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Der Berliner Kinderbuchautor Salah Naoura
"Humor ist für mich absolut überlebensnotwendig"

Schriftsteller Salah Naoura greift in seinen Kinderromanen zeitnah die Konflikte seiner jungen Zielgruppe auf und verpackt diese mit schrägen Figuren und mit Komik in dramaturgisch spannende, bildstarke Geschichten. Bekannt geworden ist er durch sein Kinderbuch "Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums".

    Zwei Buchcover des Berliner Autors Salah Naoura
    Zwei Kinderromane des Berliner Autors Salah Naoura (Beltz & Gelberg)
    Eine Familie aus Deutschland sitzt obdachlos und ohne finanzielle Mittel in einem finnischen Wald und weder Matti, noch Sami, noch die Eltern haben eine Ahnung, wie es nun weitergehen soll. Schuld an dem ganzen Dilemma sind mehrere wohlgemeinte, aber eigentlich völlig katastrophale Lügen. Eine weitere Figur namens Henrik-Torben trifft seinen Doppelgänger in der Welt der Superhelden und muss feststellen, auch hier wird nur mit Wasser gekocht. Antons Familie schließlich entscheidet sich für eine Adoption, aber kein Baby stiehlt ihm die Show, sondern ein hochbegabter indischer Junge in seinem Alter.
    Der Berliner Autor Salah Naoura folgt in seinen Büchern den Erzählkonventionen des realistischen Romans. Trotz des wirklichkeitsnahen Handlungsverlaufs kippt die Handlung oft ins Fantastische oder ins total Überspitzte und unterhält den Leser mit literarischem Slapstick.

    "Humor ist für mich absolut überlebensnotwendig, sowohl im realen Leben als auch in der Literatur. Ich finde ohne Humor kann man gar nicht zurechtkommen, weil es einfach zu viele schreckliche Dinge gibt. Aber jedes Ding hat zwei Seiten, man kann auch in schrecklichen Situationen, wenn man möchte, etwas Humorvolles finden und umgekehrt und das ist meine persönliche Lebenserfahrung und deswegen fließt das natürlich in die Literatur ein. Das Tolle am Humor ist, dass man schwierige Themen leicht erzählen kann, ich möchte eigentlich vor keinem Thema zurückschrecken, eben auch Krankheit und Tod, aber mit Humor lässt sich eben alles wunderbar verpacken."
    Tiefe Löcher und manche Erkenntnis
    Salah Naoura:
    "Manche Familien haben seltsame Angewohnheiten. Jeden Freitag Fischstäbchen mit Ketchup zu essen, zum Beispiel. Oder nachts heimlich das Laub aus dem eigenen Garten über den Zaun zu den Nachbarn rüberzuwerfen. Manche sind nur glücklich, wenn sie sich streiten. Manche telefonieren lieber, anstatt zu reden."
    Die seltsame Angewohnheit der Familie Gruber war, Löcher zu graben. Tiefe Löcher.
    Salah Naoura:
    "Die Themenfindung ist das schwierigste, das ist echt schwer zu erklären. Ich habe manchmal so merkwürdige Einfälle. Ich habe, zum Beispiel, irgendwann abends im Bett gelegen und habe gedacht, ich möchte eine Geschichte schreiben über einen Jungen, der in einem Loch sitzt. Aber wie ich darauf komme, ist schwer zu sagen. Was natürlich schon eine Rolle spielt, ist, dass ich vielleicht von Büchern oder Filmen, die ich toll finde, eher so unbewusst Stimmungen aufnehme, die sich dann verwandeln und in meinen Stoffen wieder zurückkehren."
    Im Kinderroman "Hilfe! Ich will hier raus!" aus dem Jahr 2014 sitzt der zehnjährige Henrik Gruber verloren in einem tiefen Loch in seinem Garten. Seit die streitsüchtige Oma Cordula eine ziemlich seltsame Geschichte von einem Schatz erzählt hat, zeigt jeder in der Familie Gruber so nach und nach sein wahres Gesicht. Auf diese schräge Idee muss man erstmal kommen. Dabei scheut sich Salah Naoura nicht, ernsthafte Konflikte in der Gesellschaft oder in der Familie anzusprechen, z.B. die Verlogenheit von Talentshows, den Leistungsdruck des Wettbewerbs, Verrat unter Freunden, Gier nach Reichtum, den Tod naher Angehöriger oder die immense Erwartungshaltung der Eltern.
