Dienstag, 16. April 2024

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Demonstration #unteilbar
Europas Errungenschaften stehen auf der Kippe

Wir brauchen eine Perspektive für die Zukunft von Europa, meint die Schriftstellerin Nora Bossong, die sich mit vielen anderen unter dem #unteilbar "Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung!" engagiert. Dafür wollen am 13. Oktober in Berlin Tausende demonstrieren.

Nora Bossong im Gespräch mit Anja Reinhardt | 07.10.2018
    Die deutsche Schriftstellerin Nora Bossong
    Die deutsche Schriftstellerin Nora Bossong engagiert sich unter dem #unteilbar für Europa (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Viel wird über die Spaltungen in der Gesellschaft gesprochen, über die horizontalen zwischen Arm und Reich, aber auch über die vertikalen, über die Spaltungen der Weltanschauungen. Ein Thema, das zurzeit besonders große Sprengkraft hat, ist die Frage: Was und wie sollte Europa sein? Von rechts wird die Idee eines vereinten Europa immer wieder angegriffen, besonders vehement von England und Italien aus, auch in Ungarn und Polen zeigt man sich eher abweisend. "Das, was wir momentan erleben von rechter Seite, von rechtsradikaler Seite sogar, ist das Ausspielen von unterschiedlichen Bedürfnislagen, von unterschiedlichen Gruppen der Bedürftigkeit, die in diesem alten Spiel: Die einen nehmen den anderen was weg, gegeneinander ausgespielt werden", so Bossong. Das habe mit konstruktiver Politik wenig zu tun, sondern mit einer Politik der Teilung.
    Eine gemeinsame Erzählung finden
    Demonstrationen alleine könnten da natürlich nicht helfen, aber es sei ein nach außen Tragen von Überzeugungen, man sitze nicht einfach nur vor dem Computer und mache sein Häkchen zu einem Facebook-Kommentar. Überhaupt müsse die Linke und die Mitte wieder in einen Dialog kommen, momentan "vereinzelt man sich, dadurch, dass dem einen Kleinigkeiten bei dem anderen nicht gefallen. Das ist der alte Problem der Linken, die sich dann untereinander zersplittern."
    Es sei auch gar nicht so einfach, wenn es um Europa gehe, eine gemeinsame Erzählung zu finden, der von Norden bis Süden und Westen bis Osten alle zustimmen könnten. Am ehesten könne das noch in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres Kontinentes glücken. "Das Erbe sehe ich nicht so sehr als die familiäre Schuld, sondern wir wachsen in einer Gesellschaft, in einer Zeit auf, die natürlich auf etwas basiert. Und diese Schrecken des 20. Jahrhunderts fußen natürlich zu großen Teilen genau in Europa. Das heißt, die positive Idee Europas kann aus einem Moment eines wirklich kritischen Blicks auf die Geschichte entstehen und kann dann wieder mit einem großen Selbstbewusstsein auf Errungenschaften der Aufklärung, auf Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, auf etwas wie Gewaltenteilung und Trennung von klerikalen und politischen Prozessen, auf all das wieder stolz sein."
    Nicht nur Akademiker brauchen ein Bild von Europa
    Das demokratische Europa müsse sich viel stärker damit beschäftigen, wie eine politische Vision für die Zukunft aussehen könnte, meint Nora Bossong, "wenn wir keine Idee für ein zukünftiges Europa haben, dann werden all jede stärker sein, die eine Veränderungsidee für eine Zukunft haben und wenn diese Idee ist: ‘Wir zerschlagen alles‘, dann hat das erst mal mehr Sprengstoff, als ein bloßes Achselzucken und eine Ideenlosigkeit, die man eben auch oft beobachten kann." Europäische Politik dürfe sich eben nicht nur um schiefe Gurken drehen, da führe sich die Bürokratie ad absurdum.
    Zu einer Vision für die Zukunft gehöre auch, dass nicht nur Akademiker ein Bild von Europa haben dürfen, man müsse Angebote nicht nur an Studenten machen, sondern an die ganze junge Generation, damit so etwas wie eine europäische Identität auch emotional und nicht nur auf politischer Ebene Fuß fassen könne. Auch der mediale Blick in unsere Nachbarländer sei wichtig. Schlussendlich müssten wir uns alle viel mehr dem zivilgesellschaftlichen Engagement widmen, denn das, was wir als unsere Grundrechte verstehen, Demokratie, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, all das stehe auf der Kippe.