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Der Besuch des Leibarztes

Schwer lässt sich ein historischer Stoff denken, der romanhafter wäre als die Geschichte von Aufstieg und Fall des Leibarztes Friedrich Johann Struensee am königlichen Hof zu Kopenhagen. Kaum zwei Jahre, von 1770 bis 1772, dauerte das Regime des Reformers aus Altona, und wenn es Struensee auch nicht gelang, den Wahnsinn des Kindkönigs Christian VII. zu kurieren, so avancierte er doch binnen kurzem zum Liebhaber der Königin, der englischen Prinzessin Caroline Mathilde und zeugte mit ihr ein Kind, das der Volksmund "la petite Struensee" taufen sollte. Wer den König zum Patienten und die Königin zur Geliebten hat, darf auf politischen Einfluss hoffen. Struensee nutzte diesen Einfluss zu einer anderen Kur, einer Radikalkur am dänischen Staat und Hof. In mehr als 600 selbst verfassten und unterschriebenen Verordnungen revolutionierte er das feudale und marode Staatswesen auf eine so radikale Weise, dass ihn die herrschende Adelskaste zum Todfeind erkor und ihn schließlich mit Hilfe einer Intrige aufs Schafott beförderte. Doch selbst Struensees Feinde konnten nicht verhindern, dass jene Begebenheit am dänischen Hof als "Struenseezeit" in die Geschichte einging und von Voltaire bis Goethe die Geister erregte. Ein anderes Wort für "Struenseezeit" ist Aufklärung. Hätte Struensee seine Aufklärung nur etwas weniger kühn, rasch und rücksichtslos betrieben, dann hätte die europäische Geburtsstunde von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wohl schon 1772 in Kopenhagen geschlagen.

Christoph Bartmann | 18.02.2001
    Per Olov Enquist, der große schwedische Romancier und Dramatiker, ist ein Fachmann für historische Dokudramen. Er sichtet die Quellen, erzählt, wie es war und wie es gewesen sein könnte und nimmt sich jederzeit die Freiheit zum Kommentar und zur Betrachtung. "Der Besuch des Leibarztes" ist weniger ein historischer Roman als ein literarischer Essay, ein Versuch der historischen Vergegenwärtigung mit erzählerischen Mitteln. Zu Enquists Freiheiten gehört, dass er erst nach 100 Seiten mit Struensees Geschichte beginnt. Wie kann es geschehen, möchte man zu diesem Zeitpunkt dringend wissen, dass ein junger, gänzlich unbekannter und obendrein noch deutscher Arzt zum mächtigsten Mann von Dänemark aufsteigt? Alles fängt damit an, dass der geistig verwirrte König auf einmal eine Europareise zu unternehmen wünscht; und das geht, darin sind sich seine Berater ausnahmsweise einig, nicht ohne Leibarzt:

    "Nachdem der König den Raum verlassen hatte, waren Guldberg und Graf Rantzau zurückgeblieben. Rantzau hatte Guldberg gefragt, warum er so auffallend nachdenklich sei.

    ´Wir können die Reise des Königs ohne Sicherheitsmaßnahmen nicht zulassen', hatte Guldberg nach einer Weile des Zögerns gesagt. ‚Das Risiko ist allzu groß. Seine Nervosität...seine plötzlichen Wutanfälle...es würde unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.'

    ‚Wir brauchen einen Leibarzt', hatte Graf Rantzau da vorgeschlagen. ‚Der ihn beaufsichtigen kann. Und beruhigen.'

    ‚Aber wer?'

    ‚Ich kenne einen sehr tüchtigen Arzt'', hatte Rantzau gesagt. ‚Gebildet,, Praxis in Altona. Spezialist für Pockenimpfungen. Er ist Deutscher, die Eltern sind fromme Pietisten, sein Vater Theologe. Er heißt Struensee. Sehr tüchtig. Sehr tüchtig.'

    ‚Ein Freund?' hatte Guldberg mit ausdruckslosem Gesicht gefragt. ‚'Einer ihrer Protegés?'

    ‚Genau'.

    ‚Und von Ihren ... Aufklärungsideen beeinflusst?'

    ‚Ganz unpolitisch', hatte Rantzau erwidert. ‚Ganz unpolitisch. Spezialist für Pockenimpfungen und die Gesundheit der Glieder. Hat seine Dissertation über letzteres geschrieben.' (...)

