Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Der Anti-Egalitarist

Norbert Hoerster fordert in seinem Buch Gerechtigkeit, aber keineswegs Gleichmacherei: Würden alle Menschen gleichgestellt - unabhängig, was sie leisten, - dann fehle ja jeder Anreiz sich anzustrengen.

Von Christoph Fleischmann | 02.09.2013
    Im gegenwärtigen Wahlkampf wird wieder über Gerechtigkeit und Steuersätze gestritten. Norbert Hoerster überholt alle vertretenen Positionen scheinbar auf der linken Überholspur:

    "Sobald der Staat überhaupt gerechtfertigt ist, muss jeder einen etwa gleichen Beitrag leisten. Gleich aber in dem Sinne, dass eben sein Glück und Wohlergehen in gleichem Maße betroffen wird. Und wenn dann ein Superreicher zusätzlich dann noch mal, was weiß ich, 10.000 Euro verdient, dann hat das für seine Lebensqualität überhaupt keine Wirkung; dann spricht nichts dagegen, dem das zu 90 Prozent durch die Steuer zu nehmen. Während ein Geringverdiener, wenn der 10.000 Euro im Jahr mehr verdient, das kann dessen ganzes Leben positiv verändern. Insofern spricht das dafür, die "Reichen", in Anführungsstrichen, viel stärker als in unserem gegenwärtigen System zu besteuern."

    Hoerster geht es jedoch keineswegs um Gleichmacherei, ja er macht in seinem Buch immer wieder klar, dass er ein dezidierter Anti-Egalitarist ist:

    "Wenn ich es recht verstehe, besagt ja der Egalitarismus, dass die Menschen jedenfalls prinzipiell mal alle, was ihre Lebensqualität und ihre Güter angeht, gleichgestellt werden sollen - unabhängig davon, was sie geleistet haben und was sie auf dem freien Markt sich erwirtschaftet haben; und das finde ich eben höchstgradig unplausibel, denn damit fehlt ja auch jeder Anreiz sich besonders anzustrengen, eine besondere Leistung zu erbringen."

    Hoerster achtet auf Gleichbehandlung bei der Finanzierung des Staates, will aber kein Egalitarist sein. Was ist Hoerster also nun für einer?

    "Ja, ich weiß es nicht. Ein Liberaler, dem es im Prinzip darum geht, möglichst gleich das Wohl der Menschen abhängig zu machen von ihrer Leistung, von dem, was sie dann auf dem freien Markt erwirtschaften."

    Das Schlüsselwort ist also die Leistung. Vieles, was oft leichtfertig als eigene Leistung ausgegeben wird, entlarvt Hoerster als unverdientes Vermögen. Er bezieht sich auf den englischen Philosophen John Locke, der die Mehrheitsmeinung der philosophischen Tradition vertrat, dass die Erde den Menschen gemeinsam, also als Gemeineigentum, gegeben sei. Privateigentum sei dennoch gerechtfertigt durch die Arbeit, also Leistung, die ein Mensch auf ein Stück Land verwende. Bei dieser Aneignung durch Arbeit macht Locke aber eine wichtige Einschränkung:

    "John Locke hat das schon deutlich gesagt, dass man sich nur so viel an Grund und Boden aneignen darf zum persönlichen Eigentum, wie auch noch für die anderen Menschen übrig ist. Und er sagt dabei ausdrücklich: Naja, das ist ja kein Problem. In der Urzeit der Menschheit, da hat er ja recht, ist das auch gewährleistet. Aber unter gegenwärtigen Bedingungen sieht das ja total anders aus, da ist ja eine riesige Begrenztheit an Naturgütern. Und da ist dann doch die Frage, ob man Locke dann nicht so ernst nehmen muss, und sagen: Wenn jemand sein Eigentum, das er sich angeeignet hat, benutzt hat, dann darf er dieses Eigentum nicht wieder beliebig auf andere übertragen, sondern mit dem Tode eines Menschen muss dieses Privateigentum, insbesondere an Grund und Boden, dann zugunsten der anderen Menschen, insbesondere der neuen Generation, an die Gemeinschaft zurückfallen."

