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Demografie-Experte: Deutsche sind der Kinder entwöhnt

Der Demografie-Experte Reiner Klingholz mahnt angesichts der bevorstehenden Überalterung in Deutschland zum Handeln. Im Jahr 2050 werde jeder achte Deutsche über 80 Jahre alt sein, sagte der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. "Wie wir das alles regeln, und wie wir das bezahlen, das wissen wir heute nicht", sagte Klingholz.

Moderation: Klaus Remme | 17.01.2007
    Klaus Remme: "Aufstand der Alten", so heißt ein ZDF-Dreiteiler über das Leben im Jahr 2030, dessen erster Teil gestern Abend zu sehen war: ein neuer, ein anderer Weg, die demografische Entwicklung mit all ihren Problemen zu thematisieren. Eine düstere Welt ist das, die uns präsentiert wird: Obdachlose, die in ehemaligen aufgegebenen Theatern hausen, Rentner, die ihre Medikamente aus Apotheken klauen müssen, und im Gegensatz dazu eine reiche Schicht von nimmer Lebensmüden, die es sich gut gehen lassen können.

    Das alles scheint noch weit weg. Einiges ist längst Realität. Im Berliner Bezirk Neukölln wird zurzeit über einen Spielplatz für Senioren diskutiert. Der Suizid, auch dies ein Thema des Films, ist auch schon im Jahr 2007 ein Altersproblem. Und das Wort vom sozialverträglichen Frühableben hat uns schon vor neun Jahren bewegt. Erinnern Sie sich noch an die Äußerung des damaligen Ärztepräsidenten Karsten Vilmar '98?

    "Dann müssen die Patienten mit weniger Leistung zufrieden sein, und wir müssen insgesamt eben überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen. Das wird die Konsequenz sein, und das müssen die Patienten begreifen und müssen eben das ertragen wie in anderen Ländern ja auch, wo Leistungen rationiert werden, wie zum Beispiel in England."

    Remme: Karsten Vilmar, nicht 2030, 1998. Am Telefon ist Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Guten Morgen, Herr Klingholz!

    Reiner Klingholz: Guten Morgen!

    Remme: Herr Klingholz, es ist bei diesem Thema ja nicht ganz unwichtig, aus welcher Warte man spricht. Sie sind Jahrgang '53. Machen Sie sich Sorgen über das Alter, Ihr Alter?

    Klingholz: Na ja, um mich, um meine Altersgruppe ging es gestern in dem Film. Ich wäre 2030 in dieser Situation, wo ich eigentlich eine Apotheke überfallen müsste, um an die entsprechenden Medikamente zu kommen. Insofern glaube ich schon, dass der Film stark überzeichnet war, jedoch die Grundlagen dafür, dass wir nämlich in Zukunft deutlich mehr alte Menschen kriegen werden bei immer weniger jungen Menschen - und auf dieses Verhältnis kommt es ja an, weil damit die Finanzierbarkeit zusammenhängt -, die Grundlagen sind absolut korrekt. Wir werden im Jahr 2050 zwölf Prozent aller Deutschen über 80 Jahre alt haben. Das ist jeder Achte dann. Und wir wissen auch, dass dann die Pflegebedürftigkeit in diesem Alter doch stark nach oben geht. Wie wir das alles regeln und wie wir das bezahlen, das wissen wir heute nicht. Die Systeme sind darauf noch nicht angepasst.

    Remme: Die Zahlen zeigen es, und es wird auch fast in jeder Diskussion deutlich. Eigentlich wissen wir alles, was die Statistik uns lehrt über die zukünftige Entwicklung, und von diesen Zahlen wollte der Film ja nun ganz bewusst weg. Ist dies ein brauchbarer Weg, das Thema in die Massen zu tragen?

    Klingholz: Es ist, glaube ich, ein brauchbarer Weg, um die Leute mal aufzurütteln. Wir haben dort ja eine große Verdrängungsbereitschaft mit dem, was demografisch auf uns zukommt. Wir haben ja die letzten 30 Jahre praktisch nicht über diese Entwicklung diskutiert. Auch wenn dieser Film stark überzeichnet ist, ich glaube, die Autoren haben das gemacht, um zu zeigen, dass es so kommen kann, wenn wir nichts unternehmen. Das Ziel der Autoren des Filmes ist natürlich, dass es nicht so kommt. Insofern ist das ein sehr moralischer Film.

    Remme: Wir Deutschen neigen ja im internationalen Vergleich zu Angst und Pessimismus. Dieser Film trägt ja nun von der Tonart nicht dazu bei, diese Ängste zu nehmen, sondern eher zu verstärken. Kann das sinnvoll sein?

    Klingholz: Bei solchen Zukunftsvisionen im Film, Sie werden sich erinnern: vor 10, 15 Jahren gab es schon mal einen Film; der hieß,. glaube ich, "Der lange Marsch", so ein Migrantenfilm, wo sich große Mengen von Menschen aus Afrika Richtung Europa aufgemacht haben. Wir wissen heute, dass es so nicht gekommen ist, aber so ähnlich in Teilen, in Ansätzen passiert es ja, wenn wir sehen was diese Flüchtlingsmenschen da erleben und wie es auf den Booten da zugeht. Also so ganz an der Realität vorbei sind solche Filme nicht.

