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Der andere Westen

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in klerikal-katholischen Kreisen in Deutschland geheime Sehnsüchte nach einem Staat wie der Franco Diktatur in Spanien. Dahinter verbargen sich oftmals Vorstellungen eines "dritten Weges" jenseits der Ost-West-Polarisierung.

Von Dimitrios Kisoudis | 12.02.2012
    In dem nun folgenden Essay "Der andere Westen" begibt sich Dimitrios Kisoudis auf die Spur jener heimlich gelebten spanisch-deutschen Liaison.

    Kisoudis befasst sich in seinem Publikationen mit Ideologien in Geschichte und Gegenwart. 2007 erschien sein Buch Politische Theologie in der griechisch orthodoxen Kirche.


    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland häufig als Musterschüler des Westens gehandelt. Konservative Teile der politischen Elite in der neu gegründeten Bundesrepublik träumten aber von einem anderen Westen als von der freien Welt der Westbindung. Die Rede ist von Sehnsüchten nach einem Abendland, in dessen Zentrum das autoritäre klerikal-faschistische Spanien des Generals Franco stehen sollte.

    Im rechtskatholischen Teil Westdeutschlands erschöpfte sich das Bild vom Westen nicht in der freien Welt der Truman-Doktrin. Der Westen, das waren für strenggläubige christliche Politiker nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika samt befreitem Europa.

    Ihr Westen war das christliche Abendland, wo Mord mit der Garotte bestraft wurde und die Ehe nur vom Tod geschieden werden konnte. Doch einen solchen Westen suchte man unter den neuen Verbündeten vergeblich. Um ihn zu finden, bedurfte es mitunter heimlicher Reisen nach Iberien: nach Portugal oder, besser noch, nach Spanien. Dort wartete ein empfangsbereiter Partner, den man 1936 im Bürgerkrieg gegen die Linke tatkräftig unterstützt hatte.

    In der Weltnacht der Geschichte, wenn das humanitäre Völkerrecht schläft, verstehen sich Deutsche und Spanier prächtig. Kein konservativer Deutscher kam ins Land, um über die Inquisition Gericht zu halten, Spanien gar als rückständig, reaktionär oder verknöchert zu stigmatisieren.

    Ist Spanien ein Problem oder ist es vielmehr die Lösung des Problems? Diese Frage hat die spanische "Generation von ´98" nach der verheerenden Niederlage im spanisch-amerikanischen Krieg 1898 aufgeworfen. Sie blieb auch in den langen Jahren der Franco-Diktatur entscheidend.
    Nach dem Bürgerkrieg hat der existenzialistische Schriftsteller Pedro Laín Entralgo das Land erneut zum Problem erklärt und für die Versöhnung zwischen westlicher Moderne und spanischer Tradition gestimmt.

    1949 entwickelte ein anderer spanischer Intellektueller eine verblüffende Antwort, Spanien sei die Lösung und Deutschland der Weg dorthin. Rafael Calvo Serer war Handlungsreisender in Sachen Ideologie. Im Gründungsjahr der Bundesrepublik sah Calvo Serer "Spanien ohne Problem", so auch sein Buchtitel:

    "Als letzte Ermunterung, die große universale Aufgabe Spaniens in unserer Zeit zu verwirklichen, führe ich diese Eindrücke von der Entwicklung des Deutschland unserer Tage auf, der großen Brutstätte, wo die neu entstehende Epoche Europas gärt, wo sich die Synthese von moderner Technik und christlichem Geist vollzieht."

    Mit der Technik war das deutsche Wirtschaftswunder gemeint, mit dem Geist der deutsche Ordoliberalismus und die freie Marktwirtschaft, die nach Vorstellungen Serers mit einer eher mittelalterlich anmutenden Gesellschaftsordnung zusammenzufügen waren.

