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Dem Jenseits so nahe

Nahtoderfahrungen polarisieren: Während Betroffene überzeugt sind, zumindest einen Blick in Richtung Jenseits geworfen zu haben, blickt die Forschung ins Gehirn und findet: Fehlfunktionen. Eine spannende Diskussion und viele offene Fragen.

Von Inka Kübel | 15.08.2013
    "Was mich am meisten überwältigt hat, war die Trennung vom Körper, dass das so leicht geht, und für mich war am eindrücklichsten das Verschmelzen mit dem Licht … Ich war eins mit diesem Licht."

    Sabine Mehne. Mitte der 90er Jahre erkrankte sie an einem besonders heimtückischen Krebs und hatte kaum Chancen zu überleben.

    "Und das Licht ist eben für mich eine andere Dimension. Das ist nicht mehr unsere Realität hier."

    "Es war warm, es war hell, es war ein Strahlen, was einem nicht wehtut und blendet, sondern es war einfach NUR angenehm."

    Manuela Maetze. Sie war nach einem Blinddarmdurchbruch im Jahr 2004 an der Schwelle des Todes.

    "Ich hatte das Gefühl, dass ich in die Arme genommen und gehalten werde. Und ich wurde bedingungslos und grenzenlos geliebt."

    "Wir wissen, dass bestimmte Phänomen-Anteile der Nahtoderfahrung chemisch-pharmakologisch ausgelöst werden können, Ketamin, LSD machen wirklich vergleichbare Erfahrungen. (…) Und eine wichtige Basis für dieses Einssein könnte z.B. das Fehlen der Körperempfindung sein. Der Körper mit seiner Schwere, wenn das eine krisenhafte Situa-tion ist mit seinen Schmerzen, ist vollkommen weg! So etwas gibt es auch unter Hypnose. Dieses vollkommene Wegsein des Körpers ist ein Gefühl tiefsten Friedens. Und ganz gro-ßer Ruhe."

    Die Auffassung des Neuropsychologen Christian Hoppe steht repräsentativ für die Hirn-forschung. Eine tiefe Kluft tut sich hier auf: Während Betroffene häufig überzeugt sind, zumindest einen Blick in Richtung Jenseits geworfen zu haben, blickt die Forschung ins Gehirn und findet: Fehlfunktionen. Da ist dann die Rede von Wahrnehmungen, die infolge von Sauerstoffmangel entstehen, biochemische, hormonelle Ursachen haben, letztlich als komplexe Halluzinationen zu deuten sind. Von der Wahrheit der Betroffenen ist das weit entfernt.

    "In dem Moment war ich so lebendig wie nie in meinem Leben zuvor. Es ist ein Nah-Lebens-Erlebnis für mich gewesen. Ich war sowas von klar und sowas von ich in dem Moment, und nicht verbogen, wie ich wahrscheinlich nur zum Zeitpunkt meiner Geburt war."

    Dem Tode nah, doch so lebendig wie nie? Für die Wissenschaft sind Nahtoderfahrungen besonders beeindruckend, wenn faktisch akute Lebensgefahr bestand, oder ein Patient bereits für klinisch tot erklärt wurde – ein Zustand, der das Gehirn innerhalb kürzester Zeit schwer schädigt: kein Kreislauf, keine Atmung, keine Reflexe, etwa nach einem Herzstillstand.

    "Wenn man nicht innerhalb von 5-10 Minuten mit der Wiederbelebung beginnt, sterben die Leute. Der Prozess gleicht fast exakt dem des Sterbens. Und wir wissen auch, dass bei Menschen, die einen Herzstillstand haben und bewusstlos werden, die Hirnfunktion in-nerhalb von 15 Sekunden zusammenbricht. Wenn die Menschen also von einem erweiter-ten Bewusstsein in dieser Phase des Herzstillstands berichten, muss man fragen, wie es möglich ist, dass sie diese Erfahrungen machen. Denn gemäß der gängigen medizinischen Wissenschaft ist das unmöglich. Es ist völlig unmöglich."

    Keine messbaren Gehirnströme, aber ein glasklares Bewusstsein? Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel behauptet, dass es diese Möglichkeit gibt. Für ihn bewegen sich Menschen in einer Nahtoderfahrung an der Schwelle zu dem, was er endloses oder nicht-lokales Bewusstsein nennt. Als Schulmediziner hatte van Lommel so etwas lange ausgeschlossen. Aber er hat seine Auffassung geändert.

