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Den Urteilen aus Karlsruhe liegt eine "extrem verengte Sichtweise zugrunde"

In Karlsruhe herrsche kein antieuropäischer, wohl aber ein "uneuropäischer" Geist, sagt Karl Lamers. Die gegenwärtige Krise erfordere es, "Zuständigkeiten der nationalen Politik" wie das Budgetrecht einzuschränken, weil es sonst "keine reale Gestaltungsmöglichkeit" mehr gebe, so der CDU-Politiker.

Karl Lamers im Gespräch mit Peter Kapern | 11.09.2012
    Peter Kapern: Mobile Tribünen werden sie nicht gleich aufbauen, die Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts – und das, obwohl der Journalistenandrang morgen so groß sein wird wie noch nie zuvor -, es sei denn, die Entscheidung wird noch vertagt. So oder so: in Karlsruhe steht allerhand auf dem Spiel, wenn die Richter in den roten Roben über den Eilantrag gegen den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM und gegen den Fiskalpakt entscheiden. Darf der Bundespräsident die Gesetze unterzeichnen und damit in Kraft setzen? Darum geht es formal betrachtet. In Tat und Wahrheit geht es aber um die Zukunft des Euro schlechthin und, wenn Angela Merkel denn Recht hat, damit zugleich um die Zukunft der EU. Es ist ja nicht das erste Mal, dass in Karlsruhe die Causa Europa verhandelt wird.
    So weit der Bericht von Maximilian Steinbeiß, und der ist übrigens auch der Autor unserer Sendung "Hintergrund" um 18:40 Uhr. "Der Weg nach Europa führt über Karlsruhe", so der Titel der Sendung heute Abend, die ich Ihnen ans Herz lege, und natürlich auch Karl Lamers, dem europapolitischen Vordenker der CDU. Guten Morgen, Herr Lamers.

    Karl Lamers: Guten Morgen, Herr Kapern.

    Kapern: Herr Lamers, Sie haben kürzlich dem Verfassungsgericht einen "nationalen Unterton" attestiert – immer dann, wenn es sich mit der EU befasst. Was meinen Sie damit genau?

    Lamers: Ja ich finde, das ist in dem eben wiedergegebenen Bericht von Herrn Steinbeiß vorzüglich zum Ausdruck gekommen. Das ist national zentriert und man kann sich gar nicht vorstellen, dass es über den Nationalstaat hinaus etwas gibt, was eine eigenständige Existenzberechtigung nicht nur hat, sondern was Folge einer geschichtlichen Notwendigkeit ist. Das ist beispielsweise etwas, was überhaupt nicht bei den Überlegungen des Verfassungsgerichts vorkommt, dass wir Europa ja nicht tun oder auch lassen können, sondern dass wir es tun müssen. Es ist wirklich so, wie Hegel gesagt hat: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit ist die in Europa extrem dichte transnationale Wirklichkeit, welche ja das Grundprinzip der nationalstaatlichen Organisationsform von Politik aufhebt, nämlich die Grenzen. Diese Souveränität, von der dauernd die Rede ist – übrigens im Grundgesetz kommt das kein einziges Mal vor, im Lissabon-Urteil, glaube ich, 49 Mal -, diese Souveränität ist nur noch immer mehr formal und nicht real, und Europa dient ja dem Zweck, reale Gestaltungsmacht wiederzugewinnen. Solche Überlegungen, die überhaupt erst den europäischen Einigungsprozess als historische Notwendigkeit erklären, die werden überhaupt nicht eingestellt.

    In dem Lissabon-Urteil ist auch die Rede von Identität. Ja, Identität ist etwas, was sich ständig wandelt. Die alten Griechen hatten das schon begriffen mit der berühmten Geschichte vom Schiff des Themistokles, nicht wahr. - Den Urteilen aus Karlsruhe liegt allein die nationalstaatliche und damit verengte, extrem verengte Sichtweise zugrunde.

    Kapern: Aber diesen Urteilen, den Europa-Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, liegt ja möglicherweise noch etwas anderes zugrunde, nämlich das Grundgesetz. Muss Karlsruhe nicht diese Grundlegung der deutschen Demokratie notfalls auch verteidigen gegen europäische Verträge?

