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Delius: Fragen Sie mich etwas einfacheres...

Lange: Kultur in Deutschland im Jahr 2003, da ist jeder Versuch einer Zusammenfassung schon zum Scheitern verurteilt, deshalb vielleicht nur einige Stichworte: ein Oscar für Caroline Link und ihren Film 'Irgendwo in Afrika’, Daniel Brühl von 'Good ye Lenin’ der Schauspieler des Jahres, die Frankfurter Buchmesse hat die Kurve gekriegt, aber das Monopoly bei den Verlagen geht munter weiter, Prominentenbiographien unterschiedlicher Qualität waren die Renner und der Band 5 von Harry Potter, die Hauptstadt hat mit Hilfe des Bundes eine Opernstiftung bekommen, die den Bestand der drei Häuser hoffentlich sichert, ansonsten großes Klagen in den Städten über Mittelkürzungen bei Bibliotheken und kulturellen Einrichtungen jedweder Art. Wie hat sich das kulturelle Klima in Deutschland unter dem Eindruck von Irak-Krieg und Agenda-Debatte verändert oder ist es jetzt auch nicht anders, als vor ein oder zwei Jahren? Wir haben uns einen Gesprächspartner gesucht, der den Vorzug hat, dass er große Teile des Jahres in Italien verbracht hat und deswegen mit einer gewissen Distanz auf das schauen kann, was sich in Deutschland in diesem Jahr so getan hat. Am Telefon in Berlin begrüße ich den Schriftsteller Friedrich Christan Delius, schönen guten Morgen.

    Delius: Guten Morgen.

    Lange: Wenn Sie das kulturelle, geistige Klima in Deutschland 2003 von außen so betrachten, was fällt Ihnen da als erstes auf?

    Delius: Natürlich die ungeheure Aufgeregtheit und Prinzipienreiterei, dass wir uns also nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau der Kultur bewegen, aber auch auf einem sehr hohen Niveau der Hysterie. Ich sehe es so, dass wir alle, die ganze Gesellschaft für die Milchmädchenrechnungen der 80er- und 90erjahre bezahlen muss und da ist viel zu tun, da kann sich die Kultur auch nicht ganz ausschließen. Aber da müssten wir in die Details gehen.

    Lange: Was haben Sie mit besonderem Interesse verfolgt, was hat Sie eher abgestoßen?

    Delius: Was mich abstößt ist, dass in der ganzen Kulturdebatte die Inkompetenz der Leute überhand nimmt, die eher vom Neoliberalismus, die nichts weiter haben als eine Taschenrechnermoral, dass die versuchen, Kunst, Kultur, Bildung und so weiter, alles unter diese Moral zusetzen. Dagegen muss man sich natürlich wehren, inhaltlich sagen, was uns wirklich wichtig ist, was ausgebaut und verteidigt werden muss.

    Lange: Beharren die Kulturinstitutionen aus Ihrer Sicht zu sehr auf ihren alten Bastionen?

    Delius: Ja, jeder verharrt erst mal, das ist normal und in der Regel nicht falsch. Wir haben nur das riesige Problem, dass immer mehr der Personaletats blockiert sind, das kenne ich auch hier aus Berlin und dass inhaltliche Arbeit immer weniger möglich ist, weil wir ein riesiges Personal durchfüttern müssen. Da muss man arbeiten und da sind die Verträge oft so, dass man wenig machen kann. Das sind zentrale Punkte, die inhaltlichen Vorstellungen gibt es ja und die sind besser, aber es gibt immer noch die Betriebs- und Personalräte, die dann stärker sind, als die inhaltlichen Argumente.

    Lange: Kommen wir mal von der Ebene der Produzenten zu der der Produkte. Es gab zwei viel beachtete Wunder-Filme, 'Das Wunder von Bern’ und 'Das Wunder von Lengede’. Den ersten haben Sie gesehen, wie fanden Sie den?