    Will sagen: Spanien sollte sich modernisieren, ohne zu verwestlichen. Aus dem Schutt des nicht enden wollenden Bürgerkrieges sollte es neu erstehen wie Deutschland aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges.

    Calvo Serer hatte Ausstrahlung, er sah aus wie der Schurke in einem amerikanischen Krimi oder wie der Held in einem spanischen Streifen. Er sagte dem Westen und der Falange zugleich den Kampf an. Deren Politik der Autarkie verlor ihren Sinn, wenn das Agrarland zwar seine wirtschaftliche Unabhängigkeit wahrte, dafür aber durch Kredite in finanzielle Abhängigkeit vom Ausland geriet. Die Syndikate verhinderten mit ihrer Befehlsstruktur, dass die Produktion effektiver und die Technik moderner wurde.

    Im Dezember 1959 bekam Bundeskanzler Konrad Adenauer Post von einem katholischen Verleger. Franz Carl Bachem, der die Gebetbücher des Erzbistums Köln verlegte, schrieb einen Brief über die Verhältnisse in Spanien, der einem Klagegebet glich: Vetternwirtschaft von oben, betriebsfremde Personalpolitik, eine staatlich aufgeblähte Schwerindustrie, die Unterdrückung der katalanischen Kultur. Woraufhin Adenauer beim Auswärtigen Amt nachfragte:

    "Hat unser Botschafter jemals einen derartigen Bericht geschickt?"

    Hatte er nicht. Jener Brief wurde nicht als Kritik an Franco verstanden, sondern als eine diplomatische Annäherung des Opus Dei. Veranlasst hatte ihn Calvo Serer. Dieser war Chefideologe der katholischen Laienorganisation, die Spaniens Wirtschaft öffnen, aber Spaniens Politik verschlossen halten wollte. Er hatte Bachem gebeten, seine Eindrücke zu notieren und ans Kanzleramt weiter zu reichen.

    Konrad Adenauer war die personifizierte Hoffnung für katholische Gegenrevolutionäre im In- und Ausland. Für die katholische Zentrumspartei hatte er 27 Jahre lang im Kölner Rathaus gesessen, nunmehr stand er für das neue Deutschland, in dem es unter katholischen Hardlinern das Gefühl gab, zwar den Weltkrieg verloren, aber den Kulturkampf nachträglich gewonnen zu haben. Zumindest sah es vorübergehend so aus. Durch die von den Alliierten Siegern geschaffene Teilung und durch die Gebietsverluste im Osten war das Land nach Westen gerückt. Uns was dieser Westen sei, war für den ersten Bundeskanzler mit der Westbindung hinreichend beantwortet.

    Der Westen war die Antwort auf die gottlose Bedrohung aus dem kommunistischen Osten. Und der Kommunismus war für seine klerikalen Gegner nichts anderes als die neueste Gestalt der asiatischen Despotie. Östliche Barbarei gegen westliche Zivilisation. So war Spanien für Adenauer ein "Kernland des abendländischen Europa", das er in den 50er-Jahren in eine "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" miteinbeziehen wollte.

    Sein erster Botschafter dort kannte das Land besser, er war nämlich der Vetter Alfonsos XIII., des letzten Königs von Spanien. In seinem "diplomatischen Testament" vom 20. März 1956 schrieb Adalbert von Bayern über die Spanier:

    "Das Volk ist fromm und liebt kirchliche Feiern mit Musik, Prozessionen, Tänze, ist aber leicht beeinflussbar und fanatisch. So konnte es im Bürgerkrieg geschehen, dass dieselben Leute, die an den Lippen ihres Pfarrers in der Kirche hingen, ihn kurz darauf mit Pech beschmierten und lebend verbrannten, Nonnen schändeten, marterten und andere Greueltaten vollbrachten, um in Reuetränen auszubrechen, wenn es zu spät war. Auch Spanier können grausam sein wie ihre russischen Antipoden."

