Sonntag, 28. April 2024

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"Der Amokläufer geriert sich als radikaler Feind des verwalteten Lebens"

Der Schriftsteller Reinhard Jirgl hat sich in seinen Büchern mit den Opfern und Verlierern der Gesellschaft auseinandergesetzt. Bei Amokläufern gehe eine lange Reihe persönlicher Demütigungen und Zurücksetzungen der Gewalttat voraus. Die Idee des Amoklaufs sei im 17. Jahrhundert nach Europa importiert worden und habe mit einem mal eine bis dahin nicht bekannte Problemlösung dargeboten.

Moderation: Christiane Kaess | 10.12.2006
    Christiane Kaess: Nach dem Amoklauf von Emsdetten und zahlreichen Drohungen Jugendlicher, Ähnliches zu tun, reißt die Diskussion nicht ab. Wo kommt diese Gewaltbereitschaft her und was ist der richtige Umgang mit jungen Menschen, die sich offenbar als Opfer einer unmenschlichen Gesellschaft sehen?

    Der Schriftsteller Reinhard Jirgl hat sich in seinen Büchern mit den Opfern und Verlierern der Gesellschaft auseinandergesetzt. So zum Beispiel in seinem Roman "Abtrünnig". Der Zusammenbruch der New Economy und die darauf folgende Ökonomisierung aller Lebensbereiche lässt die Hauptfigur, einen freien Journalisten in seiner persönlichen Situation so verzweifeln, dass er zum Mörder wird, zum Amokläufer. Rezensenten lobten Reinhard Jirgl für dieses Werk als scharfsinnigen Gesellschaftsanalytiker. Guten Tag, Herr Jirgl!

    Reinhard Jirgl: Guten Tag!

    Kaess: Herr Jirgl, es ist in den vergangenen Tagen viel über das Nachahmen diskutiert worden. Hatten Sie denn Bedenken, als Sie Ihr Buch geschrieben haben, jemand könnte das als Anlass nehmen, Amok zu laufen?

    Jirgl: Nein, im Gegenteil, das ist eher ein Versuch, diese Dinge, die sich doch im Wesentlichen weitläufig dem Verständnis entziehen, sprechbar und auch verständlich zu machen. Diese Nachahmerschaft, die jetzt gerade aktuell aufzufinden ist, die kommt auch ein bisschen durch die mediale Berichterstattung. Es wird eine Attraktivität in dieser Art von Verbrechen, in dieser Art von radikaler Feindschaft hergestellt, die natürlich dann auch einen sehr großen Imponiererstatus bekommt, bei gewissen Leuten, die dafür geeignet sind und ich finde, die Maßnahmen, die man da macht, sind schon sehr geeignet, dass man diese Nachahmungstäter, die im Prinzip dann vielleicht auch nur ankündigen, etwas zu tun, was sie nie zu tun gedenken, um sich in irgendeiner Weise hervor zu spielen, dass man die mit saftigen Geldstrafen belegt, dass wird den Reiz der Geschichte sehr nehmen.

    Das ist die eine Seite. Die andere Seite, die Nachahmerschaft, verliert ihre begriffliche Bedeutung, wenn man sich die Einzelfälle, die Sie jetzt zum Teil ja auch erwähnt haben, Emsdetten, man kann weiter zurückgehen, ein Schüler vom Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, man kann in die Welt gehen, der Student in Texas, der auf die Studenten schoss, und so weiter…

    Kaess: Waren das alles Beispiele, die Sie bei Ihrem Buch beeinflusst haben?

    Jirgl: Ja klar. Wissen Sie, ich verfüge da über keinerlei Geheimwissen oder irgendwelche exotische Quellenliteratur. Ich habe einfach das genommen, was man täglich in den Medien lesen kann und diese Fälle verschärfen sich zumindest in der Berichterstattung. Es ist ja die mediale Wahrheit von der Wirklichkeitswahrheit zu unterscheiden, aber auf jeden Fall häuft sich die Berichterstattung in den letzten Jahren. Vielleicht nehmen die Fälle in den letzten Jahren auch wirklich zu, das weiß ich nicht.

    Auf jeden Fall, wenn man sich diese Einzelfälle betrachtet und übereinander legt, also übereinander projiziert wie ein Dia, dann wird man Gemeinsamkeiten feststellen, die sehr bezeichnend sind und man wird auch die Unterschiede feststellen. Und die Sache bekommt damit eine Kontur, die man zunächst auch mal allgemein beschreiben kann um dieses, ich möchte sagen, System "Amok" zu beschreiben, und da lässt sich zunächst einmal sagen, egal wie die Herkünfte dieser einzelnen Täter sind, dass zum Beispiel in Columbine, dieser High School in Amerika, eine Doppeltäterschaft auftrat, das ist eher die Seltenheit. Es sind eher Einzeltäter, die zum Amokläufer werden, wobei das Laufen, für die Geschichte dieses Amoks sehr bedeutend ist, dass also jemand durch eine exzessive Lauftätigkeit durch ein Bemächtigen des Raumes, der eigentlich als befriedet gilt - es gibt ja diese Vorzugsorte, Schule, Marktplatz, Shopping Mall und so weiter, die also als befriedet gelten in der Zivilisation, die sind genau sozusagen der Zielort, in dem dieser Amokläufer seine Opfer sucht.