    Remme: Herr Klingholz, wir werden immer wieder daran erinnert, dass dieses Problem nicht irgendwann auftaucht, sondern schon da ist, denn wir sind ja schon da. Wir werden alt. Was haben Sie denn konkret unternommen, um sich auf den letzten Lebensabschnitt vorzubereiten?

    Klingholz: Ich verdränge natürlich wie alle anderen Menschen auch. Ich bin 53 Jahre alt, und ich fühle mich aber überhaupt nicht alt, obwohl man mit dem Alter vor 100 Jahren schon als alter Mensch galt. Das ist interessant. Ich habe das gestern mit meinen Kindern angeschaut. Und mein Sohn, zwölf Jahre, war dabei und der war stärker erschüttert als ich über diesen Film, weil er gesagt hat, so geht man doch nicht mit alten Leuten um. Das lässt mich auch ein bisschen hoffen. Ich glaube, wir sind doch im Grunde ein zivilisiertes Land und uns ist der soziale Zusammenhalt schon wichtig. Deswegen glaube ich, dass es so, wie es in dem Film beschrieben worden ist, nicht kommen wird.

    Remme: Das ging meinem Jungen genauso. Deshalb die Frage: Konzentriert sich die Diskussion vielleicht allzu sehr auf die Alten der Zukunft? Was geschieht denn mit den Jungen der Zukunft?

    Klingholz: Die haben vermutlich ihre eigenen Probleme dann. Gerade die Generation '90, wie sie heißen, die also in den 90er Jahren geborenen, die Ältesten sind 17 Jahre alt , auf die kommt es an. Die müssen im Grunde das ganze Land auf den Kopf stellen. Die haben keine Erwartungen mehr. Die können nicht mehr auf funktionierende Sozialsysteme, wie wir sie kennen, bauen. Die müssen sehr gut ausgebildet sein. Die müssen einen sehr guten Job kriegen, und die müssen auch noch möglichst früh möglichst viele Kinder kriegen. Für die muss diese viel zitierte Vereinbarkeit von Familie und Beruf Normalität geworden sein. Daran zeigt sich, wie schnell wir dort gesellschaftlich umbauen müssen, um dieser Generation die allerbesten Startchancen zu geben, weil: Die müssen es dann richten. Die haben den einen Vorteil: Das sind die Kinder der Baby-Boomer, und das sind relativ viele. Wenn man in die viel investiert, dann hat man einen doppelten positiven Effekt. Auf die kommt es an.

    Remme: Frankreich hat gestern stolz die höchste Geburtenrate seit 25 Jahren präsentiert. Warum ist es so schwer, von einem an sich doch vergleichbaren Industrieland zu lernen?

    Klingholz: Weil wir dieses Problem seit 35 Jahren etwa negiert haben. Wir haben ja seit Mitte der 70er Jahre die Kinderzahlen so niedrig, wie sie heute sind: 1,3, 1,4 Kinder je Paar. Jetzt ist schon eine Elterngeneration da, die ausgedünnt ist. Die jetzige Generation im Kinderkriegalter, im Elternalter ist ja der Kinder schon entwöhnt. Die wissen, dass es ohne Kinder auch geht, und zwar auch relativ gut geht. Die haben wenig Geschwister, wenig Cousinen, wenig Tanten, Onkel und so weiter. Die ganze Nation hat sich ein bisschen entwöhnt von der Normalität, Kinder zu haben. Dieses Ruder rumzureißen, das sieht man jetzt , ist ungeheuer schwer. Es ist ja jetzt nicht nur die Kinderzahl zurückgegangen in Deutschland, sondern mittlerweile auch der Kinderwunsch. Der ist bei Frauen noch bei 1,7 und bei Männern bei 1,4. Das zeigt: Wir sind auch von dem, was wir wollen, weiter unten, als die Franzosen es je waren.

    Die Franzosen haben nie sich um diese Diskussion mit niedrigen Kinderzahlen gedrückt. Die heute viel gelobte französische Familienpolitik stammt ja aus der Zeit zwischen den Kriegen im vergangenen Jahrhundert, als die Franzosen die Furcht hatten, dass sie von den Deutschen überwachsen würden. Da hat man sich im Grunde auf die sehr modernen Methoden der Familienpolitik, Gleichstellung von Frauen und Männern, eine gute Kinderbetreuung, auch qualitativ gute Kinderbetreuung, besonnen, und davon profitieren die heute. Daran sieht man, wie lange so etwas dauert. Das kriegt man nicht von heute auf morgen mit irgendwelchen Maßnahmen, Verordnungen oder Gesetzen umgedreht.

    Remme: Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Herr Klingholz, vielen Dank!