    ‚Ein schöner Junge...vermute ich?'

    Da war Rantzau plötzlich auf seiner Hut; weil er unsicher war, welche Bedeutung er der Frage beimessen sollte, antwortete er nur ausweichend, jedoch mit einer Kälte, die anklingen ließ, dass er die Insinuation nicht duldete:

    ‚Spezialist für Pockenimpfungen.'

    ‚Können Sie sich für ihn verbürgen?'

    ‚Ehrenwort!'

    ‚Ehrenworte pflegen Aufklärern leicht von den Lippen zu gehen.'

    Ein eiskaltes Schweigen war eingetreten. Schließlich hatte Guldberg dieses gebrochen und mit einem seiner seltenen Lächeln gesagt:

    ‚Ein Scherz. Selbstverständlich. Sagten Sie...Struensee?'

    So fing alles an."

    Bevor alles anfängt, hat Enquist seine Leser aber schon tief in eine Welt hineingeführt, die fremder, erschreckender und surrealer nicht sein könnte. Er hat dem Leser die Charakterbilder von vier Personen geliefert, ohne deren Tun und Lassen die merkwürdige Mission des Leibarztes ebenso wenig zu verstehen wäre wie ihr Scheitern. "Der Keltertreter" nennt er den ersten, es handelt sich um den nachmaligen Staatsminister Ove-Hoegh Guldberg, Struensees Intimfeind, der den Parvenu schließlich mit einer Intrige zur Strecke bringt. Es folgt "der Unverwundbare", König Christian VII., die Marionette des Adels, der Mann, der seine Gefühle einstudiert und darbietet wie ein Automat. "Das englische Kind" heißt das Kapitel über Caroline Mathilde, die Königin; "Sie war am 22. Juli 1751 in Leicester House in London geboren und hatte keine Eigenschaften", schreibt Enquist lapidar. Und schließlich gibt es noch die "Herrscherin des Universums", wie sie im königlichen Wahnsystem tituliert wird: die "Stiefel-Caterine", die Geliebte des Königs, eine Prostituierte und schon vor dieser Bekanntschaft "die berüchtigtste Person in Kopenhagen".

    Das also ist die Welt eines kleinen europäischen Hofes im Ancien Régime, von dem seit Hamlets Taten und Tagen die Rede geht, dass seine Prinzen mehr oder weniger verrückt seien. Nun ist der erbliche Wahnsinn in europäischen Königshäusern keine Seltenheit; England liefert mit der zeitgleich aufflackernden "Madness of King George" ein ähnlich grelles Exempel. Was den Wahnsinn Christians VII. angeht, wirft Enquists Darstellung die Frage auf, was davon zu Lasten des Erbguts geht und was die Folge einer schwarzen Pädagogik ist, die darauf zielt, den Kronprinzen mit "scharfen Examinationen" und "scharfen Verhören" gefügig zu machen. Der Wille des Königs muss, sofern vorhanden, planmäßig gebrochen werden; seine Apathie und sein Verfall sollen nicht etwa therapiert, sondern, im Gegenteil, durch die Therapie herbeigeführt werden. Aber all diese Prozeduren des Überwachens und Strafens können nicht verhindern, dass der junge König, kaum dass er als Siebzehnjähriger den Thron bestiegen hat, vom Virus der Aufklärung befallen wird. Reverdil, sein Schweizer "Informator", also Erzieher, ist mit seinen Idealen den Reaktionären am Hof naturgemäß ein Dorn im Auge.

    "Mit großer Vorsicht hatte Herr Reverdil versucht, ins Bewußtsein des Thronfolgers einige der Keime einzupflanzen, von denen er als Aufklärer wünschte, sie trügen Früchte. Als der Junge neugierig fragte, ob es nicht möglich sei, mit einigen der Philosophen, die die große französische Enzyklopädie geschaffen hatten, zu korrespondieren, hatte Reverdil geantwortet, dass ein gewisser Herr Voltaire, Franzose, sich vielleicht für den jungen dänischen Thronfolger interessieren könne. Christian hatte daraufhin einen Brief an Herrn Voltaire geschrieben. Er bekam eine Antwort.

