Forudastan: Haben wir dieses Jahr eine besonders dicke Packung von Politikerappellen zu Tugenden mit auf den Weg bekommen?
Sutor: Das kann man wahrscheinlich sagen, ja. Ich führe es zurück auf die große Koalition und auf den Versuch, sie beim Volk populär zu machen und das Volk einzustimmen auf das, was verlangt wird an Einschränkungen, Anstrengungen, um die Krise zu überwinden.
Forudastan: Aber nun sind diese Tugenden ja etwas sehr Allgemeingültiges, etwas, was eigentlich immer passt. Wieso jetzt gerade in diesen Zeiten?
Sutor: Wenn man die Dinge sehr kritisch betrachtet, könnte man vielleicht sagen, es ist auch eine gewisse Verlegenheit der Politiker angesichts der Tatsache, dass man die Lösungen nicht hat, zunächst einmal allgemein zu bleiben und an die Bürger zu appellieren, an ihre Bereitschaft mitzuarbeiten, die Einschränkungen mitzutragen, die zu erwarten sind. Einerseits kann man ja verstehen, in den Feiertagen - es soll der Tageskampf schweigen, es soll nicht um die zu Tage liegenden Probleme gehen, sondern um dass, was ihnen zu Grunde liegt. Das sollen Tage der Besinnung sein. Von daher hat man ein gewisses Verständnis für diese Worte. Andererseits muss man freilich Bedenken formulieren. Politik soll ja nicht Moral predigen. Und das ist ein bisschen viel gewesen in den letzten Wochen.
Forudastan: Könnte man das so zuspitzen, dass diese Appelle an die Moral oder an die Tugenden von der Seite der Politiker so etwas wie eine Flucht ins Unkonkrete, Verwaschene, wenig Greifbare und damit auch nicht Einklagbare sind?
Sutor: Das kann man so interpretieren. Ich würde es so negativ nicht sehen. Wenn ich gesagt habe, Politik soll nicht Moral predigen, sie soll die gemeinsamen Probleme der Gesellschaft angehen, dann heißt das ja nicht, dass sie nichts mit Moral zu tun hätte. Es muss schon eine gewisse Bereitschaft in der Breite der Bürgerschaft da sein, mitzudenken und auch mitzutragen, was sich auch als notwendig herausstellt. Insofern ist ein Appell auch an solche Grundeinstellungen verständlich. Aber es darf dabei nicht bleiben und man hätte sich wünschen können, in den Ansprachen, dass die Verbindung zwischen diesen allgemeinen Einstellungen, die man Tugenden nennt und der Problemlösung, deutlicher gezeigt worden wäre. Das wäre ja eigentlich die Aufgabe der Politik, zu zeigen, was sie vor hat an konkreteren Schritten.
Forudastan: Heißt das, die Politiker, also zum Beispiel Herr Köhler oder Frau Merkel oder Herr Platzeck, die hätten eine Linie ziehen müssen von "Du, Bürger musst verantwortungsbewusster, engagierter und genügsamer sein, damit wir weniger Arbeitslose demnächst haben"?
Sutor: Ja, das ist eine sehr kurz gezogene Linie, wie Sie es jetzt formulieren, aber es gibt solche Verbindungen natürlich. Wie gesagt, die Politik muss sich um Problemlösungen kümmern, sie muss Strukturen bearbeiten, sie muss im Rahmen der Institutionen Lösungsvorschläge machen und durchsetzen. Aber das erfordert eine gewisse Bereitschaft der Bürger, da mitzugehen, mitzudenken und Einsicht zu zeigen in das, was notwendig ist und nicht einfach nur sich in den partikularen Interessenkämpfen zu ergehen.
Forudastan: Das beliebteste Forum für Politikerappelle an die Tugenden das sind ja nach wie vor die Ansprachen im Fernsehen, also Weihnachtsansprachen, Neujahrsansprachen und da gibt es eine sehr große Zuschauergemeinde. Diese Jahr waren es bei Herrn Köhler 11,7 Millionen. Heißt so viel Interesse auch eine große Aufnahmebereitschaft für diese Appelle an Tugenden?
Sutor: Die Feiertagsstimmung mag vielleicht dafür eine größere Bereitschaft beibringen als der Alltag. Ich weiß es nicht recht, aber man darf sich nicht so viel davon erwarten. Zwei, drei Tage später hat uns der Alltag wieder und die kurzatmigen Diskussionen und Sorgen um den Alltag - das wirkt nicht sehr tief. Noch einmal: Ich halte nicht sehr viel davon, obwohl ich ein gewisses Verständnis dafür habe, dass Politik an die Moral der Bürger appelliert. Wir brauchen sicher einen gewissen Grundpegel von gesellschaftlicher Moral. Aber das Moralische der Politik steckt eigentlich in den Regeln, die wir uns gemeinsam gegeben haben, in den Institutionen. Deren Sinn zu erfüllen und in deren Rahmen um Problemlösungen zu kämpfen, das ist eigentlich die moralische Aufgabe der Politik.
Forudastan: Könnte es sogar sein, dass diese Appelle an Tugenden auch den Überdruss an politischen Predigten, wie man das vielleicht auch nennen kann, eines Teiles der Bürger, verschärfen, also dass die im Grunde genommen fast das Gegenteil bewirken?
Sutor: Ein bestimmter Teil der Bürgerschaft wird sicher so reagieren. Man weiß ja, manche schalten sofort ab, "Jetzt kommen die wieder mit diesem Gerede - da kommt ja nichts bei raus - das mag ich nicht hören", andere nehmen es nicht recht auf oder nur mit einem Ohr. Ich glaube, es ist nur ein Teil der Bürger bereit, da genau zuzuhören und sich Gedanken zu machen. Und insofern ist es auch problematisch, dass dieses moralpolitische Predigen so zunimmt. Es gehört eigentlich woanders hin. Der Aufbau von Moral gehört in die Erziehung, gehört in Schulen und Kirchen.
Forudastan: Bernhard Sutor, emeritierter Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, herzlichen Dank für das Gespräch.
Sutor: Bitte schön.