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Debütroman
Packende, gut beobachtete Kurzporträts

Der Debütroman von Shani Boianjiu, besteht aus mehreren Kurzgeschichten, So beginnt der Debütroman von Shani Boianjiu, mit einer Schulszene. Sie erzählt von Mädchen, die in einer jüdischen Enklave aufgewachsen sind und sich auf dem Kasernenhof wiederfinden.

Von Marli Feldvoss |
    "Im Klassenzimmer-Container liegt Staub. Die Haare unserer Lehrerin Mira sind orange gefärbt und an den Spitzen versengt. Wir sind jetzt siebzehn, zwölfte Klasse, und fast durch mit der kompletten Geschichte Israels. Mit der Geschichte vom Rest der Welt waren wir schon in der zehnten Klasse durch. Wir sind in unserem Geschichtsbuch bei 1982 angekommen, ein paar Jahre, bevor wir geboren wurden, nur ein Jahr, bevor diese Stadt gebaut wurde. Davor gab es hier an der Grenze zum Libanon nichts als Pinien und Müllberge."
    So beginnt der Debütroman von Shani Boianjiu, der sich schon nach zwanzig Seiten von der Schule verabschiedet und unter der Überschrift "Der Klang schreiender Mädchen" auf dem Kasernenhof wiederfindet. Darunter die drei Schulfreundinnen Avishag, Lea und Yael.
    Dennoch sollte man diesen "Prolog" nicht ganz aus den Augen verlieren, denn er verrät, wenn auch versteckt, dass diese Mädchen in einer jüdischen Enklave aufgewachsen sind, die infolge des Ersten Libanonkriegs in der Nähe der libanesischen Grenze errichtet und zwangsbesiedelt wurde. Wer sich etwas besser mit der israelischen Geschichte auskennt, kann freilich auch den Testfragen im Geschichtsunterricht über den sogenannten Frieden-für-Galiläa-Krieg einige Hintergrundinformationen abgewinnen.
    Wehrpflicht als selbstverständliche Notwendigkeit
    Alles in allem hält sich die Ich-Erzählerin Yael, die der Autorin am ähnlichsten sieht, ziemlich bedeckt, was politische Fragen anbelangt. Ähnlich verhält es sich mit dem sloganartigen Titel "Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst". Sarkasmus? Schwer zu sagen. Schließlich verweist er auf das aufgerüstete jüdische Ego, das sich nicht zuletzt den Großtaten der israelischen Armee, Israels Identitätsfaktor Nummer eins, verdankt. Das gilt auch für die Frauen, die ein Drittel der Armee bestücken.
    Wehrpflicht ist hier selbstverständliche Notwendigkeit, Widerstand ist Tabu. "Nein" heißt es nur, wenn es um die Verletzung der Vorschriften geht.
    "Ich sagte Nein. Und dass ich müde wäre. Yaniv fragte, ob ich statt Menschen lieber Autos kontrollieren wollte, aber ich sagte Nein. Er sagte, er hätte es satt, sich ständig vorzubeugen. Und dann meinte er, "Lea, wenn du ein Herz hast, dann sagst du Ja und hast Mitleid mit mir, ich habe Probleme mit dem Rücken und der Familie", aber ich sagte Nein. Nein, und dass er sich sowieso nicht vorbeugen und den Kopf zum Autofenster reinstecken sollte, weil das verboten wäre. Da nannte er mich eine russische Hure, dabei bin ich halb Marokkanerin und halb Deutsche."
    Überforderte Rekruten in der Grundausbildung
    Lea von der Straßenkontrolle am Checkpoint Hebron, wo sich morgens die Drehkreuze drehen, um Hunderte palästinensischer Bauarbeiter für den Tag durchzulassen, wird später miterleben, wie ihrem unvorsichtigen Kollegen bei einer Autokontrolle die Kehle durchgeschnitten wird.