    Auf diese Weise ist der für die Nachwelt so bemerkenswerte Briefwechsel zwischen Voltaire und dem geisteskranken dänischen König Christian VII. entstanden; er ist vor allem durch das Preisgedicht bekannt, das Voltaire 1771 auf Christian schrieb, dem er darin als Fürsten des Lichts und der Vernunft im Norden huldigt. Das ihn eines Abends in Hirschholm erreichte, als er schon verloren war; aber das ihn glücklich machte.

    Einem seiner Schreiben hatte Herr Voltaire ein Buch beigefügt, das er selbst geschrieben hatte. Auf dem Nachmittagsspaziergang hatte Christian (...) diesem das Buch gezeigt, das er sofort gelesen hatte, und einen Abschnitt daraus zitiert, der ihn besonders angesprochen hatte: ‚Aber ist es nicht der Gipfel des Wahnsinns, zu glauben, man könnte Menschen bekehren und ihre Gedanken zur Unterwerfung zwingen, indem man sie verleumdet, verfolgt, auf Galeeren verbannt und versucht, ihre Gedanken auszurotten, indem man sie zu Galgen, Rädern und Scheiterhaufen schleppt?' ‚So denkt Herr Voltaire!' hatte Christian triumphierend ausgerufen, ‚Das ist seine Meinung! Er hat mir das Buch gesandt. Mir
    !"

    Ein seltsames Ideendrama ist es, das Enquist da ans Licht bringt Zur objektiven Ironie des Geschehens gehört es, dass der oberste Verfechter der Aufklärung, der Monarch persönlich, von schweren Wutanfällen heimgesucht wird, in deren Verlauf er das Mobiliar zertrümmert und Fensterscheiben einschlägt - um davon zu schweigen, dass er sich, sobald ihn das Licht der Vernunft verlassen hat, am liebsten mit seinem schwarzen Pagen balgt und dass er seine Angst vor dem weiblichen Körper einzig und allein in den Armen der Stiefel-Caterine überwinden kann. Im Innersten des strengen höfischen Reglements herrscht das blanke Chaos: ein unzurechnungsfähiger Herrscher, gehetzt von Furien und dressiert von seinen Beratern, unwillig zu regieren oder die Ehe zu vollstrecken, hat für die Menschenrechte Feuer gefangen. Der König ist schwach, er ist ein Vakuum. Wer es füllt, dem gehört der Staat und die Königin gleich dazu.

    Johann Friedrich Struensee, wie Enquist ihn zeichnet, muss unter den Schranzen und Geisteskranken am Kopenhagener Hof der erste Mensch gewesen sein, der erste Mensch jedenfalls einer neuen Zeitrechnung, ein rationales, empfindsames, körperlich befreites Individuum, und noch dazu ein "schöner Mensch", wie sein Gegenspieler Guldberg argwöhnisch vermutete. Wer anders sollte der Arzt am Krankenbett der verkommenen Monarchie sein? "Du als Arzt", hat Graf Rantzau dem widerstrebenden Struensee zugerufen, "könntest auch Dänemark gesund machen. Dänemark ist ein Tollhaus. Der König ist begabt, aber vielleicht...wahnsinnig. Ein kluger, aufgeklärter Mann an seiner Seite könnte in dem Scheißhaus Dänemark ausmisten." "Jung, schweigsam, zuhörend", so wird Struensee beschrieben, ein Mann, so frei von Konventionen und überlieferten Denkweisen, dass man sich fragt, ob Enquist anstelle des historischen Struensee nicht einen Boten aus der Zukunft ins dänische Ancien Régime hineingeschleust hat.

    "‚Sie sind in Altona geboren?' hatte Christian anschließend gefragt.

    ‚In Halle. Aber ich bin sehr früh nach Altona gekommen.'

    ‚Es heißt', hatte Christian gesagt, ‚dass es in Altona nur Aufklärer und Freidenker gibt, die die Gesellschaft stürzen, in Schutt und Asche legen wollen.'

    Struensee hatte nur kurz genickt.

    ‚Stürzen! Die bestehende Gesellschaft!'

    ‚Ja, Majestät', hatte Struensee gesagt. ‚So sagt man. Ein europäisches Zentrum der Aufklärung, sagen andere.'

    ‚Und was sagen Sie, Doktor Struensee?' (...)

