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"Dem Spuk ein Ende bereiten"

Der Schriftsteller Ralph Giordano hat die Kunstaktion Santiago Sierras in einem ehemaligen jüdischen Bethaus in Pulheim bei Köln als "Niedertracht" bezeichnet. Er spreche Sierra, der am Sonntag hochgiftige Autoabgase in das Gebäude geleitet hatte, jede Künstlerschaft ab, sagte der Holocaust-Überlebende Giordano. Er rate dem Bürgermeister der Stadt dringend, "dem Spuk ein rasches Ende zu bereiten".

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: In Pulheim ist gestern eine ehemalige Synagoge zur Gaskammer geworden. Pulheim ist eine Kleinstadt bei Köln, den meisten in Nordrhein-Westfalen wohl als Heimatort von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers bekannt. Die Stadt hat sich auf eine Zusammenarbeit mit dem international anerkannten Künstler Santiago Sierra eingelassen, der schon in den zurückliegenden Jahren, zum Beispiel auf der Biennale, mehrfach provozierte. Was genau er in Pulheim plante, wussten nur wenige, wie zum Beispiel der Bürgermeister oder die Leiterin des Kulturamtes. Sierra verband gestern mehrere Autos durch Schläuche mit dem ehemaligen Bethaus und leitete hochgiftige Abgase ein. Das Publikum sollte und wollte sich danach mit Gasmasken einen persönlichen Eindruck von dem - in Anführungsstrichen - "Erlebnis" machen. Sierra will auf diese Weise gegen die Banalisierung des Gedenkens an den Holocaust angehen. Proteste ließen nicht lange auf sich warten, der Zentralrat der Juden hat heftig kritisiert. Am Telefon in Köln ist jetzt der Schriftsteller Ralph Giordano. Guten Morgen, Herr Giordano!

    Ralph Giordano: Guten Morgen!

    Remme: Was empfinden Sie als Holocaust-Überlebender angesichts einer solchen Aktion?

    Giordano: Sie hören mich seufzen. Ich bin eigentlich sprachlos. Als ich das gestern las und hörte, habe ich zunächst gedacht, den Opfern des Holocausts und den Überlebenden natürlich bleibt doch wirklich nichts erspart. Was da passiert, ist in meinen Augen eine Niedertracht sondergleichen. Und das niederträchtigste daran ist, dass Santiago Sierra, so empfinde ich das, das als Kunst ausgibt. Für mich ist das Hochstapelei, ich spreche dem Herrn jede Künstlerschaft ab. Also ich habe mich gefragt. Was ist daran Kunst, giftige Abgase aus den Auspuffrohren von sechs Autos in das frühere jüdische Bethaus von Pulheim-Stommeln zu leiten? Wer hat überhaupt, das ist eine andere Frage, seine Genehmigung für diese Geschmacklosigkeit gegeben?

    Remme: Herr Giordano, könnte es sein, dass diese Abscheu angesichts dieser Tabuverletzung möglicherweise nur ein erster Reflex ist?

    Giordano: Das kann natürlich sein. Aber ich wiederhole, ich bin sprachlos. Und dem Bürgermeister von Pulheim-Stommeln - ich höre, dass er Karl August Morisse heißt - der da von einem drastischen Kunstwerk redet, dem rate ich dringend, dem Spuk ein rasches Ende zu bereiten. Und all denen, die über diese Aufforderung von mir die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, denen rate ich, ihre Einstellung zur Meinungsfreiheit einmal zu überprüfen. Nein, ich bin vollkommen in Übereinstimmung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, meinem Freund Paul Spiegel und Generalsekretär Kramer, die von einer niveaulosen Aktion gesprochen haben.

    Herr Kollege, lassen Sie mich noch etwas sagen. Meine Familie und ich, wir haben jahrelang Angst gehabt vor dem jederzeit möglichen Gewalttod. Diese Angst war unser zentrales Lebensgefühl gewesen. Ich sinne seit gestern darüber nach, was wir damals wohl empfunden hätten, wenn die Zukunft voraussehbar gewesen wäre und wir von dieser Aktion gehört hätten. Ich glaube, wenn Santiago Sierra jemals in unserer Situation gewesen wäre, dann hätte er sich sein Pulheimer Machwerk verkniffen. Die gute Absicht, sollte er sie denn haben, entschuldigt ihn in meinen Augen jedenfalls nicht.

    Remme: Dann bleiben wir bei der Absicht, Herr Giordano. Stimmen Sie denn zu, dieser Diagnose von Sierra, dass das Gedenken an den Holocaust zunehmend banalisiert wird?

    Giordano: Sie hören mich wieder seufzen. Und ich kann darauf keine Antwort geben. Ich würde sagen, der Holocaust, also der Völkermord an den Juden im deutschbesetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges ist heute so im Bewusstsein der Bevölkerung wie noch nie, in noch keiner Periode der zweiten deutschen Demokratie nach 1945. Ich würde sagen, bescheiden wie wir geworden sind, empfinde ich es als Genugtuung, dass Auschwitz und alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert, als historisches Faktum heute anerkannt ist. Also ich denke, auch dieses Argument von Herrn Sierra sticht in meinen Augen nicht.

    Remme:! Ist Ihre Kritik vor allem Protest gegen den Künstler oder auch gegen das Publikum, das dort teilnimmt?

    Giordano: Eigentlich gegen beides. Und ich sträube mich, Santiago Sierra jedenfalls in diesem Zusammenhang das Prädikat Künstler zuzuerkennen. Ich sehe da keinerlei Kunst bei dieser geschmacklosen Aktion.

    Remme: Pulheim will die Aktion ja jetzt bis zum 30. April wöchentlich wiederholen. Wäre es nicht angebracht, sich hinzustellen, mit den Leuten zu diskutieren?

    Giordano: Für einen Überlebenden des Holocaust wäre das eine ganz, ganz große Zumutung, Herr Kollege, wie Sie sich vorstellen können. Aber Sie haben Recht, ich werde mir das überlegen.

    Remme: Der Kölner Schriftsteller Ralph Giordano. Herr Giordano, vielen Dank für das Gespräch.

    Giordano: Bitte.