    Nach der Grundausbildung werden die Rekruten mit Aufgaben betraut, als Grenzbewacher oder Waffenausbilder, die sie eigentlich überfordern. Eine Sonderbehandlung für Frauen scheint es nicht zu geben. So müssen am ABC-Tag alle ohne Maske ins Tränengaszelt – der ultimative Stresstest. Aber die Gasmaske gehört in Israel in jeden Haushalt:
    "Meine früheste Erinnerung. Ich öffne die Augen und sehe den Raum durch Plastik. Mein Vater hat seine Maske auf, und meine Schwester, die zu klein für eine Gasmaske ist, liegt in einem vor Gas schützenden Inkubator, der auf dem Boden steht. Dan nimmt seine Maske immer wieder ab und Papa schlägt ihn. Papa nimmt seine eigene Maske ab, um aus seiner Flasche Arrak zu trinken. Wir schreiben das Jahr 1991 und aus dem Irak schießt man Raketen auf uns ab. Im Radio heißt es, wir sollen nicht in die Luftschutzkeller gehen. Sie sagen, man solle ein Zimmer im Haus mit Klebeband abdichten, Gasmasken tragen, viel Wasser trinken und auf das Beste hoffen."
    Ungeordneter Erzählstakkato
    Das Nebeneinander von kontemplativen Momenten und dem von abenteuerlichen oder absurden Mutproben, Tod und vor allem Langeweile durchzogenen Armeealltag, der vom Erlebnishunger und den Hormonschüben der Rekruten, weiblich wie männlich, angeheizt wird, spiegelt sich auch im sprachlichen Ungleichgewicht der Lektüre, die mit Soldatenjargon und heruntergelassenen Armee-Hosen nicht selten an Landserliteratur erinnert. Die eher lyrischen, literarischen Passagen haben es schwer neben dem Erzählstakkato eines abgehackten Schreibstils, der ungeordnet und ungestüm von Höhepunkt zu Höhepunkt hastet, zugleich jedoch ein erfrischendes und eben auch luzides Erzähltalent offenbart.
    "Ich atmete das Schießpulver ein, das wir alle an den Fingern hatten, und den Geruch der Feigenbäume auf unserem Stützpunkt. Und ich begriff, dass es Menschen gab, die für den Kampf lebten, für den Moment, bevor man gewann oder verlor. Menschen, denen diese Welt nicht genug war; sie wollten eiskaltes Wasser in den Adern, Schönheit um jeden Preis, Klettern aus Gräben unter Beschuss, explodierende Granatenhalsketten. Faszinierende Menschen, die sich noch nicht einmal vorstellen konnten, dass es Folter gab. Und ich schaute die vielen Männer auf dem Sand an. Jeder Einzelne hatte Schultern, die breiter waren als meine, aber ich wusste, dass sie ihnen in dem, was kommen würde, nichts nützen würden. Und da wusste ich: Ich war nie einer von diesen faszinierenden Menschen."
    Kein Roman im eigentlichen Sinne
    Der Debütroman der heute 26jährigen Shani Bojanjiu liest sich so, als hätte die Autorin einen Großteil ihrer vorher an prominenter Stelle veröffentlichten Kurzgeschichten kompiliert und neu choreografiert - ein Roman im eigentlichen Sinne ist daraus nicht geworden. Der Text gehorcht eher einer Versuchsanordnung als einem Lesestück, das auf ein Ziel aus ist und den Leser mitnehmen will. Dazu gehören auch packende, gut beobachtete Kurzporträts, aber viel länger als zwanzig Seiten hält der Erzählatem der Schreiberin nicht durch.
    Es erstaunt eigentlich, dass dieses Buch auf einen Schlag in 23 Länder verkauft wurde. Geholfen hat dabei sicher, dass es auf Englisch und nicht auf Hebräisch verfasst wurde. Obwohl einer sprachkundigen amerikanischen Kritikerin auffiel, dass hier hebräische Redewendungen nicht selten wortwörtlich ins Englische übersetzt worden seien.
    Die drei Schulfreundinnen durchlaufen eine durchaus nachvollziehbare Coming-of-Age-Story im Armeelook, die sie nicht ganz unbeschädigt entlässt, keine Frage - nur der raue, coole Tonfall, den die Autorin dabei anschlägt, legt es keineswegs auf Mitgefühl an. Das befremdet. Trotzdem ist dieses Debüt nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wie viel verdrängte Angst hinter der saloppen Erzählhaltung steht, wird erst auf den letzten Seiten ganz offen ausgesprochen und mit dem Rat einer israelischen Mutter besänftigt:
    "Befolge deine Befehle, und dir passiert nichts."