Engels: Anders als von Wirtschaftsminister Müller im Eckpunkte-Papier mit den Betreibern festgelegt, bestehen die Grünen ja darauf, die Höchstlaufzeit der Atomkraftwerke auf deutlich unter 35 Jahre nach Inbetriebnahme zu beschränken. Sie fordern weniger als 30 Jahre. Können Sie dem zustimmen?
Matschie: Ich glaube auch, daß die bisher vereinbarten Laufzeiten zu lang sind, denn es geht ja darum, einen Konsens zu finden, der nicht nur ein Konsens ist zwischen Bundesregierung und Atombetreibern, sondern ein Konsens, der auch in der Gesellschaft akzeptiert wird. Und wir haben eine Mehrheit in der Bundesrepublik, die gegen die Nutzung der Kernenergie ist. Also brauchen wir einen Konsens, der von dieser Mehrheit akzeptiert wird. 35 Jahre scheint mir da zu lang. Das würde ja bedeuten, die Kraftwerke könnten so lange laufen, wie sie unter normalen Bedingungen auch produzieren können. Das wäre kein Ausstieg.
Engels: Damit begeben Sie sich ja auf Konfrontationskurs zum Kanzler, nicht nur zum Wirtschaftsminister. Auch Kanzler Schröder hat ja angedeutet, den Zeitplan des Wirtschaftsministers grundsätzlich zu unterstützen. Krach zwischen Fraktion und Kanzler?
Matschie: Das ist kein Krach zwischen Fraktion und Kanzler, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden, die insgesamt akzeptiert wird, die von der Gesellschaft akzeptiert wird, die von der Bundestagsfraktion akzeptiert wird und natürlich auch von der Bundesregierung. Und ich glaube, daß bei 35 Jahren noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Engels: Nun hat gestern ja Wirtschaftsminister Müller erklärt, er wolle sein Konzept etwas den Grünen annähern, Stichwort ‚Beibehaltung der Sicherheitsstandards‘ Das ist ein erster Schritt. Wo sehen Sie denn die Chancen der Einigung innerhalb Ihrer Partei, mit dem Kanzler und mit den Grünen?
Matschie: Ich glaube, daß wir vor allem über die Laufzeit noch einmal reden müssen. Bei den Sicherheitsstandards ist es für mich sozusagen selbstverständlich, daß wir die Anforderungen der Technik da einhalten. Und die wirklich schwierige Frage, die noch zu lösen ist, ist die Frage: Wie lange laufen die Atommeiler in Deutschland noch? Ich glaube und wiederhole das noch einmal, daß der erste Reaktor in dieser Legislaturperiode vom Netz gehen sollte. Und ich glaube auch, daß 35 Jahre zu lang sind.
Engels: Kommt man da mit den Kraftwerksbetreibern nicht zu weit entgegen - nun hat Bundesumweltminister Trittin ja beispielsweise noch den Trumpf in der Hand, den Transport von Atombrennstäben weiterhin nicht zu erlauben – nicht einmal nicht in dieser Richtung mehr Druck ausüben auf die Kraftwerksbetreiber?
Matschie: Ich glaube, daß sich die Kraftwerksbetreiber bewegen müssen. Bei den bisherigen Verabredungen reicht mir das nicht aus, was die Kraftwerksbetreiber zugestanden haben. Aber wir wollen das ganze im Konsens versuchen. Diesen Versuch möchte ich noch nicht aufgeben, denn die Alternative wäre dazu eine über Jahre währende Auseinandersetzung zwischen Politik und Kraftwerksbetreibern mit massiven Protesten wieder auf der Straße. Ich wünsche mir das nicht. Ich wünsche, daß wir zu einem Konsens kommen, aber dann müssen sich die Kraftwerksbetreiber noch bewegen.
Engels: Noch vor der Sommerpause?
Matschie: Ich hoffe, daß das vor der Sommerpause noch gelingt. Mir wäre es auch recht, noch weiter zu verhandeln, wenn man bis dahin noch nicht zu einem Kompromiß gekommen ist. Wir sollten diesen Kompromiß auf jeden Fall suchen, denn – wie gesagt – die Alternative ist über lange Jahre Streit und Auseinandersetzungen. Und das ist nicht gut, für die Wirtschaft nicht gut und auch nicht gut für die Politik und für unser Land.
Engels: Dann stimmen Sie eigentlich mit den Forderungen der Grünen fast vollständig überein?
Matschie: Da gibt es eine sehr große Nähe zwischen unseren Standpunkten. Ich sehe das auch in der Fraktion, daß viele diese Auffassung teilen.