    Die spanische Regierung bereitete Adalbert einen standesgemäßen Empfang. Er wurde von Franco ins Kabinett geführt. Dort plauderte man über die deutsche Unterstützung im Spanischen Bürgerkrieg, ehe der Caudillo mit dem Finger auf ein Bildnis von Adalberts bayerischem Großvater zeigte und dabei die Bemerkung zum besten gab:

    "Sie sehen, dass Sie hier zuhause sind."

    Einmal schilderte Adalbert von Bayern, wie Franco das politische Wintersemester mit einem traditionellen Lobgesang in der Königlichen Basilika San Francisco el Grande zu eröffnen pflegte. Die Diplomaten waren nach Rang aufgestellt, Franco gab ihnen die Hand. Im Thronsaal bauten sich hinter dem Thron die Minister auf. Adalbert erinnerte sich, wie sein Cousin König Alfonso XIII. mit Königin Ena flankiert von goldenen Löwen auf dem Thron gesessen hatte. Franco war aber vor dem Thron stehen geblieben.

    Seit 1947 war Spanien wieder ein Königreich, freilich ein Königreich ohne König. Das Nachfolgegesetz hatte Spanien "in Übereinstimmung mit seiner Tradition" zur Monarchie erklärt, beließ die Herrschaft aber beim sogenannten "Führer Spaniens und des Kreuzzuges". Erst sein Nachfolger würde einst den Thron besteigen - wer auch immer es sein mochte, wann immer dem Führer der politische Sinn danach stand. Franco war Diktator im Auftrag eines Königs, den er selbst zu bestimmen sich vorbehielt. Seine Diktatur öffnete Raum für monarchistische Wunschträume aller Art.

    Adalbert von Bayern dachte an seinen Neffen, Juan de Borbón, den Grafen von Barcelona. Dieser wurde beraten von Calvo Serer, dem Spanier "ohne Probleme", hatte aber das Nachfolgegesetz zurückgewiesen und es sich auf diese Weise mit dem Caudillo verscherzt. Die besten Chancen schien sein Sohn zu haben, Juan Carlos, dessen Erziehung in den Händen des Opus Dei lag.

    1948 hatte sich Franco des zehnjährigen Knaben angenommen, es sollte mehr als zwanzig Jahre dauern, bis er ihn zu seinem Nachfolger bestimmte. Drei Jahrzehnte lang blühten die Träume von der Monarchie. Auch Franco entführten sie bisweilen aus dem Zentrum seiner diktatorischen Gewalt. Er fand einen anderen Kandidaten, der nicht dem Haus der Bourbonen entstammte und keine Ansprüche auf den Thron erhob. Es war jenes ungekrönte Haupt, das sich Katholiken aus ganz Europa als König wünschten. Von seinem Außenminister auf diesen Mann angesprochen, antwortete Franco:

    "Zweifellos ist er der am besten vorbereitete Prinz, ... der sich vielleicht am meisten mit den Idealen identifiziert, die der Kreuzzug verfolgt hat, und der versucht hat, die Zusammenarbeit mit dem aktuellen Staat zu erreichen."

    Otto von Habsburg erschien 1955 im Königlichen Palast El Pardo, wo Franco die Staatsgäste zu empfangen pflegte. Er erklärte offen, die Krone unter keinen Umständen annehmen zu wollen, und empfahl Juan Carlos, inzwischen 17, als einzig möglichen Prätendenten. Juan Carlos war aber nur die gleichsam kleinspanische Lösung. Der Sohn des letzten Kaisers von Österreich aber würde Spanien wieder zum Nabel des Abendlandes machen. Zwar hieße er nur König von Spanien, aber jeder wüsste, was gemeint wäre — der Kaiser von Europa!