    "Ich bin total schlecht in Sport", gesteht Flashboy, "deswegen regt mein Vater sich immer so auf." Das kann doch wohl nicht wahr sein! Torben-Henriks Weltbild stürzt in sich zusammen wie ein gesprengtes altes Haus. "Aber deine Heldentaten! Da gibt es doch eine superlange Liste, die steht sogar im Internet!"
    "Die ist leider gelogen. Papa erzählt überall herum, was für tolle Taten ich angeblich begangen habe. Hab ich aber gar nicht. Ich … ich bin ein ganz miserabler Held."
    Kein Kinderbuch ohne Helden
    Im aktuellen Roman "Superflashboy" wird Torben-Henrik aus der realen Welt in die Superheldenwelt von Hero-City entführt. Dort entdeckt er, dass er seinem Comicvorbild Flashboy total ähnlich sieht - und das liegt daran, dass Flashboys Eltern sich ausgerechnet Torben-Henrik als genetisches, menschliches Vorbild aus dem Kinderwunsch-Katalog ausgesucht hatten. Flashboy wurde gescannt und per 3D-Drucker zum Leben erweckt. Beide Jungen beschließen nun, ihre Rollen zu tauschen. Und so konfrontiert Salah Naoura den sportlichen, aber unmusikalischen Torben-Henrik mit der hochtechnisierten Superheldenwelt und Flashboy, der Japanisch spricht und virtuos Klarinette spielt, mit der Lebenswirklichkeit von Torben-Henrik.
    Salah Naoura:
    "Bei "Superflashboy", da hat mich auch das Comichafte so gar nicht interessiert, sondern die Parallelwelt. Das finde ich toll, und es geht auch nicht nur darum, seinen persönlichen Helden zu treffen. Es geht darum, dass man in eine andere Welt kommt, verändert wird, durch das Reiben der beiden Welten aneinander. Und dass natürlich auch der Held in der Menschenwelt Schwierigkeiten hat und umgekehrt der Mensch in der Heldenwelt genauso, und dass sie dann verändert wieder zurückkehren in ihre eigenen Welten und dann mehr diejenigen sein können, die sie eigentlich sind. Es findet eine Läuterung statt in dieser Parallelwelt und das hat mich interessiert."
    Mit Wortwitz erzählt Salah Naoura von den kleinen Helden Flashboy alias Thorben-Henrik, Catgirl, Kungfuboy, Elektroboy und Spiderboy. Die idealisierte Spiegelwelt ist jedoch alles andere als vollkommen und so legen sich die Kinder mutig mit dem selbstherrlichen Bürgermeister Dr. Glibber an.
    Salah Naoura:
    "Und natürlich ist das so ein bisschen so eine Enthronisierung der Heldenwelt, das finde ich auch sehr lustig und dann wollte ich natürlich gerade in der Heldenwelt so Anspielungen machen auf politische Aspekte, auf soziale Dinge in der Gesellschaft, auf Trump zum Beispiel, Dr. Glibber ist eindeutig Herr Trump, ja, das macht mir Spaß."
    Über Jungen in der Vorpubertät schreibt es sich einfach besser
    Auffällig bei Salah Naouras Kinderbüchern ist neben seinem zeitdiagnostischen Blick, dass oftmals Jungen den Handlungsverlauf der Geschichten bestimmen.
    Salah Naoura:
    "Meine Hauptfiguren sind deswegen Jungen, weil ich ein Junge war, das ist eine Binsenweisheit. Und ich denke, es gibt so viele Autorinnen, und ich finde es gerade schön, als Autor mehr Jungen in den Mittelpunkt zu stellen und dass Jungen diese Figuren dann auch gut finden und das dann auch lesen. Ich habe einmal ein Buch geschrieben, wo ein Mädchen im Zentrum war, das war "Tante Mel wird unsichtbar" und das ist, ich weiß auch nicht warum, fast nicht gelesen worden."
