indisch-stämmige Autorin Deepa Anappara in ihrem ersten Roman und erzählt dabei von einem gespaltenen Land.

Von Shirin Sojitrawalla | 29.04.2020
Die Schriftstellerin Deepa Anappara und ihr Roman "Die Detektive vom Bhoot-Basar"
Die Schriftstellerin Deepa Anappara und ihr Roman "Die Detektive vom Bhoot-Basar" (Buchcover Rowohlt Verlag / Autorenportrait (c) Liz Seabrook)
1988 kam der indische Film "Salaam Bombay!" heraus. Er erhielt damals nicht nur den National Film Award für den besten Film in Hindi, sondern viele weitere internationale Preise. Der Film erzählt die Geschichte des Kindes Krishna, das aus seinem Dorf in die Millionenmetropole Bombay, heute Mumbai, flieht. Krishna ist das, was man ein Straßenkind nennt. Eines von Zehntausenden. In den mehr als 30 Jahren seit Erscheinen des Films hat sich manches in Indien geändert. Was sich allerdings nicht oder nur unzureichend geändert hat, sind die unhaltbaren Zustände im Land. Noch immer überlässt die Politik die Armen des Landes weitgehend sich selbst. Über diese Zustände ist die Autorin Deepa Anappara bestens informiert.
Neunjähriger Ich-Erzähler
Ihr Debütroman nimmt eine ganz ähnliche Perspektive ein wie der eingangs erwähnte Film. Eine Perspektive von unten, aus der Sicht der Kinder. Im Falle des Romans ist es die Perspektive von Jai, Pari und Faiz. Ein Dreigestirn, das in einem Slum in einer nicht benannten indischen Großstadt sein Leben fristet. Der 9 Jahre alte Jai ist der Ich-Erzähler des Romans. Mit seinen Eltern und seiner Schwester lebt er in einem Zimmer und träumt von einem Leben jenseits des Elends. Andere Kinder treibt diese Sehnsucht dazu, von zu Hause wegzulaufen. Der Direktor der Schule reagiert und warnt seine Schüler:
"'Eine Epidemie verbreitet sich in unserer Schule', wettert er. 'Kinder glauben, sie könnten wie Promis leben, sie müssten nur den Zug nach Mumbai nehmen. Euch kommt das vielleicht wie Ferien vor, ein Leben ohne Lernen, Prüfungen, Lehrer.' Jemand fängt an zu johlen, und alle drehen den Kopf, um zu sehen, wer das war. 'Aber Ihr habt keine Ahnung von den Schrecken, die außerhalb dieser Mauern auf euch lauern.'"
Jai und die Detektive
Als immer mehr Schüler verschwinden, erhärtet sich der Verdacht, dass es sich nicht um eine Kinderei, sondern um ein Verbrechen handelt. Ein reales Verbrechen in Indien, wo im Jahr mehr als 100 000 Kinder spurlos verschwinden, um etwa als Sklaven verkauft oder als Organbesitzer ausgenommen zu werden. Der Fall dieser verschwundenen Kinder ist wie gemacht für den Möchtegern-Detektiv Jai im Roman. Am liebsten schaut der im Fernsehen Formate, die sich mit polizeilichen Ermittlungen beschäftigen und nach Art der Sendung "Aktenzeichen X Y... ungelöst" funktionieren. Der kleine Jai träumt davon, selbst Detektiv zu werden, und spätestens jetzt werden viele an Erich Kästners "Emil und die Detektive" denken. Auch der vorliegende Roman erzählt aus der naiven, manchmal auch sarkastischen Perspektive eines Kindes.
Die Reflexion über das Geschehen im Roman muss von den Lesern selbst geleistet werden. Im Gegensatz zu Kästners Kinderbuch erzählt Anappara in Zwischenkapiteln von den verschwundenen Kindern selbst. In anderen nimmt sie eine quasi göttliche Perspektive ein, um das Geschehen einzuordnen. Doch auch diese Kapitel verhindern nicht, dass man die längste Zeit meint, ein Jugendbuch in Händen zu halten. Allein die Auswahl der drei Kinder, mit dem blitzgescheiten Mädchen Pari, gehorcht den Konventionen der Jugendbuchliteratur und erinnert an das Trio aus "Harry Potter".