    Das heißt nichts anderes als eine hundertprozentige Erbschaftsteuer auf den Wert des unbearbeiteten Grund und Bodens. Denn der Boden ist niemandes Leistung. Besitz, der eigener Leistung entspringt, will Hoerster nach fünf Generationen wieder komplett ins Gemeinschaftseigentum übergeben, weil etwas nie nur einer eigenen Leistung entspringe, immer seien auch Naturgüter enthalten. Und die Erben hätten schon erst recht nichts für das Ererbte getan. Hoerster argumentiert hier - ohne das genau zu sagen - mit John Locke gegen John Locke, der Hoersters Konsequenz ja nicht gezogen hat. Im Verständnis der liberalen Geschichte vom Eigentum geschah die ursprüngliche Aneignung durch Arbeit, und alle folgenden ungleichen Verteilungen von Grund und Boden waren durch freiwilligen Vertrag – sei es Kauf, Schenkung oder Vererbung – gerechtfertigt. Hoerster schüttet noch mehr Wasser in den Wein dieser Erzählung:

    "Wobei da ja auch noch eine offene Frage ist: Je weiter man zurückgeht, umso wahrscheinlicher wird es ja, dass die Eigentumsaneignung überhaupt nicht freiwillig erfolgt ist, sondern dass die irgendwann mal, sei es nun im achten oder zehnten oder 15. Jahrhundert auf Gewaltanwendung beruht hat. Und wenn man eben konsequent ist, dann muss man sagen: Eine Eigentumsaneignung, die zu irgendeiner Zeit mal auf Gewalt beruht hat, also illegitim war, die kann auch durch noch so freiwillige spätere Übertragungen nie zu einer legitimen Eigentumsaneignung führen."

    Wie man freilich solch illegitime Aneignungen juristisch sicher rückgängig machen kann oder wie man den Anteil der Ururgroßeltern am Erbe erkennen kann, um in der fünften Generation das Ererbte zu 100 Prozent an die Gemeinschaft zurückzugeben, solche praktischen Fragen lässt Hoerster letztlich offen. Seine Stärke liegt nicht im konkreten Politikentwurf. Aber Hoersters Insistieren auf wirklicher Leistung – im Gegensatz zu unverdientem Vermögen oder gewaltsamem Raub – enttarnt manche Lebenslügen der liberalen Tradition. Jedoch in manchem bleibt er dieser Tradition treu: Die Entlohnung für die Arbeit regelt letztlich nicht die Leistung, sondern der Markt:

    "Da ist wirklich der Markt, der da entscheidet. Und wenn jemand eben vom Markt mehr gefragt ist, und seine Bücher etwa hundertmal mehr verkaufen kann als jemand anders, dann hat er das Ergebnis durchaus verdient, würde ich sagen. Der Markt entscheidet nach freier Wahl der Bürger. In dem Punkt wäre ich in der Tat liberal und würde sagen: Jeder darf kaufen und sein Geld dafür ausgeben, was er will."

    Schade, dass Hoerster hier nicht weiter fragt: Warum soll die Verteilung durch den Markt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft gerecht sein – reicht dafür die freie Wahl der Konsumenten als Legitimation? Wenn man hier weiterdenkt, kann man auch zweifeln, ob es sinnvoll ist, die Leistung zu einem Schlüsselbegriff bei der Frage nach der gerechten Gesellschaft zu machen. Man muss Hoerster nicht in allem zustimmen, aber dass er auf 140 Seiten Grundfragen einer gerechten Gesellschaft nicht nur in verständlicher und klarer Sprache diskutiert, sondern auch mit der Leidenschaft eines Philosophen, der sich nicht mit dem scheinbar Selbstverständlichen zufriedengibt, das ist aller Ehren wert – und eine gute Anregung für alle, die jenseits des realpolitischen Common Sense an der Frage nach einer gerechten Gesellschaft interessiert sind.

    Norbert Hoerster: "Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung."
    C.H. Beck Verlag, 144 Seiten, 12,95 Euro, ISBN: 978-3-406-65293-6.