Engels: Vielen Dank, Christoph Matschie. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages. Mitgehört hat Michaele Hustedt. Sie ist energiepolitische Sprecherin von Bündnis 90/ Die Grünen. Guten Morgen.
Hustedt: Ja, Guten Morgen.
Engels: Frau Hustedt, es gibt eine große Nähe – hat Herr Matschie gerade gesagt. Nun scheint ja der Unterschied zwischen Fraktion – SPD und Grüne – nicht so groß zu sein, aber der Unterschied zum Kanzler ist gewaltig. Wieso können Sie sich nicht durchsetzen?
Hustedt: Im Kern – das hat Christoph Matschie ja eben auch gesagt – handelt es sich nicht um einen Konflikt in der Koalition oder zwischen den beiden Fraktionen SPD und Grüne, sondern im Kern geht es darum, daß wir eine Position finden, die dem Koalitionsvertrag entspricht, nämlich einen Ausstieg, aber gleichzeitig ja – wegen der Drohung – daß die Stromkonzerne eben auch in diesem Kompromiß einlenken. Und das ist das Kernproblem. Und da sagen wir: Man kann nicht den Maximalforderungen der Stromkonzerne – so wie sie auf dem Tisch liegen – immer nachgeben, sondern wenn es einen fairen Kompromiß geben soll, den die Gesellschaft dann akzeptiert, dann müssen auch die Stromkonzerne sich ein Stückchen bewegen. Die Grünen sind nun jetzt schon sehr weit von ihren ursprünglichen Forderungen fern. Und ich finde, ein fairer Kompromiß ist, daß beide Seiten sich aufeinander zubewegen. Und da haben nur wir uns bewegt, die Stromkonzerne noch nicht. Und darum geht es. Es ist mehr ein Konflikt – sage ich mal – der Regierung mit den AKW-Betreibern – und nicht so sehr ein Konflikt zwischen SPD und Grünen, denn das gemeinsame Ziel – den Atomausstieg – haben wir ja benannt.
Engels: Aber der Kanzler und Wirtschaftsminister Müller haben sich hinter das Eckpunkte-Papier, das Müller mit den Betreibern ausgehandelt hat, gestellt. Das heißt: Man verlangt noch mehr von den Grünen, daß sie sich bewegen sollen.
Hustedt: Müller hat erst einmal ausgelotet: Was ist mit den einseitigen Gesprächen, was ist mit den Stromkonzernen zu machen – und ist dann auf diese Position gekommen. Aber wie gesagt: Zum Kompromiß gehört eben eigentlich, daß sich die beiden Positionen, auf der einen Seite die aus der Geschichte gewachsenen Anti-AKW-Bewegung mit der Vertretung der Grünen einigen mit den Stromkonzernen. Das heißt, die beiden müssen aufeinander zugehen, und nicht nur Werner Müller und die Stromkonzerne. Das ist das Hauptproblem jetzt, und darum ringen wir. Ich hoffe immer noch, daß wir einen Konsens schaffen, weil – Herr Matschie hat das völlig richtig gesagt, und das ist auch meine Meinung -: Es wäre gut – nicht nur für die Politik, sondern auch für die AKW-Betreiber, für die Stromwirtschaft insgesamt, die Energiewirtschaft, denn das eigentlich moderne Thema ist nicht die Frage Atomausstieg. Atomkraftwerke sind sowieso ein Auslaufmodell in Deutschland; seit 10 Jahren wurde keines mehr gebaut, es ist auch keines geplant. Die eigentliche Frage, auf die sich alle Akteure konzentrieren müssen, ist: Wie erhalten wir möglichst viel Stromerzeugung im eigenen Land, obwohl wir in Europa einen Wettbewerb im Energiebereich jetzt haben und noch mehr bekommen werden.
Engels: Aber wenn Sie sagen, daß das ein Auslaufmodell ist: Warum brauchen dann die Grünen feste Ausstiegszeiten? Das Problem könnte sich doch auch von selbst erledigen. Ähnlich argumentiert ja auch Wirtschaftsminister Müller.
Hustedt: Das ist richtig. Aber wir geben, wenn wir diesen Vertrag unterschreiben wollen, den Herr Müller mit den Stromkonzernen besprochen hat, dann würden wir sehr viel geben, ja? Die AKW-Betreiber haben Probleme, sie haben kein solides Entsorgungskonzept. Jede Imbißbude wird in Deutschland sofort geschlossen, wenn Sie nicht sagen können, wohin mit dem Müll. Aber die AKWs werden betrieben, ohne daß sie solide nachweisen können, wohin mit dem Müll und wie er entsorgt wird. Man erwartet jetzt von uns, daß wir für den laufenden Betrieb den Atomkraftbetreibern dabei helfen – dazu sind wir auch bereit. Aber im Gegenzug muß dann eben auch der Ausstieg in dieser Legislaturperiode beginnen.