    Delius: Ich fand es einen rührenden Film, muss ich schon sagen, ich habe mich ja selber vor zehn Jahren mit dem Thema beschäftigt in meinem Buch 'Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde’ und ich kenne das Metier. Es ist handwerklich ganz ordentlich gemacht, kein großer künstlerischer Film, berührt ganz zentral einen deutschen Mythos und das ist von mir aus alles in Ordnung, nur wenn das jetzt alles zum Gründungsmythos der Bundesrepublik stilisiert und gefeiert wird, dann wird natürlich ganz viel, was in den Zeiten des Kalten Krieges und davor in Deutschland war, so weit wieder ausgeblendet, wo dann nur noch die Moral ist 'wir sind im Grunde doch immer die Besten und haben es eigentlich verdient, die Weltmeister zu sein; und zwar auf ewig’. Das ist schon ein bisschen fatal, aber der Film kann auch nicht immer was für seine Rezeption.

    Lange: Aber es gibt doch schlechtere Gründungsmythen als den.

    Delius: Natürlich. Nur ist ja vorher ein Heer von Verbrechern durch die Welt gezogen. Das muss jetzt gar nicht in dem Film sein, das sind aber Mythen, die einem auch einfallen, wenn man sieht, wie jetzt die 54er-Tore ins Scheinwerferlicht gesetzt werden. Aber das sind Widersprüche, mit denen man leben muss. Das ist nichts gegen den Film und seine Verehrer.

    Lange: Gibt es ein Buch, das Sie 2003 gelesen oder entdeckt haben und das sie unbedingt weiterempfehlen würden?

    Delius: Es gibt zum Beispiel die Bücher des Büchner-Preisträgers Alexander Kluge, von einem eher jüngeren Autor, was mir eingefallen ist, den ich sehr gut finde, Reinhard Jirgl, 'Die Unvollendeten’, bei Hanser erschienen, das gehört übrigens zu 54, der eine Flüchtlingsgeschichte schreibt von Menschen, die aus Böhmen in die DDR kommen. Das ist so beschrieben, wie es noch nie beschrieben wurde nach meinem Eindruck, nämlich ohne jede Sentimentalität.

    Lange: Es gab dieses Jahr die Debatte um ein Vertriebenenzentrum. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?

    Delius: Wenn man das wirklich als eine europäische Sache ansieht, vertrieben wurde seit tausenden von Jahren immer hin und zurück und wenn man das alles mal in einem sieht, auch, was in Europa in den letzten paar hundert Jahren passiert ist, wie die Bewegungen hin- und herging, dann habe ich da nichts dagegen. Aber wenn das wieder die einseitige Sache wird, 'wir sind die einzigen Opfer’, wenn man so tut, dann muss man natürlich dagegen sein.

    Lange: Sie leben überwiegend in Italien, da werden Sie das Theater um die deutschen Sommerurlauber miterlebt haben, das der damalige Tourismussekretär Stefani ausgelöst hatte. Nach der Urlaubsabsage von Gerhard Schröder konnte man ein bisschen den Eindruck bekommen, da haben sich die Populisten gefunden. Wie sehen Sie das?

    Delius: Ich fand das von Schröder völlig richtig, da zu sagen 'wenn ihr solche Heinis in der Regierung habt, dann muss ich da nicht hin’. Und das ist ja nicht der einzige Heini und was Herr Berlusconi da anrichtet, wie der die demokratischen Institutionen runterfährt in Italien, das macht man sich in Deutschland viel zu wenig klar und dass viele Leute in seiner Regierung sind, die nicht nur so denken, sondern auch solches undemokratisches Stammtischdenken im schlechtesten Sinne öffentlich an den Tag legen und dafür normalerweise gar nicht mehr kritisiert werden, weil Presse und Fernsehen, wie man ja weiß, mehr oder weniger für eine Partei spricht, dann ist das schon richtig und viele Italiener fanden das sehr gut, dass Schröder dann gesagt hat: nein, dann nicht.

    Lange: Was wünschen Sie sich, was sollte sich 2004 unbedingt ändern?

    Delius: Haha, fragen Sie mich etwas einfacheres...

    Lange: Also ganz vieles?

    Delius: Ja, natürlich, haha.

    Lange: Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr.

    Delius: Danke.