    "Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Bewusstsein auch da ist, wenn wir sterben. Für Menschen mit Nahtoderfahrung ist der Tod nur das Ende ihres physischen Aspekts. Aber das Wesen dessen, wer wir sind, bleibt bestehen."

    Im ersten Teil seiner groß angelegten zweiteiligen Studie wurden Herzpatienten, nur kurze Zeit nach ihrer Wiederbelebung befragt. Acht Jahre dauerte die Untersuchung, 2001 wurde sie in "The Lancet" veröffentlicht. Das ist schon ein paar Jahre her, aber sie gilt weiterhin als bedeutsam. Denn alle anderen Studien in dieser Größenordnung beruhten bis dahin fast ausschließlich auf Erzählungen und Berichten, die oft Jahre oder Jahrzehnte zurücklagen und selten klinisch dokumentiert waren. Was herauskam, hat van Lommel selbst überrascht.

    "Was wir herausgefunden haben, ist: Es gibt keine psychologische Erklärung, keine pharmakologische Erklärung, keine physiologische Erklärung, warum Menschen diese Art von Erfahrungen machen."

    Van Lommel hat eine gewagte These aufgestellt: Er geht davon aus, dass das menschli-che Bewusstsein nicht unbedingt an Hirnfunktionen gebunden ist. Das wäre eine wissenschaftliche und weltanschauliche Revolution. Für ihn fungiert das Gehirn als Empfänger von Informationswellen – er vergleicht es mit dem Handy, dem Internet oder dem Fernsehen.

    "Wenn sie ihren Fernseher ausstellen, dann läuft das Programm weiter. Das Gehirn ist für mich eine Art Empfänger. Es empfängt Bewusstsein – was nicht hergestellt wird, son-dern was überall ist. Das Gehirn überträgt Information von unserem Körper und von unse-ren Sinnen auf unser Bewusstsein. Es hat also eine Schnittstellen-Funktion, keine herstel-lende Funktion."

    Die Bewusstseinstheorie, die van Lommel auf der Grundlage seiner Nahtodforschung aufgestellt hat, ist zwar umstritten – aber sie ist in ihrer Gänze auch hoch komplex, versucht biologische und quantenphysikalische Beschreibungen zu vereinen. Bei allen berechtigten Zweifeln: Es gibt eine offenbar unüberbrückbare Erkenntnislücke, die auch für die hirnbiologische Deutung von Nahtoderfahrungen gilt. Christian Hoppe:

    "Wenn Sie ins Gehirn schauen, in die Nervenzellen schauen, dann wird sie NICHTS, was sie dort finden irgendwie auf die Idee bringen, dass diese Prozesse Träger von BW und Wahrnehmung sein könnten."

    Niemand kann also erklären, wie aus den Aktivitäten der Nervenzellen die konkreten Inhalte und die Sinnhaftigkeit unserer Gedanken, Gefühle und Empfindungen werden. Die Hirnforschung stößt hier an ihre Grenzen. Vonseiten der Sozialwissenschaften ist es die Studie des Soziologen Hubert Knoblauch, die die Diskussion maßgeblich mit geprägt hat. Knoblauch spricht vom "Mythos" Nahtoderfahrung – nicht weil er deren Existenz bestreiten würde, sondern weil die Ergebnisse seiner Untersuchung das sogenannte "Standardmodell" mit den typischen Tunnel–Licht-Erlebnissen etwa oder den außerkörperlichen Erfahrungen, in Zweifel ziehen. Dieses Modell, das ursprünglich auf den amerikanischen Arzt Raymond Moody zurückgeht, hat sich zwar wie ein Selbstläufer durchgesetzt – aber zu recht? Die Soziologin Ina Schmied-Knittel war an der Studie betei-ligt.

    "Es ist uns aufgefallen, dass entgegen der gängigen Vorstellung, wonach diese NTE immer nach dem gleichen Schema oder Modell ablaufen, sich in unserer Untersuchung gezeigt hat, dass eigentlich kaum eine Erfahrung mit der anderen vergleichbar ist. Und dass da ganz deutliche biographische, aber auch kulturelle Einflüsse zum Vorschein kom-men."