    Kaess: Und offensichtlich sind es immer mehr auch Jugendliche, die zu dieser Gewaltbereitschaft neigen. Rezensenten ihrer Bücher meinen, Ihre Texte seien eine scharfe Kulturkritik, sie würden die Gegenwart zum Schlachtfeld erklären und den Mangel an Gemeinschaft abbilden. Ist das für Sie eine Ursache, warum gerade Jugendliche zu Gewalttätern werden?

    Jirgl: Dass es Jugendliche sind, das spitzt sich vielleicht in den letzten Jahren zu. Ich habe beim Betrachten dieser Einzelfälle auch festgestellt, dass es sich gar nicht an einer Altersgruppe festmachen lässt, auch nicht an der sozialen Herkunft, das macht die Sache so gefährlich. Es sind also aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung sind diese Täter mit einem Mal hervorgekommen.

    Kaess: An was lässt es sich denn festmachen? Haben Sie etwas gefunden…?

    Jirgl: Ja, das ist die Gleichheit, die es macht. Da muss man generell sagen, dass eben sozusagen der Schwächste oder der sich als Schwächster Empfindende überall und an jedem Ort auch der am tiefsten Beleidigte ist in einer Gesellschaft, der durch seine Schwäche daraufhin von Jeglichen noch tiefer gedemütigt werden kann. Das zeigt im Grunde genommen eine Charaktereigenschaft, die diesem Amokläufer eigen ist, beziehungsweise eine generelle, allgemeine Charakteristik lässt sich herstellen.

    Es gibt einmal die persönliche Geschichte, die besteht aus einer Aufreihung über Jahre hinweg von Demütigungen, Erniedrigungen, die als solche empfunden werden oder tatsächlich bestehen. Das spielt in dem Fall keine Rolle, sondern das geht um das subjektive Empfinden. Manche Beleidigung, manches Zurücksetzung und Draußenhalten wird von Anderen gar nicht wahrgenommen und für den Anderen ist das eben die tiefste Kränkung, die man sich vorstellen kann.

    Kaess: Ist denn die Gewalt ein Versuch, zu jemandem oder zu sich selber durchzudringen?

    Jirgl: Es geht glaube ich nicht darum, die Wahrheit in sich selbst zu finden, sondern es geht erst einmal um den Urgrund allen Rechtsempfindens, egal ob das jetzt im Zivilrecht des Bürgertums ist oder in anderen Gesellschaften ist: Das Fundament des Rechts ist die Rache. Und die persönliche Rache für persönlich erlittene Demütigungen ist natürlich die Geschichte, die man, man kann sie als die Einfühlung bezeichnen.

    Aber es gibt ein interessantes Stadium, wenn jemand mit einem Elefantengedächtnis versehen, das ist sehr wichtig, der also Beleidigungen, Erniedrigungen nicht vergessen kann, der sie auch nicht kompensieren kann durch Erfolg, sondern der eher durch seine Wesensart immer weiter in die Isolation getrieben wird, draußen gehalten wird von gewissen Angeboten, die ihm eine Gesellschaft macht, der wird natürlich diese Dinge in sich aufstapeln.

    Und irgendwann mal gibt es diesen interessanten Moment des Auslösers und damit tritt dieser Mensch, der dann zum Amok Prädestinierte aus der persönlichen Geschichte, das ist wichtig zu unterscheiden, aus der persönlichen Geschichte aus und tritt in einen quasi ja, Josef Vogel hat das mal einen "stochastischen Zustand" genannt, man kann auch weitergehen und sagen, er tritt in das "Welttheater des Amoks" ein. Denn da ist sehr interessant, sich die Geschichte des Amoks sich zu betrachten, woher das kommt und wann das kommt nach Europa.

    Kaess: Und wann kommt das?

    Jirgl: Es lässt sich feststellen, dass das im 17., 18. Jahrhundert durch die Kolonialherren, also die Kolonisierung aus Asien - das ist ja ein malaiisches Wort Amok- mit einem mal nach Europa, also wie ein Importgut eingeführt wurde. Das heißt natürlich nicht, dass es diese Fälle von scheinbar unbegründbarer Aggressivität und Gewalt nicht vorher schon gegeben hat, es lassen sich aus dem frühen Mittelalter, ich hab solche Texte mal gelesen, es lassen sich Zeugnisse finden, dass am Frühstückstisch auf einmal ein Familienvater angefangen hat, seine Familie zu massakrieren. Da hat dann sozusagen der Teufel als Erklärungsmuster hergehalten.

