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Der besondere Fall
Erst Nierensteine, dann Depressionen

Die Nierensteine waren nur der Anfang: Für einen 54-jährigen Italiener waren sie Auftakt zu einer außergewöhnlichen Krankengeschichte. Sie brachten Depressionen und auffällige Kalziumwerte mit sich, bevor mit einer OP Linderung kam.

Von Mirko Smiljanic | 15.09.2015
    Mann mit gesenktem Haupt sitzt auf einer grünen Parkbank in Berlin.
    Mit sinkendem Kalziumspiegel verschwanden auch die Depressionen (imago/imagebroker)
    August 2014, der Urlaub des 54 Jahre alten Italieners in seiner Heimat ist vorbei. Die Koffer sind gepackt und im Wagen verstaut, eigentlich steht der Rückfahrt nach Dortmund nichts im Wege - fast nichts.
    "Dann kriegte ich Rückenschmerzen, da habe ich mir nicht viel bei gedacht."
    Warum auch, wer hat heute keine Rückenschmerzen. Doch diese Schmerzen haben eine andere Qualität.
    "Und als ich wieder zurückgekommen bin, zwei Wochen später kriegte ich Schmerzen, die ich nicht mehr aushalten konnte, und dadurch bin ich ins Krankenhaus gekommen, und da hat man festgestellt, dass ich Nierensteine hatte."
    Kein Bandscheibenvorfall, kein Hexenschuss - fünf Nierensteine verursachen die unerträglichen Schmerzen.
    "Einen haben sie rausoperiert und vier Stück habe ich noch zusätzlich rausgepinkelt."
    Alles gut? Leider nein! Für den Italiener beginnt eine unglaubliche Krankengeschichte. Wenige Wochen nach der erfolgreichen Nieren-OP in der Abteilung für Urologie im Klinikum Dortmund stellen sich ganz andere Symptome ein.
    "Dann kriegte ich Probleme mit meiner Psyche. Ich hatte Angstgefühle, panische Angst, Unruhe am ganzen Körper, ich konnte nicht mehr schlafen."
    Innere Unruhe und Panikattacken sind so heftig, dass er einen Psychiater aufsucht: Der 54-Jährige bekommt Medikamente und wird krankgeschrieben.
    "Das einzige, was mich beruhigt hat, ich bin jeden Tag, 13, 14 Stunden mit dem Auto gefahren, nach Köln, nach Frankfurt, nach Oberhausen, überall fast und das ging gute zwei Monate."
    Dann war Schluss mit den Touren. Sein Psychiater überweist ihn zur stationären Behandlung in die LWL-Klinik Dortmund, einem psychiatrischen Spezialkrankenhaus. Nach langen Gesprächen diagnostizierten die Ärzte eine Depression. Drei Wochen behandeln sie ihn, er bekommt Psychopharmaka und Gesprächstherapien - nichts hilft.
    "Bis eines Nachts, da habe ich dann Blut gepinkelt, daraufhin haben sie mir dann Blut abgenommen und zur Untersuchung gegeben, und dann haben sie festgestellt, dass mein Kalziumgehalt viel zu hoch war."
    Zu hoher Kalziumspiegel
    Kalzium ist gemeinsam mit Phosphor das wichtigste Baumaterial für Knochen und Zähne. 99 Prozent dieses Minerals sind dort gespeichert, der Rest befindet sich gelöst im Blut und im Gewebe. Ist der Kalziumgehalt im Blut zu hoch, besteht die Gefahr von Nierensteinen, genau das hat der in Dortmund lebende Italiener ja Wochen vorher erlebt. Nun leidet er also an zwei Krankheiten: an einer schweren Depression und an einem zu hohen Kalziumspiegel im Blut. Weil hohe Kalziumwerte akut behandelt werden müssen, überweisen die Psychiater ihren Patienten zurück ins Klinikum Dortmund.
    "Die Niere haben sie mir noch mal geröntgt und untersucht, mehrere Mal Blut abgenommen und untersucht, der Kalziumgehalt war einfach viel zu hoch, es ging nicht runter."