    Aus Sicht der Soziologen sind es nicht einzelne Inhalte wie ein helles Licht oder ein dunk-ler Tunnel, die Nahtoderfahrungen kennzeichnen. Sondern bestimmte strukturelle Muster. Sie zeigen sich z.B. bei außerkörperlichen Erfahrungen, bei denen die Betroffenen überzeugt sind, ihren Körper zu verlassen und das Geschehen von oben zu betrachten.

    "Dann schwebte ich plötzlich so halbhoch an der Decke. Zunächst Verwirrung: Bist du tot? Stirbst du jetzt? Aber auch dann wieder der Übergang in dieses Glücksgefühl. Das Schweben wurde plötzlich unstabil und ich drohte so durch die Wände dort irgendwohin zu verschwinden, das ist aber dann doch nicht passiert, das Schweben wurde wieder stabil. Und das Bild hat sich mir eingeprägt: das war das Bild, dass ich den Körper ablege wie einen Mantel. Wie einen alten lästigen Soldatenrock. Und das war ungeheuer be-freiend, dieses Ablegen des Körpers. Es war ein Akt der Befreiung, der Umwandlung, der Veränderung – kaum zu beschreiben."

    Alois Serwaty. Ein ehemaliger Offizier der Bundeswehr. Im Alter von 43 Jahren machte er diese Erfahrung, während einer Herzkatheder-Untersuchung bei der es schwere Komplikationen gab. Die außerkörperliche Erfahrung legt so ein typisches Erlebnismuster bei Nahtoderfahrungen offen.

    "Es verdeutlicht eben den besonderen kognitiven und psychologischen Erfahrungsstil von NTE, die sich nämlich offensichtlich durch eine markante Differenz von Eigenwahr-nehmung und Fremdwahrnehmung auszeichnen. Also während die Betroffenen aus der Perspektive ihrer Umgebung als bewusstlos oder sogar als tot erklärt werden, leben sie in ihrer subjektiven Perspektive weiter und erfahren dabei ganz glasklare und recht merkwürdige Dinge, an die sie sich im Nachhinein auch klar und deutlich zu erinnern vermögen."

    "Ich habe mir aber später bestätigen lassen, dass die Beobachtung, die ich gemacht habe mit diesem Schild, dass die richtig gewesen sei und dass ich die aus dieser Lage auf dem OP-Tisch gar nicht hätte machen können."

    Die Diskussion um das Standardmodell von Nahtoderfahrungen ist noch nicht beendet. Der Theologe und Philosoph Joachim Nicolay etwa bemängelt, die Studie der Soziologen lege einen Begriff von Nahtoderfahrung ohne spezifischen Inhalt zugrunde und zeige eigentlich nur …

    "…, dass in bedrohlichen Lebenssituationen nicht NUR über klassische Nahtoderfah-rungen berichtet wird, sondern auch über ANDERE, individuell getönte Erlebnisse."

    Tatsächlich ergab die Studie von Hubert Knoblauch, dass 40 Prozent der Befragten eines oder mehrere Elemente der Standarderfahrung erlebten. Je nachdem wie eng der Begriff Nahtoderfahrung gefasst wird, kann man das als hohe oder niedrige Zahl werten.

    Das Rennen um die stimmigere Deutung von Nahtoderfahrungen ist trotz der Erfolgsge-schichte der Naturwissenschaften und der Annäherung von sozialwissenschaftlicher Seite offen. Ina Schmied-Knittel nennt den Kern des Problems:

    "Die Krux liegt letztendlich darin, dass man diese Erfahrung einfach nicht beobachten kann. Und dass die Berichte, die uns zur Verfügung stehen, mit den uns wiederum zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln einfach nicht objektivierbar sind. Das ist schade, aber es macht sozusagen auch das Faszinosum dieser Forschung aus."

    Fakt ist auch: Jeder Versuch Nahtoderfahrungen in Worte zu fassen bedeutet nur eine vage Annäherung an das Erlebte. Die Mitteilbarkeit stößt hier an enge Grenzen. Das betonen Betroffene wie Sabine Mehne immer wieder:

    "Man kommt nicht umhin irgendwann für sich selbst dann auch den Punkt zu finden, wo man sagt, so, das ist MEIN Sinn. Das ist meine persönliche Zuschreibung, die ich die-sem Ereignis in meinem Leben gebe. Egal was alle Wissenschaftler oder andere sa-gen."