    Lamers: Ja selbstverständlich. Aber nun möchte ich mal auf folgendes hinweisen: Ich beziehe mich jetzt mal nur auf die Euro-Gruppe. Von den 17 Mitgliedern der Euro-Gruppe haben, ich glaube, jetzt im Augenblick 15 bereits ratifiziert. Solche Überlegungen, wie sie in Karlsruhe angestellt werden, sind nirgendwo angestellt worden. Dabei sind ja Länder, die schon länger Demokratie praktizieren als wir, und es geht im Kern ja hier um das Budgetrecht, und das ist in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union natürlich ein Kernbestandteil, man kann sogar sagen der Kernbestandteil der politischen Organisationsform des Nationalstaates. Aber wenn es die Notwendigkeit gibt, dieses Recht gemeinsam auszuüben und damit in der Tat die Zuständigkeiten der nationalen Parlamente und der nationalen Politik überhaupt einzuschränken, weil man sonst überhaupt keine reale Gestaltungsmöglichkeit mehr hat, dann gilt wirklich das Wort, Not kennt kein Gebot und alle anderen fügen sich da rein und sagen, das ist in Ordnung, das muss so sein. Es gibt andere Einwände anderswo, das ist mir völlig bewusst, aber das ist doch wirklich auffällig, dass nur Deutschland in Gestalt des Bundesverfassungsgericht solche Einwände erhebt, kein einziges anderes Land, auch solche – ich wiederhole mich -, die länger Demokratie praktizieren als wir.

    Kapern: Das heißt, Ihre These lautet, in Karlsruhe hat sich ein antieuropäischer Geist breit gemacht. Woher stammt der?

    Lamers: Also natürlich wieder, ich würde nicht sagen, antieuropäisch, aber national zentriert und uneuropäisch vielleicht am besten gesagt.

    Kapern: Woher kommt das denn?

    Lamers: Der stammt natürlich wie alles einmal aus den Ängsten, Besorgnissen, verständlichen, und auch Unverständnissen in der deutschen Öffentlichkeit, bei den deutschen Bürgern.

    Kapern: Das heißt, die Richter in Karlsruhe stehen unter dem Eindruck beispielsweise von Meinungsumfragen?

    Lamers: Ja da kann sich keiner von frei machen, Herr Kapern, nicht wahr. Das muss man schon nüchtern sehen. Auch Politiker, die das leugnen, stehen natürlich unter diesem Eindruck, und das ist vielleicht ein bisschen zu - Die Meinung, die Stimmung, die bekommt ja jeder mit, nicht wahr, und eine Form sind Meinungsumfragen, aber das ist natürlich nicht das einzige. Ich verstehe das alles sehr gut. Aber die Politik sowohl wie das Gericht, das ja extrem politisch ist, nicht wahr, muss sich damit auseinandersetzen und muss auch Führung zeigen. Wir müssen doch diese derzeitige Situation, die wirklich eine außerordentlich ernste Krise ist, wir müssen sie überwinden, das geht nur nach vorne. Und wenn ausgerechnet an Deutschland diese Krise in einer Katastrophe endet, wegen Deutschland und wegen des Bundesverfassungsgerichts, das wäre nun wirklich gerade für unser Land eine katastrophale Entwicklung.

    Und Sie fragen, woher das kommt? – Ja, darüber habe ich viel nachgedacht. Auf der einen Seite waren wir ja nach 1945, nachdem wir ganz unerwartet schnell eine Chance bekamen, unverdient und schnell, außerordentlich proeuropäisch und wir haben großes zum europäischen Einigungsprozess beigetragen und wir haben die Chance, die wir bekamen, genutzt. Wir sind wirtschaftlich das stärkste Land und es kommt im Augenblick auf uns vor allen Dingen an. Das ist eine außerordentliche Verantwortung, die wir haben. Aber unser Selbstverständnis, unser nationales Selbstverständnis ruht zu sehr auf diesem wirtschaftlichen Erfolg in den vergangenen Jahren und den sieht man gefährdet. Er ist gefährdet, ganz ohne Zweifel, aber er ist bei einem Scheitern des Euro noch viel, viel, viel mehr gefährdet, als er es da ohne wäre.

    Kapern: Herr Lamers, eine Frage noch ganz kurz zum Schluss. Hans-Dietrich Genscher schreibt heute in einem Tagesspiegel, die Kläger, die da nach Karlsruhe gehen, um gegen die Europagesetze zu klagen, die begingen einen Rechtsmissbrauch, weil es doch handlungsfähige Gesetzgebungsorgane gebe. Muss sich in Wahrheit die Klage gegen die Kläger richten?

    Lamers: Also das finde ich eine sehr gute Bemerkung von Hans-Dietrich Genscher. Ich beklage seit Langem, dass da jetzt jeder klagen kann, nicht wahr. Das ist doch mit Verlaub gesagt auch etwas, was uns von allen, ausnahmslos allen anderen Mitgliedsländern in der Europäischen Union unterscheidet, und das hat das Karlsruher Gericht ja zum Teil bewirkt. In dem Beitrag zu Beginn kam das ja zum Ausdruck. Also ich teile diese Auffassung von Hans-Dietrich Genscher.

    Kapern: Karl Lamers, der europapolitische Vordenker der CDU, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Lamers, danke für das Gespräch und einen schönen Tag noch.

    Lamers: Danke, Ihnen auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.