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Den Gefolterten ihre Würde zurückgeben

Der Familientherapeut Salah Ahmad hat im kurdischen Norden des Irak Häuser gegründet, in denen Opfer von Saddam Hussein kostenlos Hilfe finden können. Doch auch irakische Regierungen nach Saddam werden der systematischen Gewalt gegen Gefangene beschuldigt. Und in Syrien sind selbst Misshandlungen von Kindern an der Tagesordnung.

Von Ulrich Leidholdt | 23.06.2012
    Die sechsjährige Nadscha hatte noch Glück: Sie konnte mit ihrer Familie aus Syrien fliehen in eines der türkischen Auffanglager.

    "Baschar ist gemein, wir haben Angst vor ihm. Wenn wir heimgehen, werden seine Soldaten uns töten."

    Gemeint ist der syrische Machthaber Baschar al-Assad. Trotz ihrer zarten sechs Jahre weiß Nadscha genau, welche Gräueltaten in ihrer Heimat täglich geschehen. Und auch, wenn sie als Sechsjährige in einem Flüchtlingslager lebt, hat sie dennoch Glück gehabt, denn wie ein Bericht der Vereinten Nationen vor wenigen Tagen bestätigte, werden in Syrien sogar Kindern gefoltert und ermordet, sie werden sexuell misshandelt und als lebende Schutzschilde für die Panzer der Regierungstruppen missbraucht. Wegen dieser Gewalt gegen Kinder steht Syrien nun auf die Liste der Schande.

    Wie will man diesen traumatisierten Kindern jemals wieder ein erträgliches Leben ermöglichen? Tage ohne Tränen, Nächte ohne Alpträume! Am kommenden Dienstag ist der Internationale Tag der UNO zur Unterstützung von Folteropfern. Anlass, auf eine Region zu schauen, von der man dachte, das sder Alltag mit Folter und willkürlichen Morden der Vergangenheit angehören müsste.

    Salah Ahmad hat lange Erfahrung mit Gefolterten. Seit 1992 leitet der kurdische Familientherapeut das "Zentrum Überleben" in Berlin, ein Behandlungszentrum für Folteropfer aus aller Welt. In seiner Heimat, dem kurdischen Norden Iraks, gründete er deshalb Häuser, in denen Opfer von Saddam Hussein kostenlos Hilfe finden können.

    Amnesty International berichtete über psychologische und körperliche Misshandlungen unter dessen Regime - Folter galt damals als gängige Praxis der Sicherheitsdienste.

    Salah Ahmad: "Bei den Verhören werden Geständnisse erzwungen, sie werden brutal geschlagen, dann werden sie aufgehängt, manchmal die Hoden zerquetscht. Oft geben sie auch falsche Geständnisse ab, weil die Schmerzen nicht zu ertragen waren."

    Schwerpunkt von Salah Ahmads Arbeit und seinem Team aus Ärzten, Psychotherapeuten und Sozialarbeitern ist die Behandlung von Frauen und Kindern. Ihnen nehme Folter neben Schmerzen und Scham vor allem die Würde.

    "Es ist entwürdigend, sich nackt ausziehen zu müssen. Oder Gegenstände in den After, Chemikalien: da wird der Darm so zersetzt, der Mensch leidet seit 17,18 Jahren. Ich habe Folteropfer, die sehr jung waren: sie kriegen keine Kinder mehr. Wenn eine Frau vergewaltigt ist, das ist eine psychische Belastung für immer. Sie machen sie dadurch kaputt."

    Auch nach Saddam bleibt Folter auf der Tagesordnung. Amnesty hat das irakischen Regierungen wiederholt vorgeworfen. Viele der 30.000 Gefangenen sollten so zu Aussagen gezwungen werden. Auch die im Irak noch immer alltäglichen Entführungen hinterlassen lebenslange Spuren.