    Anhänger dieses Königsplans erhofften sich davon den Aufstieg des isolierten Landes auf der Iberischen Halbinsel zum Zentrum des Westens. Der Westen wäre nach solchen Träumereien nicht mehr die ausgebeulte westliche Hemisphäre der Truman-Doktrin geblieben, sondern ein neues Heiliges Römisches Reich spanischer Nation geworden. Ein Reich, das bei Otto von Habsburg in der Familie bewahrt liegen sollte. So entschlüsselte er das Verhältnis von "Spanien und Europa" für die Zeitschrift Neues Abendland:

    "Die Erinnerung an Karl V. ist 1958, da das 400jährige Gedächtnis seines Todestages begangen wird, besonders lebendig. Dieser große Kaiser und sein Sohn Philipp II. sind gerade in der heutigen politischen Lage hochaktuelle Vorbilder und Beispiele. Denn diese beiden Monarchen des christlichen Abendlandes waren es, die versuchten, den europäischen Kaisergedanken mit der Ausstrahlung nach dem südamerikanischen Raum zu verbinden."

    Mit Adenauers Westen hatte dieses erträumte Abendland aber nicht das Geringste zu tun. Otto von Habsburg wollte lieber Österreich und Spanien an Lateinamerika binden. Seit 1952 hatte er für diese übereuropäische Europa-Idee ein eigenes Forum, das "Europäische Dokumentations- und Informationszentrum", kurz CEDI. Jährlich tagte das CEDI im Escorial, politisch betrachtet führte es dort in der monumentalen Klosterresidenz Philipps II. aber eine eher nächtliche Existenz.

    Denn Franco pflegte bei diesen Treffen Kontakte zu auswärtigen Politikern, denen offizielle Besuche in jene Region bei diplomatischem Tageslicht nicht gestattet waren. CEDI-Präsident Otto gab den Treffen den imperialen Rahmen. Als deutscher Kurier reiste Richard Jaeger nach Madrid, der Vizepräsident des Bundestags. Er sollte danach Adenauer zu einem Staatsbesuch in Spanien überreden, ohne Erfolg. Der Kanzler blieb an den Westen gebunden, während der Rechtsaußen der CSU mit Spaniens Außenminister berüchtigte Geheimdiplomatie betrieb.

    Die Stimme der spanischen Arkanpolitik flüsterte deutsch, mit bayrischem Akzent. An der Wiege des CEDI standen auch die Adelsfamilien Waldburg-Zeil und Gaupp-Berghausen. Die internationale Sektion des Dokumentationszentrums war seit 1957 ein deutscher Verein mit Sitz in München. Auch das CEDI stellte für rechtskonservative Unions-Politiker die Querverbindung zur geistigen Heimat Spanien her.

    Außenminister Heinrich von Brentano wurde 1955 als Kuratoriumsmitglied der CEDI-nahen Abendländischen Akademie bloßgestellt. Die Frankfurter Rundschau machte den Schnitt und warnte vor einem "autoritären Ständestaat klerikal-faschistischer Observanz". Wer gegenüber dem Franco-Spanien ein allzu unproblematisches Verhältnis pflegte, musste mit wachsendem Widerstand rechnen.

    Konrad Adenauer hatte sich schon seit 1950 dafür ausgesprochen, Spanien in die NATO aufzunehmen, also fünf Jahre, bevor die Bundesrepublik in das Bündnis eingegliedert werden sollte. Auf "450.000 ausgezeichnete Soldaten" – wie geschwärmt wurde - könne der Westen im Kampf gegen den Kommunismus nicht verzichten. Den britischen Einwand, die NATO sei eine Wertegemeinschaft, die die Werte der Inquisition ausschließe, konnten Adenauer und sein Außenminister Brentano nicht nachvollziehen.

    Der Einladung zu einem Staatsbesuch wollte Adenauer 1956 schließlich nachkommen, "mit wahrer Freude", wie es hieß. Das Länderreferat im Außenministerium empfahl, vorher einen Privaturlaub auf den Kanarischen Inseln einzuflechten. Das Auswärtige Amt riet jedoch davon ab, vor anderen westlichen Regierungschefs Spanien deutscherseits einen Staatsbesuch abzustatten. Adenauers Arzt entschied diesen Dissens, als er den betagten Herren im Palais Schaumburg für reiseunfähig erklärte.