    Gleichzeitig verschlechtert sich der psychische Zustand des Patienten immer mehr - die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Bis einer der Mediziner ihn ein paar Türen weiter in die Abteilung für endokrine Chirurgie schickt, einer Fachrichtung, die Erkrankungen der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen und der Nebennieren behandelt. Dort untersuchen Ärzte zunächst die Schilddrüse des Mannes mit einem Ultraschallgerät - und werden fündig.
    "Neben der Schilddrüse sah man dann rechts oben, dass da praktisch noch so ein Knoten saß, der gehört da normalerweise nicht so hin."
    Oberarzt Dr. Josef Obermeier, Leiter der Sektion für endokrine Chirurgie.
    "Dann habe ich den Patienten noch zu Frau Hamami geschickt, das ist unsere Nuklearmedizinerin, und die hat dann noch mal eine bestimmte Untersuchung gemacht, eine nuklearmedizinische Untersuchung, eine MIBI-Szintigraphie, und da hat man dann auch gesehen, dass es an einer bestimmten Stelle leuchtet auf der rechten Seite, und da wussten wir, okay, das ist doch jetzt die kranke Nebenschilddrüse."
    In der sich auf dem MIBI-Szintigramm ein kleiner Tumor abbildet. Letzte Gewissheit bringt die Bestimmung des Parathormon-Spiegels im Blut.
    "Das Parathormon sorgt dafür, dass im Knochen zum Beispiel die Abbauzellen dafür sorgen, dass Kalzium aus dem Knochen mobilisiert wird und dann im Blut vorhanden ist, also parat ist."
    Es sind extrem fein aufeinander abgestimmte Regelkreise, die dafür sorgen, dass der Kalziumgehalt weder zu hoch noch zu niedrig ist. Entscheidende Bedeutung hat dabei das Parathormon, und davon gibt es beim Patienten ein Überangebot: Die Nebenschilddrüsen produzieren es, zusätzlich aber auch der Tumor.
    "Dann haben wir den Patienten am 16.12. operiert, in Vollnarkose operiert, einen kleinen Schnitt gemacht in der Halsmitte, dann die Schilddrüse zur Seite gedrängt und oben dann den Tumor aufgesucht, der Tumor war so zweimal ein Zentimeter groß."
    Ein Tumor der Nebenschilddrüse
    Tumore der Nebenschilddrüse sind extrem selten und in aller Regel nicht bösartig - das ist die eine gute Nachricht. Die zweite ist, dass sich der Erfolg des Eingriffs noch während der Operation mit einem Schnelltest nachweisen lässt. Sobald der Tumor entfernt worden ist, fällt binnen weniger Minuten die Konzentration des Parathormons um mehr als die Hälfte.
    "Die Ursache hierfür ist, dass das Parathormon nur eine Halbwertzeit von etwa zwei Minuten hat."
    Und tatsächlich, der Parathormonwert des italienischen Patienten pendelten sich schon während der Operation auf den Normalwert ein, der Kalziumspiegel sinkt innerhalb der nächsten zwei Tage ebenfalls.
    Und die Depression? Die verschwand auch! Die biochemischen Zusammenhänge zwischen Kalziumspiegel und Depressionen sind noch weitgehend unbekannt, dass es sie gibt, wissen Mediziner aber schon seit mehr als 40 Jahren.
    "Es gibt Berichte über Patienten/Patientinnen, die lange Jahre in der Psychiatrie waren und man sie auf Depressionen oder Angstzuständen bis hin zu Psychosen behandelt hat, bis jemand mal erkannt hat, oh, der Kalziumwert ist ja seit Jahren erhöht und dann einfach die Nebenschilddrüse rausoperiert."
    "Ich merke das jede Woche, es wird immer besser mit der Psyche! Die Angstgefühle sind weg, ich kann auch wieder essen und trinken, ich geh wieder arbeiten, ich habe jetzt einen geregelten Lebensablauf, den ich drei, vier Monate nicht mehr hatte."