Engels: Sie sagen, Sie hätten sich weit genug bewegt. Nun hat ja Umweltminister Trittin noch die Karte in der Hand über das Mittel der Nichtgenehmigung von Atomtransporten, einen schnelleren Ausstieg zu erzwingen. Sollte er diese Karte spielen?
Hustedt: Nein, so geht das nicht. Ein Minister muß nach Recht und Gesetz agieren, und das tut auch Umweltminister Trittin. Das ist auch so ein Beispiel, wo die Stromkonzerne etwas aufblasen, wovon nicht die Rede ist. Die haben zur Zeit keine Genehmigung für ihre Behälter und auch keine Genehmigung für die Transporte. Und sie haben keinen einzigen Genehmigungsantrag bisher gestellt. Sie tun aber so, als ob es Umweltminister Trittin wäre, der ihnen aus Beweggründen des Atomausstiegs Transporte verweigert. Nein, es ist anders. Sie haben da ein Problem, nämlich daß wir – wie Sie wissen – teilweise mit der Sicherheit der Transporte – es gab ja einen Riesenskandal – noch nicht aufgearbeitet ist. Das hat also nichts damit zu tun, daß man wegen Atomausstieg Transporte verhindert.
Engels: Am kommenden Mittwoch setzen sich ja Kanzler, Wirtschaftsminister und Umweltminister Jürgen Trittin wieder zusammen, um sich eben über den Ausstieg zu einigen. Muß sich denn jetzt der arg gescholtene Umweltminister, der ja auch stark in der Kritik aus den eigenen Reihen steht, hier nicht unbedingt durchsetzen? Ist das nicht die letzte Chance für Jürgen Trittin, um grünes Profil überhaupt noch zu zeigen?
Hustedt: Nein. Jürgen Trittin wird mit Werner Müller und Schröder darüber sprechen, und ich glaube, die Einsicht ist auch bei Bundeskanzler Schröder gewachsen, daß das etwas ist, wo man in besonderem Maße darauf achten muß, was der kleinere Koalitionspartner sozusagen noch bereit ist, mitzugehen. Das ist unser Gründungsthema. Gerade die grüne Partei ist mit diesem Thema groß geworden, und Umweltminister Trittin steht in dieser Frage überhaupt nicht allein. Er hat die absolut vollständige Unterstützung von Fraktion und auch von der Partei, vom Parteivorstand.
Engels: Ein zweiter Streit zwischen rot-grün betrifft ja die finanzielle Unterstützung für zwei Atomkraftwerke in der Ukraine im Rahmen der G7-Gruppe. Die Entscheidung darüber ist erst einmal ausgesetzt. In der kommenden Woche fliegt Bundeskanzler Schröder in die Ukraine, um Alternativen zu finden. Sie selbst haben mit an dem Vorschlag gearbeitet, die Gelder nicht zur Finanzierung von Atomkraftwerken, sondern zur Sanierung der Kohlekraftwerke in der Ukraine einzusetzen. Warum sollte die Ukraine dem zustimmen?
Hustedt: Also, zunächst ist es ja kein Streit zwischen der Koalition. Da haben wir einen gemeinsamen einstimmigen Antrag der SPD und der grünen Fraktion. Wir sind uns da einig. Das Problem ist, daß dies Verfahren ja eine Altlast der alten Bundesregierung ist, und das Genehmigungsverfahren ist schon sehr, sehr weit fortgeschritten . . .
Engels: . . . ja, und der Bundeskanzler steht bei der G7-Gruppe nach wie vor im Wort . . .
Hustedt: . . . ich sage ja, das ist das Problem. Was wir jetzt machen, ist: Wir müssen etwas konkretes mitbringen, sonst können wir die Ukraine nicht überzeugen. Und das ist eben dieser Vorschlag, den wir zur Zeit erarbeiten. Die Kohlekraftwerke werden effizient produzieren und auch einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Und dieses ist auch noch billiger als wenn die AKWs gebaut werden. Es ist eine kleine Chance, aber uns ist das Thema so wichtig, daß wir gesagt haben: Auch wenn es nur noch eine kleine Chance gibt – wir wollen da wirklich drum ringen und wollen ein gutes Angebot für die Ukraine mitbringen. Vielleicht – hoffentlich – können wir sie mit diesem guten doch noch überzeugen.
Engels: Das war Michaele Hustedt, energiepolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Vielen Dank für das Gespräch.