    Wessen Ruf bereits ruiniert war, der konnte seine Freundschaft zu Spanien ganz ungeniert pflegen. Zum Beispiel Carl Schmitt, der als "Kronjurist des Dritten Reiches" gemieden wurde, seit er die Juni-Morde an der SA 1934 im Sinne der Reichswehr mit der lapidaren Formel gerechtfertigt hatte, der Führer schütze das Recht.

    Schmitt war schon in den Arenen der Falange ein staatstragender Denker. Er blieb es in den fünfziger Jahren, weil sein Netzwerk ebenso in die Katakomben des Opus Dei hineinreichte.

    Am 2. Dezember 1950 versicherte er seinem Freund Rafael Calvo Serer die "große Sympathie und meine Liebe sin problema für Ihr Spanien." Im folgenden Jahr wurde er vom Ideologen des Opus nach Madrid zum Vortrag geladen. Carl Schmitt dozierte über die "Einheit der Welt" im Kulturinstitut Athenäum in Madrid, das dem Franquismus als ideologische Plattform diente. Heute, so Schmitt damals, träten sich zwei aufklärerische Geschichtsphilosophien im Osten und im Westen als Feinde gegenüber.

    "Jeder der beiden Gegner des primitiven Weltdualismus hat ein Interesse daran, andere auf seine Seite zu ziehen, Schwächere zu schützen und gegen den anderen zu fördern, womit er sie möglicherweise auch gegen sich selbst fördert. Auch hier liegt es im Wesen dieser mannigfachen Träger einer dritten Kraft, dass sie die Gegensätze der beiden großen Partner für sich ausnutzen und selber nicht überwältigend stark zu sein brauchen, um sich zu halten."

    Für die spanischen Zuhörer war jene "dritte Kraft" die marianische Kraft der Eroberer von Amerika, der Missionsgeist ihrer Conquista. Carl Schmitt machte in Spanien wieder einmal Schule. Im Verlag des Opus Dei erschien 1965 die Doktorarbeit des bekannten Schmitt-Schülers Reinhart Koselleck auf Spanisch: "Kritik und Krise". In der spanischen Übersetzung heißt der Titel "Kritik und Krise der bürgerlichen Welt".

    Meinte Koselleck die Krise, in die das Bürgertum die Welt gestürzt habe, so steckt die bürgerliche Welt in der spanischen Fassung selbst in der Krise. Nachdem das Buch in Deutschland als ein Beitrag zur Theorie der Öffentlichkeit aufgenommen worden war, erschien es in Spanien als Kampfschrift. Danach hatte die Aufklärung die Welt mit ihrer Kritik an der Monarchie in zwei Blöcke gehauen, die NATO und den Warschauer Pakt.

    Zur Synthese bedurfte es einer dritten Kraft, die nicht revolutionär ist wie der Osten und der Westen, sondern gegenrevolutionär wie die Mission der spanischen Conquistadores war. Gegenrevolutionär wie das Europa des Otto von Habsburg, ob es sich nun Mitteleuropa, Paneuropa oder einfach nur das "Reich" nennen sollte.

    Der Nachtzug von Bonn nach Madrid fuhr nur selten mit dem Wappen der BRD. Und wenn, hieß der Lokführer nicht Adenauer, sondern Franz Josef Strauß. Der Verteidigungsminister war ein Poltergeist. Auch das Lob der Amerikaner konnte ihn nicht ruhig stellen.

    Im Jahre 1959 haben die sowjetisch-amerikanische Übereinkunft in der von England und Frankreich heraufbeschworenen Suezkrise und die Bewältigung der zweiten Berlin-Krise um den Status West-Berlins die Bonner Regierung misstrauisch gestimmt. Ist der Westen überhaupt noch westlich, wurde eine Zeitlang geargwöhnt?

