Donnerstag, 28. März 2024

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Demonstrationen in Russland
"Protest ist einfach nur ein Ausdruck von Frustration"

Über die vielen jungen Menschen, die am Wochenende in Russland gegen Korruption demonstriert hätten, sei nur sehr wenig bekannt, sagte der Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Moskau, Julius von Freytag-Loringhoven, im DLF. Es sei deshalb auch gefährlich, solche Proteste zu idealisieren. Denn es sei nicht klar, dass daraus etwas Konstruktives werde.

Julius von Freytag-Loringhoven im Gespräch mit Marina Schweizer | 27.03.2017
    Demonstranten gehen in Russland gegen Korruption auf die Straße.
    Die Demonstranten wenden sich gegen Korruption, die sie in ihrem Staat ausmachen. (Deutschlandradio / Julia Larina )
    Marina Schweizer: Was regt sich da, etwa ein russischer Frühling in diesem März? Zur Analyse dieses Phänomens haben wir Julius von Freytag-Loringhoven angerufen. Er ist der Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Moskau und er war gestern in der Stadt unterwegs. Was hat diese angeblich so junge Masse nach Ihren Beobachtungen gerade jetzt auf die Straße getrieben?
    "Die neue Generation ist nicht vollkommen passiv geworden"
    Julius von Freytag-Loringhoven: Ich glaube, es waren auf jeden Fall alle überrascht. Ich war selbst auch überrascht, als ich auf der Straße war, wie viele Schüler und Studenten die Straßen bevölkert haben. Und warum gerade diese Generation, haben sich auch ganz viele in Russland gefragt. Das ging heute den ganzen Tag durch die sozialen Medien. Und zwar, weil ein großer Teil, fast 50 Prozent der Demonstranten waren, als die letzten großen Demonstrationen waren, 2011 und 2012, noch zehn, zwölf Jahre alt und waren weit von irgendwelchen Demonstrationen entfernt. Die tauchten jetzt plötzlich auf und haben einen großen Teil der Demonstranten ausgemacht.
    Da gibt es zwei Erklärungen im Grunde für, die man allgemein gibt. Das eine ist, es stimmt eben nicht so ganz die Analyse vieler Soziologen, dass die neue Generation vollkommen passiv geworden sei, in einer Apathie der politischen Realität. Dazu kam konkret, vor einer Woche ging ein Video durch die sozialen Medien und ist auf YouTube tausendfach abgerufen worden über Schüler in Briansk, in einer kleinen Provinzstadt im Süden, die in einem Gespräch mit den Lehrern ihrer Schule sich dafür eingesetzt haben, dass dieser Aufruf von Nawalny gegen Korruption ja gar nichts Falsches sei, und die Lehrer haben versucht, denen zu erklären, dass sie dumm und jung sind und dass sie nicht verstehen, dass der ja überhaupt kein echtes Angebot für sie hat, und die haben relativ schlagfertig mit denen diskutiert. Dieses Video wurde dann viral, ging herum, und da sah man plötzlich, dass solche Fünftklässler eine relativ starke politische Meinung haben können. Das hat sicher auch dazu beigetragen, dass sich dann über die russischen Sozialmedien immer mehr junge Leute auch gesammelt haben, die trotz Angst vor möglicher Repression auf die Straße gegangen sind.
    Schweizer: Ist dies das, was die Menschen, diese jungen Menschen dort eint, die Vernetzung über die sozialen Medien? Oder steckt da noch mehr Inhaltliches dahinter?
    "Wir wissen über diese Schüler und Studenten sehr wenig"
    von Freytag-Loringhoven: Über die große inhaltliche Vernetzung wissen wir nicht so viel bisher, weil das ist das Problem an autoritären Staaten. In dem Moment, in dem man die Opposition marginalisiert und die Bevölkerung versteht, dass Oppositionsparteien und politische Organisationen ihnen keine Heimat bieten können, weil sie nur zu einer Form von Repression und Schwierigkeiten für sie persönlich führen, ist es natürlich so, dass man auch sehr viel weniger weiß, was denn die Leute wirklich denken, wenn sie unzufrieden sind. Deswegen wissen wir auch über diese Schüler und Studenten sehr wenig. Wir wissen nur, dass sie unzufrieden sind mit der Korruption. Wir wissen, dass sie kaum fernsehen, was sehr interessant ist. Der Entertainment-Apparat des russischen Staatsfernsehens, der zum einen leicht unterhält und zum anderen klare politische Propaganda sendet, erreicht die nicht mehr und die fangen stärker an, sich über Blogs und Sozialnetzwerke auszutauschen und auch anzuzweifeln, was ihnen im Fernsehen präsentiert wird. - Was das Hauptthema war – und das wissen wir ja aus den anderen Medien -, war einfach dieses Korruptionsthema.
    Schweizer: Das klingt ja fast ein bisschen so, als fänden Sie, der Begriff "Opposition" ist da schon ein Stück weit zu hoch gegriffen.
    von Freytag-Loringhoven: Ja. Wenn man sich gerade diese junge Bevölkerung anschaut, die sind natürlich in Opposition zu der herrschenden Elite. Aber um gleich zu sagen, dass es eine stringente Bewegung ist, das ist nicht möglich, weil sie nicht formal organisiert sind in irgendeiner Form.