Wenig Reflexion, aber tiefe Einblicke
Doch auch wenn der Roman sich auf einem niedrigen Reflexionsniveau befindet, gibt er doch tiefgreifende Einblicke in eine Welt, die durchschnittlichen Indienbesuchern verborgen bleibt. Arme Kinder und Klebstoff schnüffelnde Grundschüler sieht man dort zwar allenthalben, aber die wenigsten besuchen sie in ihrem Zuhause. Der Roman schließt diese Lücke und entführt die Leser mit ausgereift sinnlichen Beschreibungen in die Welt dieser Elendsviertel, wo betäubender Gestank und Wohlgeruch die Gassen füllt:
"Niemand wird mir glauben, aber ich bin hundertpro sicher, dass meine Nase von den vielen Gerüchen nach Tee, rohem Fleisch, Brot Kebab und Rotis im Basar jedes Mal länger wird. Auch meine Ohren werden größer, wegen den Geräuschen: Kellen kratzen in Töpfen, Metzgermesser schlagen auf Hackbretter, Rikschas und Motorroller hupen, und aus den Videospielhallen hinter schmuddligen Vorhängen dröhnen Schießereien und Flüche."
Korruption, Kastenwesen, Kricket
Die länger werdende Nase verweist wohl nicht zufällig auf die berühmte Kinderbuchfigur Pinocchio. Dieser Auszug zeugt aber auch von der blitzblanken und flotten Übersetzung von pociao und Roberto de Hollanda. Mit viel Sinn für das Fremde und das Vertraute nähern sie sich der Geschichte. Im Anhang des Buches findet sich zudem ein nützliches Glossar, das die wichtigsten indischen Begriffe erklärt.
Die geschilderten Grausamkeiten stehen im krassen Gegensatz zum Eindruck eines Jugendromans. Die indische Lebenswirklichkeit prallt hier auf die schillernde Exotik des Slums. Die Perspektive der Kinder, die zuweilen das Pittoreske betont, verlangt dann geradezu nach erwachsenen Lesern, die, einfach, weil sie mehr wissen, das Ganze enttarnen können.
Anappara spiegelt die indische Lebenswirklichkeit, indem sie ihre Finger in die schwelenden Wunden der indischen Gesellschaft legt: Frauenfeindlichkeit und Vergewaltigungen werden ebenso thematisiert wie die fortschreitende Muslimfeindlichkeit in einem mehrheitlich von Hindus bevölkerten Land. Von der alltäglichen Armenverachtung und der vorsätzlichen Benachteiligung der Unterschicht spricht das Buch Bände. Auch die indischen drei Ks werden bedacht: Korruption, Kastenwesen, Kricket. Anderes, was den indischen Alltag beherrscht, wie etwa der grassierende Aberglaube und die Vaterhörigkeit indischer Familien beherzigt der Roman am Rande.
Unglaubliches Indien
Das alles spielt sich ab vor der drohenden Kulisse einer smogverseuchten indischen Großstadt, in der Atemschutzmasken schon vor Corona zum Straßenbild gehörten. Die Stadt hat viel von der indischen Hauptstadt Delhi. Dort und auch in Mumbai arbeitete Deepa Anappara als Journalistin, bevor sie nach England ging. In ihrem Debütroman erweist sie sich als wahres Erzähltalent: plastisch, sinnenfreudig und mit Gespür für die lautmalerische Schönheit der Sprache, wovon auch die deutsche Übersetzung zeugt:
"Die Straße war fast leer. Die Nacht brachte allerlei seltsame Geräusche: klipp-klapp, ritze-ratze, knister-knaster, holterdiepolter. Manche waren vielleicht auch noch vom Tag übrig, als sich zu viele Leute in den Geschäften unterhielten und nicht alle Stimmen Gehör fanden. Jetzt drangen sie durch spinnwebenbedeckte Decken, hinter Türen und unter summenden Kühlschränken hervor und waren so laut, wie sie nur konnten."
Incredible India, unglaubliches Indien, lautet der dazu passende Werbespruch der Tourismusindustrie, den auch der Roman zitiert. Deepa Anappara gelingt es in ihrem Roman, die Schrecklichkeiten Indiens auszustellen, ohne seine Schönheit außer Acht zu lassen. Dabei spiegelt sie die vormodernen und die modernen Seiten des Landes gleichermaßen. Heraus kommt das aufregende Sittenbild eines tief gespaltenen Landes.
Deepa Anappara : "Die Detektive vom Bhoot-Basar".
Aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda.
Rowohlt Verlag, Hamburg, 398 Seiten, 24 Euro.