    "Ich habe einen Jugendlichen in Behandlung, der ist 22 Jahre alt. Er hat mit ansehen müssen, wie 22 Menschen in einer Wohnung enthauptet wurden. Danach musste er immer das Bad säubern. Dieser Mensch ist so zerstört - ich habe noch nicht gelernt, mit Gekidnappten umzugehen, die Zeugen solcher Gewalt waren. Das ist eine Zerstörung im wahrsten Sinne.""

    Von Heilung wagt Salah Ahmad deshalb bei Gefolterten nicht zu sprechen.

    "Wir wollen Patienten befähigen, mit dem was sie erlitten haben, wieder ein normales Leben zu leben."

    Ein besonders schreckliches Kapitel ist Halabja. Die hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt im Nordirak wurde im März 1988 am Ende des Kriegs zwischen Irak und Iran mit Giftgas angegriffen. Wohl 5000 Menschen starben daran qualvoll. Bis zu 10000 trugen schwere Schäden für ihr ganzes Leben davon.

    "Diese Gegend war immer wieder Ziel des Regimes von Saddam Hussein. Sie sollte vernichtet werden, weil die Kurden immer Widerstand geleistet haben. Halabja hat eine eigene Geschichte auch bei der Behandlung. Wir haben Hautätzungen: es juckt, es tut weh, es schmerzt. Wir haben Leute mit Atembeschwerden. Sie haben so viel Panik, dass sie bald sterben. Wir haben sehr viele depressive Leute und als Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin haben wir diese Einrichtung hier geschaffen."

    Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Physiotherapeuten betreuen ihre körperlichen, seelischen und psychosomatischen Langzeitschäden. Das erfordert Zeit, viel Zeit und Geduld auf beiden Seiten.

    "Wir brauchen manchmal über fünf Sitzungen. Da sie wieder traurig werden, da sie wieder weinen. Wir müssen verhindern, dass die Menschen nicht mit zu vielen Erinnerungen wieder nach Hause gehen. Deshalb sind wir sehr behutsam, lassen wir sie ein bisschen erzählen, machen Pause, lassen sie weiter erzählen. Versuchen die Patienten in die Normalität zurückkommen zu lassen und nächste Woche wieder. Wir geben Patienten sehr viel Zeit, damit sie nicht retraumatisiert werden durch die Wiederholung der Geschichte.""

    Nicht nur das Folteropfer selbst, sondern auch seine Frau und seine Kinder leiden unter den Folgen der Misshandlungen - oft ihr Leben lang.

    "Ein gefolterter oder ein schwer traumatisierter Mensch bedeutet eine Last und Überwindung für die ganze Familie. Weil diese Person nicht wie ein normaler Mensch ist in seinem Verhalten, in seinem Verstand, in seinen Gefühlen. Und das erschwert sehr oft das Leben der Kinder. Sehr oft gibt es viel Gewalt in der Familie, so dass die Frau und die Kinder oft geschlagen werden, und dadurch sind viele Familien zerstört worden, und der Hintergrund war Folter."

    Um das zu verhindern, werden Angehörige in die Arbeit im Behandlungszentrum mit einbezogen.

    "In jeder dritten Sitzung ist die Ehefrau dabei. Sie soll lernen, wie sie mit ihrem Mann danach umgeht. Manchmal sind auch die Kinder dabei - das hat zu Frieden in der Familie geführt."

    Häusliche Gewalt, Zerstörung von Familien und künftige Konflikte sollen so vermieden werden. Wenn Salah Ahmads Therapien erfolgreich verlaufen, erhalten auf diese Weise hunderte Opfer des Saddam-Regimes ihre verlorene Würde zurück.

    "Ich benutze das Wort nicht gern - indem wir an sie glauben, ihren Schmerz verstehen, können sie sich wieder als Mensch sehen. Die meisten Opfer fühlen sich minderwertig, schlecht, schmutzig, schuldig. Daran wird gearbeitet - und so fühlen sie sich wieder in Würde."