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Demokratie-Defizit in Ostdeutschland?

Hans-Joachim Wiese: In rund 140 Städten sind heute wieder so genannte "Montagsdemonstrationen" gegen das Reformprogramm der Bundesregierung geplant und zwar nicht nur in den neuen Bundesländern, wie zu Beginn, sondern zunehmend in ganz Deutschland. Im Vordergrund steht dabei der Protest gegen Hartz IV, also gegen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ab 2005. Aber immer öfter artikuliert sich auf den Demonstrationen, besonders in Ostdeutschland, ein diffuses Unbehagen mit den politischen Verhältnissen überhaupt, was es bestimmten Organisationen erleichtert, die Proteste für ihre Zwecke auszunutzen. Am Telefon begrüße ich jetzt Doktor Michael Edinger. Es ist Politikwissenschaftler an der Universität Jena. Guten Morgen.

Moderation: Hans-Joachim Wiese | 23.08.2004
    Michael Edinger: Schönen guten Morgen.

    Wiese: Herr Edinger, wie beurteilen Sie die Montagsdemos speziell in Ostdeutschland? Wie weit geht die Unzufriedenheit über den aktuellen Anlass Hartz IV hinaus und umfasst auch die politischen Verhältnisse allgemein?

    Edinger: Man muss zunächst sagen, dass es einen ganz klaren aktuellen Anlass für die Proteste gibt, die zunächst mal in keinem direkten Zusammenhang mit einer generellen Demokratie-Unzufriedenheit steht, aber was sicherlich für Ostdeutschland mehr gilt als für Westdeutschland ist, dass sich in diesen Protesten natürlich auch die, ich sage mal, akkumulierte Erfahrung aus mittlerweile fast anderthalb Jahrzehnten deutscher Einheit ausdrückt und da doch eine Menge an Enttäuschung entstanden ist in Ostdeutschland, zumindest in bestimmten Bevölkerungsgruppen in Ostdeutschland. Und insofern über diesen ganz konkreten Anlass hinaus, wir es sozusagen auch mit einer erodierenden Unterstützung für Politik und für politische Entscheidungsträger zu tun haben.

    Wiese: Nun haben die Ostdeutschen mit den ursprünglichen Montagsdemos ja erst die Demokratie in den neuen Bundesländern erkämpft. Haben sie denn, wenn Sie von akkumulierter Enttäuschung sprechen, unter Demokratie etwas anderes verstanden als das, was sie jetzt bekommen haben?

    Edinger: Das ist eine sehr interessante Frage. Wir haben versucht, in den vergangenen Jahren anhand von Repräsentativbefragungen Antworten darauf zu finden und sind auf so etwas wie ein, ich würde mal sagen, widersprüchliches Demokratieverständnis gestoßen. Wenn man das knapp zusammenfassen will kann man sagen, dass wir in Ostdeutschland so etwas wie ein sehr stark Outputorientiertes Demokratieverständnis haben, zugleich aber - und das klingt auf den ersten Blick widersprüchlich - auch eine sehr stark plebiszitäre Ausrichtung. Auf der einen Seite also ist man interessiert an den Ergebnissen, die Demokratie liefert, an den Leistungen, die Demokratie erbringt, auf der anderen Seite möchte man aber auch sozusagen über Wege direkter Demokratie an Entscheidungen teil haben. Was wir zudem noch festgestellt haben, das ist vielleicht auch interessant, ist dass wenn es um den Rechtsstaat geht, doch ein relativ eng gestecktes Demokratieverständnis existiert, während umgekehrt, wenn es um sozialstaatliche Absicherung geht, also die soziale Dimension von Demokratie, ein sehr ausgreifendes Demokratieverständnis da ist. Das hat sicherlich auch mit rechtsspezifischen Erfahrungen zu tun, die man gesammelt hat im Umbruch und nach dem Umbruch und sicherlich auch Berührungspunkte zu dem, was man zu DDR-Zeiten erlebt hat. Also insofern eine sehr ambivalente Haltung oder ein sehr ambivalentes Verständnis von Demokratie das eben in seiner Ambivalenz auch relativ viel Raum bietet für Enttäuschung, also relativ enttäuschungsanfällig ist.

    Wiese: Wenn Sie aus diesem Befund nun Ihre Schlussfolgerung ziehen, Herr Edinger, kann man dann sagen, dass das demokratische Bewusstsein der Ostdeutschen noch nicht so sehr verwurzelt ist, noch nicht so gefestigt ist, so dass die Gefahr besteht zumindest, dass sie schon bei geringen Anlässen an der Demokratie zweifeln?

    Edinger: Ich glaube, dass man Ihre erste Äußerung, nämlich dass die Demokratie in Ostdeutschland schwächer verwurzelt ist, dass man das voll unterstützen kann aufgrund der Daten, die wir haben. Man muss aber glaube ich differenzieren. Die Demokratie als Staatsform, also demokratische Werte, die finden sehr breite Akzeptanz, in Ost- wie in Westdeutschland, ebenso bestimmte Wesensmerkmale der Demokratie, wie Opposition, wie Meinungsfreiheit. Wenn es aber um die Bewertung der demokratischen Praxis geht, wenn um die Einschätzung von Parteien, Politkern und zwar vor allem im Allgemeinen geht, dann ist sie sehr viel schwächer verankert, als wir es aus Westdeutschland kennen und das hat sicherlich mit den schon erwähnten Erfahrungen der letzten 15 Jahre auch zu tun. Ob das ein Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates möglicherweise in sich bergen könne, das ist relativ schwer zu beantworten. Was uns ein klein wenig überrascht hatte an unserer Untersuchung ist, dass die relativ schwache Demokratie- oder Systemunterstützung insgesamt sich nur schwach beispielsweise in einem anderen Partizipationsverhalten niederschlägt. Also wir haben relativ geringe Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Einstellungen zu Demokratie und dem, was man dann tatsächlich politisch macht und der direkte Einfluss auf den Rechtsextremismus ist auch eher gering. Da sind es eher andere Faktoren, die den Ausschlag geben für die Entwicklung von rechtsextremen Orientierungen.