    Franz Josef Strauß wollte das Schicksal Deutschlands in die eigenen Hände nehmen. Eine Trägerrakete hatte die Bundeswehr schon. Und dass Deutschland keine Atombombe produzieren durfte, hieß ja nicht, darauf zu verzichten, sie im Lande zu stationieren. Als Calvo Serers Freunde in Spanien das Ruder in die Hand nahmen und die sogenannte dritte, geschichtstheologische Kraft - die weltumgreifende Hispanidad - zu erneuern sich anschickte, wollte Strauß deutsche Militärbasen in Spanien.

    Weil man mit der Zustimmung der Westmächte gar nicht erst rechnete, handelte man das Vorhaben bilateral aus. Der NATO würde Spanien sowieso bald beitreten, kalkulierte man. Im Gespräch waren Nachschubdepots, eine Lazarettbasis, eine Tiefflugstrecke für Kampfverbände. Die Spanier waren begeistert, sie sollten im Gegenzug Munition und leichte Waffen an Bonn verkaufen. Weil auch die Amerikaner seit dem Militärabkommen von 1953 Truppen in Spanien stationierten, glaubte sich Adenauer auf strategischem NATO-Terrain zu bewegen.

    Was für die Hegemonialmacht galt, galt aber lange nicht für den Schützling. Für die US-Amerikaner war Spanien das Hinterland der Gegenküste, für die Deutschen lag Spanien in der Himmelsrichtung, aus der das Kommando kam. Die Wiederbelebung alter Freundschaften aus den totalitären 30er-Jahren war unerwünscht. Deutsche Soldaten in Spanien - das rief üble Erinnerungen an die verheerende Legion Condor wach. Spanische Militärhilfe für Deutschland erinnerte an die Waffenbruderschaft der Blauen Division.

    So intervenierte der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber in Europa, Lauris Norstad. Er sah seine Kontroll- und Inspektionsrechte verletzt und redete Strauß ins Gewissen, fand aber nicht die passenden Worte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig gelassen hatten. Er wollte nicht darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik nicht so souverän sei, wie Strauß es sich offenbar eingebildet hatte. Schließlich schaltete Norstad die "New York Times" ein, die Straussens Plan von der schwachen, öffentlichen Flanke her zu Fall brachte.

    Strauß dachte nie nur schlicht national, auch hinter diesem Plan steckte ein weltgeschichtliches Konzept: das Abendland nicht den strategischen Vorgaben der USA unterzuordnen, sondern als "dritte Kraft" in der Weltpolitik zu etablieren. Immer noch schreiben wir das Jahr 1959, Charles de Gaulle war gerade Präsident der neuen Fünften Französischen Republik geworden.

    Mit der außenpolitischen Wende des Opus Dei gerierte sich auch Franco wie ein Gaullist. Gerade zu diesem Zeitpunkt stolperte Adenauer in seine Präsidentschaftskrise um die Nachfolge von Theodor Heuss. Strauß avancierte derweil zum ersten deutschen Gaullisten. Im CEDI verabredeten er und seine reaktionären Freunde mit den Franzosen eine Sonderpolitik.

    Die Gaullisten gingen auf Distanz zu den Vereinigten Staaten. Franco trat nie der NATO bei, de Gaulle lehnte die Integration Frankreichs in ein Militärbündnis ab, in dem der Oberkommandierende nach dem Statut immer US-Amerikaner zu sein hatte. Auch Strauß fand es "unerträglich", dass Atomwaffen — und damit das Schicksal der ganzen Welt — in den Händen zweier Staaten lagen. An Europa oder sogar Deutschland als Alternative dachte er aber nicht. So sagte er im Februar 1960:

    "Die Vorstellung, dass ein vereinigtes Europa eine ‘dritte Kraft’ und aus sich heraus Weltmacht wäre wie die USA oder die Sowjetunion, ist durch den Fortschritt der Technik und durch die politischen Ereignisse bereits überholt. Europa ist heute schon in jeder Hinsicht zu klein geworden, um allein noch eine ‘dritte Kraft’ darstellen zu können."