    Eingebettet in den ganz alltäglichen Lebensrhythmus handeln Salah Naouras Figuren nie völlig eigenständig, sie sind immer an ihr Umfeld gebunden und dazu gehören ganz selbstverständlich Mütter, Väter, Lehrer oder Verwandte. Zwar arbeitet der Berliner Autor pointiert die Schwächen, Wünsche und Abgründe der Erwachsenen heraus, gibt sie aber nie der Peinlichkeit preis.
    Salah Naoura:
    "Für meine Geschichten oder für das, was ich erzählen will, ist absolut wichtig, dass die Kinderwelt von der Erwachsenenwelt bestimmt wird. Dass Kinder sich in ihrer Welt irgendwie einrichten müssen und sich dazu verhalten müssen. Und ich möchte auf jeden Fall immer zeigen, dass auch Erwachsene nicht autonom sind, doch wiederum auch abhängig sind, z.B. vom Arbeitgeber, von einer Marktsituation, von irgendwelchen Zwängen, denen sie ausgeliefert sind und das wiederum wirkt sich auch auf die Kinder aus. Was mich interessiert ist, was für Strategien entwickeln Kinder und wie machen sie es dann in meinen Geschichten, um mit den Vorgaben der Erwachsenenwelt klarzukommen."
    Konsequent erzählen meistens Kinder im Alter zwischen 8 und 11 Jahren, das heißt, Salah Naoura klammert in seinen Büchern die Zeit der Adoleszenz aus.
    Salah Naoura:
    "Das ist so ein Alter, wo einfach die kindliche Seele in Parallelwelten unterwegs ist. Und ich glaube, diese Parallelwelten interessieren mich, wie denken Kinder, in welche Welten flüchten sie sich, wenn sie mit der Realität vielleicht nicht klar kommen. Und das sind einfach Erfahrungen, die ich als Kind selber gemacht habe und an die ich mich gut erinnern kann, deswegen interessiert mich dieses Alter besonders."
    Inspiration durch Erinnerung
    Erinnertes und Autobiografisches taucht immer wieder in Salah Naouras Geschichten auf, z.B. bei "Matti und Sami". Beide Jungen haben einen finnischen Vater, sprechen aber kein Wort Finnisch. Auch Salah Naoura hat die Sprache seines Vaters, der aus Syrien stammt, nicht gelernt und er hat selbst erlebt, dass seine Eltern ihm als Kind erzählt haben, sie würden angeblich für bedrohte Tiere spenden. Allerdings haben sie es nie getan und somit, wie die Eltern von Matti und Sami, gelogen. Salah Naouras Vater war der Meinung, dass ohne sportliche Erfolge und sehr gute Mathekenntnisse der Sohn sicher bei der Müllabfuhr landen würde. Diese Kindheitserinnerung nimmt Salah Naoura in seinem Roman "Dilip und der Urknall und was danach bei uns geschah" aus dem Jahr 2013 auf. Hier steht ein ehrgeiziger Vater im Mittelpunkt, der seinen neunjährigen Sohn Anton und seinen Adoptivsohn Dilip zu Höchstleistungen, z.B. beim Fußballspiel antreibt. Als seine Erwartungen nicht gleich erfüllt werden, fällt dem hilflosen Vater nur eine Lösung ein.
    "Hast du die Quittung noch? Wenn er nicht spielt, geh ich ihn umtauschen!" Papa ist Weltmeister im Umtauschen. Er hat bestimmt schon alles umgetauscht oder zurückgebracht. Einmal sogar eine Lammkeule. "Du hast den Ball doch gekauft", sagte Mama. "Also musst du die Quittung haben."
    "Ich meine nicht den Ball, sondern den Jungen." Papa macht manchmal seltsame Witze, bei denen man nicht kapiert, ob es ein Witz ist oder nicht.
    Salah Naoura:
    "Bei "Dilip und der Urknall" geht es nicht nur um die Vaterfigur, was jetzt das Autobiografische anbelangt, auch um Schulerfahrungen. Es wird natürlich alles, wie in all meinen Büchern total überspitzt. Das ist für mich ein probates Mittel, um Dinge klarzumachen."