    Und das 17., 18. Jahrhundert ist ja im Grunde genommen die Zeit des triumphierenden Kapitalismus, der weltweit sich seine Kolonien geschaffen hat, und da kommt als Importgut mit einem Mal etwas nach Europa, was als eine Lösung für alle persönlichen Probleme zu sein scheint, nämlich dieser Gewaltakt, dieser merkwürdige Ausbruch der nicht vorhersehbar ist, auf jeden Fall nicht vorhersehbar wie eine Krankheit.

    Und das schafft in der europäischen Gesellschaftsordnung mit einem Mal, ich möchte sagen, eine Bühne, einen Theaterraum dramaturgischer Art. Es ist alles vorbereitet: Die Rolle ist da, die Kulissen sind aufgebaut. Es ist eine Problemlösung, die mit einem mal angeboten wird, die es so in dieser Form nicht gegeben hat und da in der Tat, aber nur in diesem Zusammenhang, muss man von Nachahmerschaft reden.

    Kaess: Wenn wir mal auf die Situation heute noch einmal gucken und was sie auch in ihren Büchern ansprechen, was dem Hauptdarsteller in ihrem Buch zu eigen ist, ist eine große Orientierungslosigkeit. Ist denn das so das Übel unserer Zeit, das dann vor allen Dingen Jugendliche trifft?

    Jirgl: Diese Orientierungslosigkeit ist, glaube ich, allgemein, das hat glaube ich sehr viel mit, entschuldigen Sie diesen abgenutzten Begriff, der Globalisierung zu tun, was ja nichts weiter ist als eine Fortsetzung des totalen Kriegs mit anderen Mitteln. Diese Orientierungslosigkeit ist generell in der Gesellschaft glaube ich zu verzeichnen. Das hat mit Werteverlust und das hat mit allgemeinen verbindlichen Normenverlusten zu tun. Was aber nicht bedeutet, dass jeder in der Gesellschaft prädestiniert für den Amok ist. Also diese Schlussfolgerung wäre glaube ich falsch.

    Man muss das eher in der Umkehrung sehen, dass also jemand sein "draußen gehalten sein" in der Relation der Gesellschaft, in der er lebt, das ist nicht vergleichbar, also jemand, der in den USA oder irgendwo in Afrika aus der Gesellschaft draußen gehalten wird, wird unter ganz anderen Gesichtspunkten seine Entwürdigung und seine Ausgrenzung erfahren, als beispielsweise jemand in Deutschland. Mann muss das also immer in der Relation des Landes sehen, und das hat in der Tat sehr viel mit der Gesellschaft selbst zu tun.

    Also man könnte vielleicht allgemein sagen, dass Gesellschaften, und dazu sind prädestiniert die bürgerlichen Gesellschaften, die sich die Verwaltung des Lebens zur Aufgabe gemacht haben und schon geschichtlich, also seit mindestens 200 Jahren kann man ja sagen ist die Verwaltung des Lebens sozusagen die Regierungsform, unter der die ganze Gesellschaft steht, und der Amokläufer geriert sich praktisch als der Radikale oder als der absolute Feind dieses verwalteten Lebens, das ihm bedeutet hat bisher - und da spielt das Alter auch keine Rolle, ob es ein 16-Jähriger oder ein 60-Jähriger ist- dass dieses verwaltete Leben ihm signalisiert, du sollst nicht dazugehören.

    Kaess: Welche Angebote kann man denn an solche Menschen, die sich in so einer Lage fühlen oder vor allem Jugendliche machen, um sie dort abzuholen, wo sie sind?

    Jirgl: Naja, das zielt jetzt darauf, dass ein Amokläufer von Hause aus als solcher sich kenntlich macht. Ich wage das zu bezweifeln, dass das geht. Das ist immer sehr individualpsychologisch. Da befinden wir uns sozusagen noch immer an der Stelle, wo die persönliche Geschichte zum Gewaltausbruch führen könnte. Das ist immer sehr schwer, das prognostisch zu sehen. Leider Gottes kann man das immer erst nachträglich deskriptiv fassen.

    Was mich betrifft, ich kann diese Dinge nur beschreiben, ich kann sie versuchen auch in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, um sozusagen die Lage oder die Situation dieser Gesellschaft, diesen Zustand zu beschreiben, wo eben solche Fälle offenbar sich häufen. Ein Rezept oder sozusagen eine Motivation in allgemeiner Hinsicht, das ist ja nun allgemein bekannt, es hat natürlich mit der sozialen Schwierigkeit zu tun, dass zum Beispiel ganze Schulklassen keinen Arbeitsplatz bekommen oder dass das familiäre Gehäuse, dass ja eigentlich mal die klassische Schutzform, die bürgerliche Schutzform vor dem bürgerlichen Draußen ist, dass das natürlich an Wert und auch an Funktion verloren hat, trotz aller gegenteiligen Parolen, das liegt auf der Hand. Das ist aber, glaube ich, nicht unbedingt ein ausreichendes Mittel, um diese Dinge nun zu verhindern.