    Schweizer: Dann lassen Sie uns über die Vernetzung dieser Menschen sprechen. Sie haben die sozialen Medien ja schon angesprochen. Wir kennen es ja auch aus anderen Ländern. Solche soziale Medien können ja auch leicht von der Staatsmacht abgeschaltet werden, und schon stehen die politisch nicht organisierten Digital Natives im Dunkeln. Eine Gefahr, die Sie da ganz besonders sehen?
    "Es wurde versucht, die Sozialnetzwerke unter Kontrolle zu bringen"
    von Freytag-Loringhoven: Ja. Ich meine, das Thema ist hoch aktuell. Schon vor einem Jahr, erinnere ich mich, war Gerhart Baum, der alte Bürgerrechtler, hier in Moskau, und wir hatten eine Diskussion mit russischen Spezialisten für Überwachung im digitalen Zeitalter und hatten eine Diskussion zu Bürgerrechten im digitalen Zeitalter. Da haben wir auch gemerkt, wie voll der Raum war. Und es war hoch interessant, weil die Diskussion genau darum ging, inwieweit in Russland schon nach chinesischem Modell versucht wird, eine große Mauer aufzubauen, um wenn möglich alle Regungen oppositioneller Art im Internet zu unterdrücken. Es wurde einiges auch schon seit 2011 und '12 eingeführt. Es wurde zum Beispiel mit viel Aufwand und mit Einsatz auch von vielen Leuten versucht, die Sozialnetzwerke stärker unter Kontrolle zu bringen. Es ist bekannt, dass sehr viel Propaganda auch durch Spots in den Sozialnetzwerken verbreitet wird und dass es kaum einen Ort gibt, in dem sich größere Gruppen bilden in dem russischen Facebook VKontakte, in dem nicht eine starke Infiltrierung ist durch staatsnahe Kräfte. Das Zweite ist: Man hat versucht, Blogs abzuschalten. Auch der besagte Alexei Nawalny mit seinem Blog wurde formal in Russland geblockt. Aber weil das Internet sich nicht so leicht abschalten lässt, kann man auf den zugreifen, weil der inzwischen auf einem Server in Amerika und in anderen Ländern liegt und dadurch sich nicht komplett abschalten lässt. Ganz abschalten könnte man es nur, wenn man tatsächlich wie in China versucht, eine isolierende Mauer zu bauen im Internet, die verhindert, dass man auf Daten aus dem Ausland zugreifen kann, und da wissen wir zum Glück, dass es da zwar Bestrebungen gibt von manchen, aber dass die technischen Möglichkeiten hier in Russland noch nicht so weit sind.
    Schweizer: Wenn Sie das jetzt alles zusammendenken, die Gesetze, die es ja bereits schon gibt, Gebaren der Regierung, aber auch die Motivation der Demonstranten, sehen Sie da ganz persönlich das Pflänzchen einer Bewegung wachsen? Glauben Sie, um das vielleicht noch zu steigern, an einen russischen Frühling, von dem jetzt ja so oft schon gesprochen wird?
    "Protest führt nicht automatisch zu etwas Konstruktivem"
    von Freytag-Loringhoven: Ich finde es im Grunde immer gefährlich, wenn man zu schnell den Protest idealisiert. Protest ist einfach nur ein Ausdruck von Frustration. Das heißt aber noch nicht, dass der zu etwas Konstruktivem auch führt automatisch. Das heißt, wir haben uns sehr geirrt, was viele Teile des arabischen Frühlings betroffen hat, was in den Ergebnissen rausgekommen ist. Wir müssen doch als liberale Demokraten daran interessiert sein, dass Menschen in einem Rechtsstaat leben können, dass Menschenrechte geschützt werden, dass die Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen können, in Freiheit leben können und in einer gewissen Sicherheit leben können. Das tritt nicht automatisch dadurch ein, dass Menschen auf der Straße demonstrieren. Wir haben gerade vor 100 Jahren ja in Russland die große Revolution gehabt. Da hätten wir uns auch lieber gewünscht, dass am Ende sich die liberalen Reformatoren der ersten Staatsduma durchgesetzt hätten und eben nicht die Bolschewiken und nicht die rechten reaktionären Kräfte, die von beiden Seiten diese Reforma kaputt gemacht haben.
    Was ich hoffe ist, dass aus dieser Bewegung einfach dem russischen Staat klar wird, dass es so nicht weitergeht, dass der Kreml in einen Dialog mit der Bevölkerung treten muss, dass es notwendig ist, grundlegende Reformen anzustreben zum Schutz von Menschenrechten und gegen Korruption, für unabhängige Institutionen, das heißt durch eine Kontrolle, durch Gewaltenteilung. Das heißt, wir brauchen unabhängige Gerichte in Russland. Es braucht politischen Wettbewerb und eine starke Zivilgesellschaft. Die muss in ihrer Rolle und als Kontrollfunktion anerkannt werden. Und wenn der Staat diese Reformen nicht durchführt, ich glaube, dann kann so ein Kessel explodieren. Dann kann aus so einem russischen Frühling sehr schnell eine nächste gewaltsame Revolution werden, und das ist natürlich im Interesse von keinem, der hofft, dass Menschen- und Bürgerrechte geschützt werden.
    Schweizer: Julius von Freytag-Loringhoven, Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Moskau. Das Interview haben wir vor der Sendung geführt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.