    ‚Ich bin ein Aufklärer', hatte er gesagt, ‚aber vor allem Arzt. Wenn Majestät es wünscht, kann ich auf der Stelle meinen Dienst beenden und zu meiner üblichen Arbeit als Arzt zurückkehren.' (...)

    ‚Haben Sie nie den Tempel säubern wollen, Doktor Struensee, von den Unzüchtigen?' hatte er leise gefragt.

    Darauf war keine Antwort erfolgt. Aber der König hatte weiter gefragt:

    ‚Die Händler aus dem Tempel vertreiben? Zerschlagen? Damit alles sich aus der Asche erheben kann, wie ... Phoenix?'

    ‚Majestät kennen Ihre Bibel', hatte Struensee abwehrend gesagt.

    ‚Glauben Sie nicht, dass es unmöglich ist, Fortschritte zu machen! FORTSCHRITTE! Wenn man sich nicht hart macht und ...zerschlägt...alles, so dass der Tempel...."

    "Europa war entsetzlich", heißt es über Struensees erste Reise als Leibarzt. "Man glotzte Christian an". Immerhin kommt es am 20. November 1768 zu einer wahrhaft denkwürdigen Begegnung in Paris: die gesamte Redaktion der großen Enzyklopädie, Männer wie d'Alembert und Diderot, machen dem neunzehnjährigen Dänenkönig die Aufwartung. "Es war", schreibt Enquist, "vielleicht der größte Augenblick in seinem Leben." Es folgen neue Wutausbrüche; dem König ist, das weiß auch bald sein Arzt, nicht zu helfen. Um so mehr aber der Königin: an ihr wird der schöne Begriff des "Leibarztes" neben der medizinischen und der politischen seine dritte, nämlich sexuelle Bedeutung erhalten, und sie wird Struensee den Kopf kosten, denn -

    "Die Königin war ja verboten, und Frau. Daher wußte sie instinktiv, dass die Männer geradewegs durch ihre Kleider hindurchblickten, und den Körper sahen, den sie jetzt mochte. Sie war sicher, dass sie wünschten, in sie einzudringen, und dass in dem, was da lockte, der Tod war. Das Verbotene existierte. Es strahlte direkt durch den Panzer hindurch. Sie war das Allerverbotenste, und sie wusste, dass die sexuelle Zone um sie herum unwiderstehlich war. (...)

    Sie dachte sehr viel daran. Es erfüllte sie mit einer eigentümlichen Exaltation, dass sie der heilige Gral war und dass, wenn der heilige Gral erobert war, dies ihnen den allerhöchsten Genuß bringen würde, und den Tod."

    Es ist diese unmögliche ménage à trois mit einem Königspaar, die Struensees Geschichte mit zunehmender Dauer eine furchtbare Fatalität verleiht. Zum königlichen Wahn tritt, ebenso gebieterisch, das Begehren seiner Gemahlin. Der König hat sein komplettes Kabinett entlassen, hat Struensee zum Königlichen Vorleser und seinen Schnauzer Vitrius zum Reichsrat ernannt. Und er hat Struensee befohlen, sich der Königin anzunehmen und endlich ihre "Melancholie zu lindern". Und dies alles vollzieht sich vor den Augen und Ohren wachsamer Beobachter, die jeden Reitausflug mit Struensee der erzürnten Königinwitwe und Guldberg, ihrem Getreuen, rapportieren. Gibt es einen symbolischeren Ort für die körperliche Vereinigung als die Hütte im holsteinischen Ascheberg, die der Aufklärer Graf Rantzau inmitten seines Parks für einen Besuch Rousseaus errichten ließ, der nie zustande kam? "An jenem Tag", so könnte man mit Dante sagen, ""lasen sie nicht weiter", denn dem königlichen Vorleser fällt sein Buch buchstäblich aus der Hand, als die Königin ihn mit Worten drängt, das Verbotene zu tun und die Grenze zu überschreiten. Die Rache Alteuropas für diesen Frevel wird, man ahnt es, fürchterlich sein. Nur einen Sommer lang darf sich das unmögliche Paar lieben, und nur einen Sommer lang atmet Kopenhagen die neue Freiheit von Struensees eiligen Dekreten. In diesem kurzen Sommer der dänischen Anarchie, als die königlichen Parks noch nachts den Liebespaaren offen stehen, hat sich die Stadt, wie es scheint, in ein anakreontisches Idyll verwandelt. Enquist widmet der sexuellen Erfüllung, dem körperlichen Glück seines Paares breiten Raum, und man muß ihn rühmen, wie unpeinlich ihm dieser Lobpreis der Sinnlichkeit gerät. Die Sexualität, so scheint es, ist von den Utopien des Reformers die konkreteste, und fast möchte man bei Enquist in Struensee einen frühen Vorläufer von Herbert Marcuse erblicken. Doch Vorsicht, es wartet erst noch einmal der kalte Wind der Reaktion. Oder ist die Reaktion vielleicht gar nicht kalt, sondern glüht mit gleicher Leidenschaft, nur eben für den Status Quo?