    Der Spaß am Absurden im täglichen Leben
    Salah Naoura gibt gern zu, dass seine langjährige Übersetzerarbeit aus dem Schwedischen und Englischen ihn in seinem Schreiben auf jeden Fall beeinflusst hat, besonders wenn es um die Kinderbücher der britischen Autoren David Walliams oder Frank Cottrell Boyce geht.
    Salah Naoura:
    "Ich ziehe gern Dinge ins Extreme, aber auf eine andere Art als zum Beispiel Walliams. Walliams ist mir in vielen Dingen zu hart, er überschreitet oft meine Grenzen des guten Geschmacks, deswegen übersetze ich den auch nicht mehr. Aber Roald Dahl zum Beispiel hat auch immer sehr stark übertrieben und hatte auch einen sehr schwarzen Humor, aber er stand für mich immer auf der Seite der Kinder. Cottrell Boyce hat mich sehr beeinflusst, die Art, wie er erzählt, die Atmosphäre, das kommt einfach automatisch, wenn man einen Autor gut kennenlernt, dass man Dinge, die man gut findet, ja, dann auch übernimmt."
    Im allerneuesten Kinderbuch "Der Ratz-Fatz-x-weg 23" überlagern sich humorvoll mehrere Themen, zum einen lehnen sich die Hauptfiguren gegen die Autorität des Direktors auf und sie stellen die bunte Werbewelt mit ihren Versprechungen an die hörigen Konsumenten in Frage. Zum anderen steht wieder eine Lügengeschichte im Zentrum der Handlung und somit ….
    Salah Naoura:
    "… die Macht und Magie des Erzählens, darüber wollte ich gern was schreiben. Ich wollte auch gern mal einen erwachsenen Protagonisten in den Mittelpunkt stellen, wie diesen Rektor Glauber, und den sich sehr, sehr kindlich verhalten lassen. Quasi so die Rollen umdrehen, die Kinder, die die Geschichte erzählen, die Kinder kommen ja immer jede große Pause zu dem Rektor ins Büro und müssen diese Geschichte erzählen. Er hat sich das als Strafe ausgedacht, weil die Kinder wahrscheinlich gelogen haben. Und der Witz an der Geschichte ist für alle Beteiligten, dass diese Erzählsituation, die ja als Strafe gedacht war, immer besser wird. Dann sogar die Pause verlängern und sowohl die Kinder als auch der Direktor diese Geschichte sehr genießen. Und ich wollte einfach zeigen, dass Literatur etwas macht mit Menschen."
    Und das spüren auch die jungen Leser, die sich mit den Protagonisten trotz der schrägen Geschichten identifizieren und solidarisieren können. Immer stärkt Salah Naoura seinen Figuren den Rücken und so schreibt Anton weiterhin die Grimmschen Märchen um, auch wenn sein Vater das nicht wertschätzt, und Henrik Gruber interessiert sich nicht für Goldbarren, sondern für die wissenschaftliche Seite des Grabens. Nie verlässt Anton, Dilip, Matti oder Torben-Henrik der Mut, unbeirrt vertrauen sie selbstbewusst ihren Talenten und verfolgen unangepasst ihre Ziele. Und so enden alle Kinderromane von Salah Naoura versöhnlich märchenhaft und sogar die kreativsten Lügen werden noch belohnt. Das mögen Eltern vielleicht nicht, für Kinder jedoch ist es ein vergnügliches Leseerlebnis.
    Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums
    Taschenbuch, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2018, 152 Seiten, 9,95 EURO
    Der Ratz-Fatz-x-weg 23
    Beltz & Gelberg, Weinheim 2018, 209 Seiten, 12,95 EUR
    Hilfe! Ich will hier raus!
    Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2014, 160 Seiten, 12,95 EURO
    Superflashboy
    rowohlt Rotfuchs, Hamburg 2018, 176 Seiten, 12,95 EURO
    Dilip und der Urknall und was danach bei uns geschah
    Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2012, 176 Seiten, 12,95 EURO
    Tante Mel ist unsichtbar
    Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2011, E-Book, 9,99 EURO