    Allein nicht, mit Hilfe seiner Freunde schon. Und die saßen nicht in Nordamerika, sondern in Lateinamerika. Dort regierten sie mit der weltgeschichtlichen Kraft der Hispanidad. Diktatoren bekamen Staatsbesuch von Franz Josef Strauß, so Augusto Pinochet in Chile und Jorge Rafael Videla in Argentinien. Seit die US-Amerikaner offen ihre eigene Ostpolitik betrieben, blickte das abendländische Auge auf Lateinamerika. In Übersee nahm eine Idee Gestalt an, die die NATO überhaupt in Frage stellte.

    SATO war die Abkürzung für die ungeheuerliche Idee einer Südatlantischen Verteidigungsgemeinschaft. Sie sollte aus Ländern bestehen, die die Werte der NATO — Demokratie und Menschenrechte — eher ablehnten. Außer den Staaten Lateinamerikas waren das Angola und Mosambik, Rhodesien und Südafrika. Schon 1956 hatte Argentinien, das europäischste Land außerhalb von Europa, einen Südatlantikpakt vorgeschlagen.

    Immer wieder lebte diese Idee auf, am stärksten als die Diktaturen auf der Iberischen Halbinsel in den Siebzigerjahren zu schwächeln begannen. Zwar führten die Lateinamerikaner zur Begründung an, der Südatlantik sei zum Teich der Sowjets geworden, die Kommunisten gefährdeten mit ihrer wachsenden Marine die Schifffahrtswege. Aber die USA rochen die Lunte der dritten Kraft und traten die brennende Schnur aus.

    Es ist Februar 1967, mit 91 Jahren ist der frühere Kanzler Konrad Adenauer der älteste Abgeordnete, der je im Bundestag saß. Vor seinem nahen Tode wollte "der Alte von Rhöndorf" erleben, was ihm während seiner langen Regentschaft verwehrt geblieben war. Er nahm sich vor, auch ohne Staatsamt seinen Staatsbesuch in Spanien nachzuholen. Gerade hatte er seine Winterbronchitis halbwegs auskuriert. Von den US-Amerikanern fühlte er sich durch die neue Entspannungspolitik verraten.

    Da kam die Einladung von Informationsminister Manuel Fraga Iribarne gerade recht. Dieser war ein Technokrat, ein Machiavellist, intelligent und energisch wie Franz Josef Strauß. Für sein Ressort Tourismus hatte er sich den Slogan "Spanien ist anders" ausgedacht, ein Versprechen und eine Drohung zugleich. Dieses andere Spanien war es, das Adenauer vom 14. bis zum 19. Februar 1967 besuchen wollte.

    Jetzt konnte Adenauer doch noch das Escorial besuchen. In der Grabkammer der spanischen Könige fühlte er sich zuhause. Am Mittagstisch des spanischen Außenministers hielt er eine Tischrede:

    "Wenn Europa zusammen mit Amerika, und besonders meine ich damit auch Südamerika, das eine große Zukunft vor sich hat, arbeiten und handeln wird, dann werden wir Europa und unsere christliche Kultur retten können. Ich erhebe mein Glas auf die enge Verbundenheit Europas und auf die Verbundenheit zwischen Spanien und Deutschland."

    Man staunte nicht schlecht, im Angesicht des Todes hörte sich der 91Jährige ganz südatlantisch an. Im überfüllten Athenäum hielt er eine Rede gegen den Atomsperrvertrag und für ein politisch geeintes Europa als dritte Kraft neben der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Im Palast El Pardo durfte Konrad Adenauer endlich zum Generalissimus, dem spanischen Staatschef Franco.