    "Guldberg war (...) ein leidenschaftlicher Mensch. Er haßte die englische Hure mit einer Intensität, die vielleicht die Leidenschaft des Fleisches war. Als die Nachricht von ihrer Lasterhaftigkeit ihn erreichte, war er von einer rasenden Erregung ergriffen worden, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Der Körper, von dem der König, der von Gott Ausersehene, Gebrauch machen sollte, wurde nun von einem schmutzigen deutschen Glied durchbohrt. Die größte Unschuld und Reinheit vereinigten sich mit dem größten Laster. Ihr Körper, der heilig war, war nun die Quelle der größten Sünde. Das erregte ihn, und er hasste seine Erregung."

    So pathologisch kann das Gemütsleben eines Gegenaufklärers sein. Aber Enquist ist viel zu klug, um für Struensees Ende, für diese Katastrophe der Aufklärung kurz vor ihrem Durchbruch, allein die Winkelzüge und Gemeinheiten seiner Gegner verantwortlich zu machen. Woran ist Struensees Revolution gescheitert? Nicht zuletzt an fehlendem Wirklichkeitssinn. Man verwandelt eben nicht ungestraft ein feudales Staatswesen in ein Labor des mechanischen Materialismus, und man schläft nicht einmal in Rousseaus Hütte ungestraft mit seiner Königin. Struensee, der "Schweigsame", der Staats- und Leibarzt, war kein Politiker und, schlimmer noch, kein Psychologe. Er war kein Realist, sondern, mit einem modernen Begriff bezeichnet, ein Ideologe. Anders als anderen Ideologen ist es Struensee aber nie gelungen, die Massen für seine Ideen zu mobilisieren; er war und blieb ein Revolutionär von oben. Nirgendwo wird das in Enquists Roman deutlicher als in dem Bericht von Struensees Reise zu den leibeigenen dänischen Bauern. Er erlebt mit, wie ein sechzehnjähriger Junge wegen einer versuchten Flucht zu Tode geprügelt wird und sucht fassungslos, doch ohne einzugreifen, das Weite. Der "Schweigsame" sucht nicht den Kontakt mit den Menschen, er wirbt nicht, er erklärt nicht - er kuriert einfach, und das letztlich erfolglos. Struensees Revolution ist, das legt Enquist nahe, auch an Struensee selbst gescheitert.

    Und woran liegt es, dass den Leser Per Olov Enquists Roman-Bericht von dieser weit zurückliegenden Episode derart packt, dass man das Buch nicht aus der Hand legen mag, bis der letzte Kopf gerollt ist? Sicher trifft es zu, dass der Roman die Schaulust des Publikums befriedigt. Wann hat man uns zuletzt einen so bunten Bilderbogen aus so finsteren Zeiten präsentiert, mit einer solchen Vielzahl infamer, verrückter, exzentrischer Persönlichkeiten? Aber der kulturhistorische Nervenkitzel ist nicht alles. Es geht in Enquists Roman um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, unter welchen Umständen der "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" (Kants Wort steht als Motto vor dem Roman) gelingen kann oder scheitern muss. Was bleibt von der Struenseezeit? Vielleicht nicht "die Biologie, nicht die Handlungen", wie Enquist seinen Helden in der Todeszelle spekulieren lässt, "sondern ein Traum von den Möglichkeiten des Menschen, dieses Allerheiligste und am schwersten Greifbare, das da war wie ein beharrlich nachklingender Flötenton und das sich nicht abschlagen ließ."