    Wiese: Können Sie das gerade noch mal ein wenig ausführen? Meine nächste Frage sollte dahin gehen, was denn Ihr Befund für das künftige Wahlverhalten der Ostdeutschen bedeutet. Wie groß ist die Gefahr, dass sie aus Enttäuschung undemokratische, rechtsradikale oder auch linksradikale Parteien wählen?

    Edinger: Also die Gefahr würde ich sagen, ist durchaus gegeben. Wir kennen das auch aus früheren Wahlgängen, beispielweise besonders markant in Sachsen-Anhalt 1998, als die DVU einen Überraschungserfolg mit einem sehr, sehr geringen Wahlaufwand erzielen konnte. Diese Gefahr ist sicherlich gegeben und zwar vor allem dann, wenn wir ein sehr hohes Protestwählerpotenzial haben und das kann relativ schnell auch Parteien zugute kommen, die der Verfassung skeptisch gegenüber stehen. Das muss es nicht, aber die Möglichkeit besteht und sie wird dadurch begünstigt, dass wir im Wahlverhalten in Ostdeutschland relativ schwache Parteibindung haben. Das ist sicherlich ein Unterschied zum Westen, wo sich über Jahre, teilweise Jahrzehnte hinweg Parteinähe, Parteiidentifikation entwickelt hat. Aber unsere Einschätzung ist eigentlich eher die, dass sich hier die Entwicklung gewissermaßen gen Osten entwickelt, also im Osten Deutschlands so etwas wie die Zukunft des Wahlverhaltens sein wird, sprich, dass wir auch im Westen perspektivisch schwächere Parteibindung haben werden, mehr Wechselwähler, auch mehr, die sozusagen generell aus Protest dazu bereit sind, dann auch mal für Parteien des extremistischen Spektrums zu stimmen.

    Wiese: Dieses extremistische Spektrum bezieht sich dann vorwiegend, jedenfalls sagen das ja die Untersuchungen etwa für die Wahlen in Sachsen, auf die rechtsextremen Parteien.

    Edinger: Ja, wobei die rechtsextremen Parteien, das muss man gerechterweise sagen, bisher elektoral in Ostdeutschland nicht so wahnsinnig erfolgreich gewesen sind. Wir haben den Erfolg der DVU in Sachsen-Anhalt. Die DVU hat bei den letzten Wahlen in Brandenburg relativ knapp den Einzug in den Landtag geschafft und im Moment sind die Prognosen sozusagen unklar, was den Erfolg der NPD in Sachsen anbelangt und auch bei der DVU in Brandenburg. Das werden wir abwarten müssen. Aber man muss auch sagen, dass es den Rechtsextremen dann doch kaum gelingt, die Wähler, die sie dann einmal gewonnen haben, auch zu halten. Das hat etwas damit zu tun, dass die Berührungspunkte, die es mit diesen Parteien gibt, dass die häufig nur punktueller Natur sind und die Leute relativ schnell auch merken, dass die Erwartungen oder die Ziele, die sie mit der Wahl einer solchen Partei verbunden haben, eben nicht erfüllt werden und dann bereit sind, wieder zu den demokratischen Parteien zurückzukehren, beziehungsweise ihren Protest über die Nicht-Teilnahme an den Wahlen zum Ausdruck zu bringen.

    Wiese: Summa summarum Herr Edinger, was muss geschehen, damit dieser demokratische Erosionsprozess in Ostdeutschland aufgehalten wird, damit die Menschen Vertrauen in die Demokratie fassen? Muss es ihnen einfach nur besser gehen?

    Edinger: Das sind zwei Aspekte, die hier eine Rolle spielen. Sicherlich spielt die materielle Lage eine Rolle, sicherlich macht es einen Unterschied, ob man Arbeitslosenquoten um knapp zehn Prozent oder von mindestens zwanzig Prozent - das ist ja der offizielle Wert - hat, das ist sicherlich ein Unterschied. Auf der anderen Seite ist es nach unseren Einschätzungen so, dass allein ein Wirtschaftsaufschwung nicht dazu führen wird, dass wir generell andere Orientierungen vorfinden werden. Sondern hier geht es auch generell darum, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Wie das am besten geschieht, ist relativ schwierig zu beantworten. Aber ich glaube, dass sicherlich Parteien und Politiker sich sehr viel stärker darum werden bemühen müssen, auf die Sorgen und Befürchtungen der Leute gerade in Ostdeutschland einzugehen und deutlich zu machen, wo auch die Stärken von Demokratie liegen, wo sozusagen es Leistungen von Demokratie gibt, die möglicherweise in der Öffentlichkeit gar nicht so wahrgenommen werden.