    Es ging um den Kommunismus und die angestoßene Entspannungspolitik. An eine europäische Einigung unter Einschluss Spaniens wollte Franco nicht glauben. Er verabschiedete Adenauer in der Hoffnung, dass er nicht nur als neuer Freund Spaniens abreise, sondern als sein "persönlicher, intimer Freund". Adenauer nahm die Freundschaft mit ins Grab, auf der abschließenden Pressekonferenz teilte er seinen "sehr guten Eindruck von Franco" mit: "zurückhaltend, klug, überlegend, nicht vorschnell".

    Im Sommer 1974 wurde Francos Parkinson-Erkrankung bekannt gegeben. Rafael Calvo Serer gründete im Pariser Exil mit dem Kommunisten Santiago Carrillo die Junta Democrática, eine Art demokratische Übergangsregierung. Calvo Serer hatte nun nicht nur kein Problem mit Spanien, er hatte auch kein Problem mehr mit einer spanischen Demokratie nach westlichem Vorbild.
    Nach seiner indirekten Aufforferung an Franco sich "rechtzeitig zurückzuziehen", formuliert in einem Artikel über de Gaulle, hatte Calvo Serer Spanien verlassen müssen. Im Pariser Hotel war er zwischen Koffern mit Büchern und Kleidern zur Erkenntnis gelangt, im Widerstand gekämpft zu haben — und nicht, wie in Wirklichkeit, für die Verlängerung der Franco-Diktatur. Am 20. November 1975 starb Franco, im Fernsehen wurde sein Testament verlesen:

    "Aus der Liebe, die ich für unser Vaterland fühle, bitte ich euch, die Einheit und den Frieden zu bewahren und den künftigen König Juan Carlos de Borbón mit demselben Gefühl und derselben Treue zu umgeben, die ihr mir geschenkt habt, und ihn in jedem Augenblick durch dieselbe Zusammenarbeit zu unterstützen wie mich. Vergesst nicht, dass die Feinde Spaniens und der christlichen Zivilisation nicht schlafen."

    Juan Carlos aber, den Franco und das Opus Dei einst zum traditionellen Monarchen erkoren hatten, übertrug bei der Thronbesteigung die Souveränität aufs Volk und förderte damit die Entwicklung zu einer modernen spanischen Gesellschaft. Die Technokraten der Diktatur glaubten, sie könnten mit der Demokratie spielerisch nach ihrer Facon umgehen. So witterte Manuel Fraga seine Chance, den Franquismus in die Demokratie zu überführen. Für seine Volksallianz sammelte er die rechten Kräfte, die aus der Franco-Zeit geblieben waren.

    Franz Josef Strauß reiste mit einem Koffer voll Geld nach Spanien. Er besuchte den König und den Ministerpräsidenten im Stile eines Königs von Bayern und verteilte Geld, um den Kommunismus zu bekämpfen und die alten Zeiten zu retten. Im Juli 1977 übergab er Fraga knapp fünf Millionen Peseten, das waren 135.000 Mark. Strauß blieb ein Freund der rechtskonservativen Volksallianz. Noch auf deren Parteitag 1986 kam er sich vor "wie auf einem Parteitag der CSU in München."

    Franco führte die Monarchie ein, und der Monarch die Demokratie. Der deutsche und der spanische Sonderweg endeten im Mainstream der Weltgeschichte. Wie die Sonne ging auch das Abendland im Westen unter. Das war die Pointe der deutsch-spanischen Geheimgeschichte.
    Konrad Adenauer 1963 im Bundestag
    Spanien war für Adenauer ein "Kernland des abendländischen Europa", das er in den 50er-Jahren in eine "Europäische Verteidigungsge-meinschaft" miteinbeziehen wollte. (AP)
    Franz-Josef Strauß bei einer Rede im Deutschen Bundestag 1973
    Strauß nie nur schlicht national ... (AP)